Der andere Blick
von Eric Gujer
Die Willkür ist am schlimmsten. Warum die Meinungsfreiheit in Deutschland gefährdet ist (NZZ)
Das Grundgesetz schützt die freie Rede. Das stimmt. Aber die Verfassungswirklichkeit sieht anders aus.
19.12.2025, 6 Min
Nur noch eine Minderheit der Deutschen glaubt, dass man seine Meinung
frei sagen kann. Fast 60 Prozent halten es für besser, mit politischen
Äusserungen vorsichtig zu sein. Friedrich Merz widersprach empört, als
J. D. Vance vor Zensur warnte. Die Deutschen aber geben dem
US-Vizepräsidenten recht und nicht ihrem Kanzler.
Die meisten Politiker und Journalisten pflegen wie Merz den auf einer Umfrage im Auftrag von Mediatenor beruhenden Befund routiniert abzubügeln. Der Zensurvorwurf sei Unsinn. Punkt. Die Verfassung garantiere die Meinungsfreiheit. Punkt.
Objektiv mag die Selbstverteidigung des politisch-medialen Komplexes sogar weitgehend stimmen. Subjektiv sieht es aber die Mehrheit der Deutschen anders. Indem sie die persönliche Wahrnehmung ihrer Landsleute einfach beiseiteschieben, wirken die Eliten ziemlich arrogant. Sie scheinen das Zerrbild zu bestätigen, das die AfD von ihnen zeichnet.
Klüger wäre es zu fragen, warum die Hälfte der Deutschen ihr Land nicht mehr als vollends frei betrachtet. Keine herablassenden Belehrungen, sondern ein gleichberechtigter Dialog: Nichts fällt staatlich alimentierten Journalisten schwerer. Wenn der öffentlichrechtliche Rundfunk sich mit der Meinungsfreiheit beschäftigt, ist das Fazit klar: alles prima.
In Wirklichkeit ist die Stimmungslage beunruhigend. Dafür lassen sich leicht Gründe finden. Die Öffentlichkeit reagierte fassungslos, als zwei Weltmeister der Selbstgerechtigkeit, Annalena Baerbock und Robert Habeck, politische Gegner mit Strafanzeigen überzogen.
Jetzt berichtet die «Welt», dass die Union keinen Deut besser sei. Friedrich Merz ließ ebenfalls am Fließband Personen, die sich beleidigend äußerten in den asozialen Medien, verfolgen. So hatte ihn eine Rentnerin als «kleinen Nazi» tituliert.Wie bei der Ampelkoalition machte sich eine willfährige Justiz zum Büttel von Merz: einschließlich der absurd unverhältnismäßigen Methode, die Wohnungen der Übeltäter zu durchsuchen und ihre Mobilgeräte zu beschlagnahmen. Selbst der Rentnerin nahm man das Handy weg, obwohl sie behindert ist und im Rollstuhl sitzt.
Die Repressionsspirale dreht sich sogar, wenn sich niemand beleidigt fühlt
Dass sich Baerbock und Habeck so verhalten, vermag niemanden zu verwundern. So etwas passt zu den Grünen, die sich für etwas Besseres halten und jedem, der ihren Lebensentwurf nicht teilt, einen Moraldefekt attestieren. Aber Merz?
CDU und CSU waren doch die Guten, die solche Praktiken ablehnten. Sie stellten der «Ampel» sogar 551 Fragen, um auf die Manipulation der öffentlichen Meinung durch regierungsamtlich geförderte NGO hinzuweisen: Staatsknete mit Linksdrall.
Welch ein Irrtum. Die Union hat zur vox populi und ihren bisweilen impulsiv-unreflektierten Kommentaren ein genauso repressives Verhältnis wie die Grünen. Das erklärt, warum die AfD in Umfragen vor CDU und CSU liegt.
