17 Dezember 2025

Fernsehkritik: „Die 100“ in der ARD: Tränen, Tumult, TV-Tristesse (Berliner Zeitung)

Fernsehkritik

„Die 100“ in der ARD: Tränen, Tumult, TV-Tristesse (Berliner Zeitung)
Der inszenierte Niedergang. Wie die ARD-Sendung „Die 100” zum Symptom einer Gesellschaft im freien Fall wird. Gebührenfinanziert, natürlich.
Harald Neuber, 17.12.2025

Miese Quote macht Hoffnung
Am Montag offenbarte sich in der ARD das ganze Elend unserer Zeit. Während die Republik draußen, vor dem TV-Studio, in politischer, wirtschaftlicher und sozialer Agonie liegt, veranstaltete der öffentlich-rechtliche Rundfunk ein Spektakel, das seinesgleichen sucht. Die Frage des Abends: Ist Deutschland zu „woke“? Die eigentliche Frage hätte lauten müssen: Wie tief kann Fernsehen noch sinken?
Theater der Hilflosigkeit

Ein Pulk Menschen, aufgestellt wie Schachfiguren, bewegen sich zwischen Ja und Nein. Ein Moderator mit Hautfarbentafel in der Hand. Eine Journalistin, die Sombreros verteilt. Ein weinender Ex-Fußballer. Ein Mann aus Neustrelitz, der bestimmte Worte nicht als Beleidigung empfinden mag. Das ist keine Debatte. Das ist Varieté am Abgrund.
Schon die Mechanik des Formats verheißt seine Bankrotterklärung: Komplexität wird auf binäre Bewegungsmuster reduziert. Menschen werden zu wandelnden Meinungsbarometern degradiert. Der Diskurs verkommt zur Choreografie. Was sich als demokratische Teilhabe maskiert, entlarvt sich als Simulation von Partizipation.
In Erwartung des Abstiegs

Betrachten wir die Realität jenseits des Studios: Die Regierungszufriedenheit liegt bei historischen Tiefständen. Drei Viertel der Bevölkerung empfinden die Gesellschaft als zerrissen. Zwei Drittel erwarten einen weiteren Abstieg. Das Vertrauen in politische Institutionen erodiert.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk genießt noch relative Akzeptanz – über die Hälfte der Westdeutschen vertraut ihm. Im Osten sieht es anders aus: Dort überwiegt das Misstrauen. Diese Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Senden und Empfangen, zwischen Inszenierung und Realität – und zwischen der alten BRD und den neuen, vielleicht erneuernden Bundesländern manifestiert sich nirgends deutlicher als in Formaten wie diesem.
Sombreros und andere Peinlichkeiten
Die Inszenierung erreicht ihren Tiefpunkt, als Sombreros verteilt werden – eine vermeintliche Falle zum Thema kulturelle Aneignung. Als würde man Demokratie spielen, indem man Menschen Hütchen aufsetzt. Als könnte man gesellschaftliche Debatten führen, indem man Kindergeburtstag simuliert.

Noch grotesker: Die Hautfarbenskala-Aktion. Was als ironischer Kommentar zur Rassismus-Debatte gedacht war, geriet zur Farce. Der Versuch, Diskriminierung zu entlarven, reproduzierte genau jene Mechanismen, die er zu kritisieren vorgab. Dieter Hallervorden ahnt, wovon ich hier schreibe. Ihm wurde eben dies vorgeworfen; mit weniger Berechtigung freilich, als es im Fall der „100“ und der verantwortlichen Sendeanstalt angebracht wäre.
Klamauk als Krisensymptom

All dies ist kein Einzelfall, sondern Teil eines größeren Musters. Überall, wo Institutionen versagen, wird die PR-Maschine angeworfen. Die Bahn bewirbt ihr eigenes Scheitern mit flotten Sprüchen. Selbst transnationale Konzerne machen aus der offensichtlichen Dysfunktionalität der Bundeshauptstadt einen Werbegag: „Irgendwas muss in Berlin ja funktionieren.“ Die Bundesregierung verspricht in Hochglanzkampagnen, dass bald alles besser wird – im De-facto-Konjunktiv.