Das erklärt auch, warum die Hälfte der Deutschen mit Meinungsäußerungen vorsichtig ist. Die Buchstaben des Grundgesetzes sind glasklar, aber die Verfassungswirklichkeit sieht sehr anders aus. Ein dummer Tweet, und der Staatsanwalt steht vor der Tür.
Die Annahme, die Union sei besser als ihre Konkurrenz, war natürlich immer schon naiv. Zu den eilfertigen Denunzianten zählt die Meldestelle «Hessen gegen Hetze», die dem Innenministerium in Wiesbaden untersteht. Die CDU stellt seit 26 Jahren den Ministerpräsidenten in Hessen und rief den Spitzelklub ins Leben.
«Hessen gegen Hetze» leitet die Posts an das Bundeskriminalamt in Wiesbaden weiter. Das BKA wiederum gehört zum Bereich des Bundesinnenministeriums, dessen Chef der CSU-Politiker Alexander Dobrindt ist. Die Union steckt knietief in diesem Sumpf.
Die Repressionsspirale dreht sich sogar, wenn sich niemand in seiner Ehre verletzt fühlt. Beleidigungen sind Antragsdelikte; der Betroffene muss eine Anzeige erstatten. Nicht so bei Politikern. Sie profitieren von einem Spezialparagrafen im Strafgesetzbuch. Bei «gegen Personen des öffentlichen Lebens gerichteten Beleidigungen» schreitet die Staatsmacht von sich aus ein.
Politiker stehen in Deutschland nicht über dem Gesetz. Aber sie schreiben die Gesetze, mit denen sie sich über gewöhnliche Menschen stellen.
Es überrascht daher nicht, wenn das Allensbach-Institut auf der Grundlage einer Umfrage schreibt: «Heute genießen die meisten Institutionen des Staates nicht mehr das Vertrauen der Mehrheit der Bevölkerung.» Noch 28 Prozent der Deutschen vertrauen der Regierung und nur 17 Prozent den Parteien.
Gerade Merz sollte das beunruhigen. Am CSU-Parteitag beschwor er in einem dramatischen Appell seine Landleute, die Demokratie und ihre Institutionen gegen das zersetzende Gift des Populismus zu verteidigen. «Walk your talk», heisst es im Englischen. Die Wähler erwarten, dass der Kanzler seinen Worten wenigstens gelegentlich Taten folgen lässt.
An Gründen, warum eine Mehrheit der Deutschen Artikel 5 des Grundgesetzes für Makulatur hält, herrscht wie gesagt kein Mangel. Einen liefert die Staatsanwaltschaft Giessen. Sie prüft ein Verfahren gegen den Vorsitzenden des AfD-Jugendverbandes, Kevin Dorow. Er bekennt sich zur Parole «Jugend führt Jugend». Diese hatten die Nazis von der Wandervogelbewegung des späten Kaiserreichs übernommen.
Seit die AfD den etablierten Konsens erschüttert, klopfen Staatsanwälte politische Bekundungen auf eine Nazi-Vergangenheit ab, als wären sie die deutschen Chefhistoriker. Das gilt nicht nur für offensichtliche Fälle wie das Hakenkreuz oder «Heil Hitler».
Selbst Formulierungen, bei denen der Hintergrund weniger offensichtlich ist, können zu Verfahren führen. So geschehen bei «Alles für Deutschland», einer Losung der SA. Ihretwegen wurde der AfD-Politiker Höcke zu Geldstrafen verurteilt.
Sogar eine verfremdend-distanzierende Verwendung kann einem zum Verhängnis werden. Die «TAZ» hatte getitelt: «AfD-Verbot und Höcke-Petition: Deutschland erwacht». Der Medienwissenschafter Norbert Bolz reagierte darauf mit dem ironischen Tweet: «Gute Übersetzung von woke: Deutschland erwache.» Das trug ihm einen Hausbesuch der Berliner Polizei ein, selbstverständlich unter Androhung der Beschlagnahme seines Handys.
Problematisch ist daran zum einen die Willkür. Höcke wurde verurteilt – der «Spiegel» nicht, obwohl er einen Text mit «Alles für Deutschland» überschrieben hatte. Bei Bolz kreuzte die Staatsmacht für eine Hausdurchsuchung auf, bei der «TAZ» nicht.
Als die CDU noch Ex-Nazis verteidigte
Beschwichtigend heisß es, im Rahmen der geltenden Gesetze könne man alles sagen. Das ist unwahr, denn die Justiz interpretiert die Gesetze sehr unterschiedlich. Mal wird eine Formulierung bestraft, mal nicht. Mal gilt eine Äußerung als Satire, mal nicht. Diese Unberechenbarkeit ist ein zentraler Grund, weshalb die Menschen vorsichtig geworden sind.
Die meisten Bürger, die nicht durchwegs intelligente Posts in ihre Handys tippen, sind keine Juristen, Politiker oder Journalisten. Sie beschäftigen sich nicht beruflich mit den Grenzen des Sagbaren. Sie erhalten erstens den Eindruck, dass der Staat die Meinungsfreiheit völlig willkürlich auslegt. Und zweitens, dass Staatsanwälte keine unparteiischen Hüter des Gesetzes sind, sondern Aktivisten, die gegen alles vorgehen, was ihnen politisch missfällt.
Die Grenzen des Sagbaren (oder Zeigbaren) sind dem geschichtlichen Wandel unterworfen. Nacktszenen im Fernsehen hätten in den fünfziger Jahren den Staatsanwalt auf den Plan gerufen. Heute kommt ohne sie kaum eine Vorabendserie aus.
«Jugend führt Jugend» war in den siebziger Jahren noch eine gängige Formulierung, wenn es darum ging, zu beschreiben, dass nicht – wie damals üblich – die Alten den Ton angeben sollten. Zu jener Zeit lagen in deutschen Bibliotheken auch noch «Landser»-Hefte aus.
Die im Ton von NS-Wochenschauen geschriebenen Groschenhefte verherrlichten die Wehrmacht. Sie beschrieben die Sowjettruppen kaum verhüllt als Untermenschen und verharmlosten die Shoah. Damals fanden staatliche Bibliotheken nichts dabei. Heute firmiert das unter Volksverhetzung und Rassismus.
Das historische Bewusstsein entwickelt sich weiter. Der furchtbare Satz, «was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein», stimmt gerade nicht. Aber deswegen ist nicht alles justiziabel, was nicht mehr dem Zeitgeist entspricht.
Der Urheber des furchtbaren Satzes, Ministerpräsident Hans Filbinger, musste 1978 zurücktreten, nachdem ruchbar geworden war, dass er als Militärrichter im Zweiten Weltkrieg vier Todesurteile verhängt hatte. Filbinger, ehemals Mitglied der NSDAP, zeigte sich uneinsichtig. Doch der Druck der Opposition und der Medien war zu stark.
Die CDU, die heute den Tweet «kleiner Nazi» für eine verfolgenswerte Beleidigung hält, verteidigte übrigens ihren Parteifreund, den Ex-Nazi, bis zum Schluss.
Die Öffentlichkeit muss beim Umgang mit der Geschichte stets aufs Neue aushandeln, was als rechtens gilt. Einen historischen Grundkonsens zu finden, gehört zu den Aufgaben einer offenen Gesellschaft. Wenn sich aber Staat und Justiz die Deutungsmacht über die Geschichte anmaßen, ist das ein Warnzeichen. Dann muss man vorsichtig sein, was man sagt.
Objektiv mag die Selbstverteidigung des politisch-medialen Komplexes sogar weitgehend stimmen. Subjektiv sieht es aber die Mehrheit der Deutschen anders. Indem sie die persönliche Wahrnehmung ihrer Landsleute einfach beiseiteschieben, wirken die Eliten ziemlich arrogant. Sie scheinen das Zerrbild zu bestätigen, das die AfD von ihnen zeichnet.