Es ist die Flucht in die Inszenierung, wenn die Substanz fehlt. Die Simulation von Problemlösung, wo keine stattfindet. Die Performance von Bürgernähe, wo Entfremdung herrscht. So wird in der ARD Klamauk selbst zum Krisensymptom.
Der Vergleich mit der Vergangenheit

Erinnern wir uns an Formate früherer Jahrzehnte: Es gab Zeiten, in denen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen tatsächlich debattiert wurde. Wo Argumente zählten, nicht Effekte. Wo Expertise gefragt war, nicht Betroffenheit. Wo der Erkenntnisgewinn im Zentrum stand, nicht die Quote. „Zur Person“ von Günter Gaus, „Kennzeichen D“ oder auch „Panorama“, zu dessen besseren Zeiten.

Heute erleben wir die Gamification des politischen Diskurses. Menschen werden zu Avataren ihrer selbst. Meinungen werden zu Bewegungsmustern. Debatten werden zu Parcours. Das ist nicht Evolution, das ist Degeneration.
Die Kampagne des Versagens

Parallel zu diesem medialen Theater läuft die Regierungskampagne „Das kann Deutschland“. Eine Durchhalteparole in Zeiten des Niedergangs. Millionen fließen in die Suggestion, dass alles gut wird, während die Infrastruktur zerfällt, die Wirtschaft stagniert und die Gesellschaft auseinanderdriftet.

Die Botschaft ist immer dieselbe: Wartet noch ein bisschen. Haltet durch. Die Maßnahmen werden wirken. Irgendwann. Vielleicht. Es ist die Kapitulation vor der Realität, getarnt als Optimismus.

Die Funktion der Dysfunktion

Welche Rolle spielen in dieser Lage Formate wie „Die 100“ im öffentlich-rechtlichen System? Sie erfüllen eine paradoxe Funktion: Sie legitimieren durch ihre bloße Existenz ein System, das seine eigentliche Aufgabe nicht mehr erfüllt. Sie simulieren Diskurs, wo keiner mehr stattfindet. Sie suggerieren Teilhabe, wo Entfremdung herrscht.

Es ist die Illusion von Demokratie als Ersatz für tatsächliche demokratische Prozesse. Die Performance von Meinungsvielfalt als Surrogat für echten Pluralismus. Die Inszenierung von Bürgernähe als Kompensation für politische Distanz.
Die gesellschaftliche Diagnose

Deutschland im Jahr 2025 ist eine Gesellschaft im Krisenmodus. Die Wirtschaft lahmt, die Politik versagt, das Vertrauen schwindet. In dieser Situation wäre Aufklärung nötig, Analyse, schonungslose Bestandsaufnahme. Stattdessen bekommen wir Konfetti und Konsens-Simulation.

Die Parallele zur Spätantike drängt sich auf: Als Rom unterging, wurden die Spiele immer aufwendiger. Je größer die Krise, desto schriller die Ablenkung. Damals gab es wenigstens noch Brot zu den Spielen. Heute hapert es selbst daran – die Inflation frisst die Kaufkraft, während die Show einfach etwa lauter gedreht wird, etwas bunter wird, etwas crazier abläuft ...
Die Stunde der Wahrheit

Die Folge von „Die 100“ von diesem 15. Dezember 2025 war mehr als nur schlechtes Fernsehen. Sie war ein Menetekel. Ein Fanal des Niedergangs. Ein Symptom für eine Gesellschaft, die sich selbst aufgegeben hat.

Das antike Rom ging unter, als die Spiele wichtiger wurden als die Politik. Als die Inszenierung die Realität ersetzte. Als die Unterhaltung zur einzigen Funktion des Staates wurde. Die Gründe für den Untergang des Reiches erinnern uns in tragischer Weise an das heutige Nachrichtengeschehen: politische Instabilität und Bürgerkriege, militärische Überdehnung und wachsender Grenzdruck, wirtschaftliche Krisen und Entvölkerung, Verfall von Verwaltung und Infrastruktur, innere Erosion und „Barbarisierung“ der Armee.

Heute haben wir weniger Brot, dafür nicht mehr nur buntere Spiele, sondern schrillere. Die Akteure merken nicht, dass sie längst zu Komparsen geworden sind. Das Publikum ahnt nicht, dass es Teil der Inszenierung ist. Und während ein alter Mann um seine gestohlene Kindheit weint, feiert das System sich selbst.

Es wäre Zeit für Ehrlichkeit. Zeit für Klarheit. Zeit für echten Diskurs statt inszenierter Debatten. Aber die Zeit läuft ab. Die Show geht weiter. Bis zum bitteren Ende.


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