Klüger wäre es zu fragen, warum die Hälfte der Deutschen ihr Land nicht mehr als vollends frei betrachtet. Keine herablassenden Belehrungen, sondern ein gleichberechtigter Dialog: Nichts fällt staatlich alimentierten Journalisten schwerer. Wenn der öffentlichrechtliche Rundfunk sich mit der Meinungsfreiheit beschäftigt, ist das Fazit klar: alles prima.
In Wirklichkeit ist die Stimmungslage beunruhigend. Dafür lassen sich leicht Gründe finden. Die Öffentlichkeit reagierte fassungslos, als zwei Weltmeister der Selbstgerechtigkeit, Annalena Baerbock und Robert Habeck, politische Gegner mit Strafanzeigen überzogen.
Jetzt berichtet die «Welt», dass die Union keinen Deut besser sei. Friedrich Merz ließ ebenfalls am Fließband Personen, die sich beleidigend äußerten in den asozialen Medien, verfolgen. So hatte ihn eine Rentnerin als «kleinen Nazi» tituliert.Wie bei der Ampelkoalition machte sich eine willfährige Justiz zum Büttel von Merz: einschließlich der absurd unverhältnismäßigen Methode, die Wohnungen der Übeltäter zu durchsuchen und ihre Mobilgeräte zu beschlagnahmen. Selbst der Rentnerin nahm man das Handy weg, obwohl sie behindert ist und im Rollstuhl sitzt.
Die Repressionsspirale dreht sich sogar, wenn sich niemand beleidigt fühlt
Dass sich Baerbock und Habeck so verhalten, vermag niemanden zu verwundern. So etwas passt zu den Grünen, die sich für etwas Besseres halten und jedem, der ihren Lebensentwurf nicht teilt, einen Moraldefekt attestieren. Aber Merz?
CDU und CSU waren doch die Guten, die solche Praktiken ablehnten. Sie stellten der «Ampel» sogar 551 Fragen, um auf die Manipulation der öffentlichen Meinung durch regierungsamtlich geförderte NGO hinzuweisen: Staatsknete mit Linksdrall.
Welch ein Irrtum. Die Union hat zur vox populi und ihren bisweilen impulsiv-unreflektierten Kommentaren ein genauso repressives Verhältnis wie die Grünen. Das erklärt, warum die AfD in Umfragen vor CDU und CSU liegt.
Das erklärt auch, warum die Hälfte der Deutschen mit Meinungsäußerungen vorsichtig ist. Die Buchstaben des Grundgesetzes sind glasklar, aber die Verfassungswirklichkeit sieht sehr anders aus. Ein dummer Tweet, und der Staatsanwalt steht vor der Tür.
Die Annahme, die Union sei besser als ihre Konkurrenz, war natürlich immer schon naiv. Zu den eilfertigen Denunzianten zählt die Meldestelle «Hessen gegen Hetze», die dem Innenministerium in Wiesbaden untersteht. Die CDU stellt seit 26 Jahren den Ministerpräsidenten in Hessen und rief den Spitzelklub ins Leben.
«Hessen gegen Hetze» leitet die Posts an das Bundeskriminalamt in Wiesbaden weiter. Das BKA wiederum gehört zum Bereich des Bundesinnenministeriums, dessen Chef der CSU-Politiker Alexander Dobrindt ist. Die Union steckt knietief in diesem Sumpf.
Die Repressionsspirale dreht sich sogar, wenn sich niemand in seiner Ehre verletzt fühlt. Beleidigungen sind Antragsdelikte; der Betroffene muss eine Anzeige erstatten. Nicht so bei Politikern. Sie profitieren von einem Spezialparagrafen im Strafgesetzbuch. Bei «gegen Personen des öffentlichen Lebens gerichteten Beleidigungen» schreitet die Staatsmacht von sich aus ein.
Politiker stehen in Deutschland nicht über dem Gesetz. Aber sie schreiben die Gesetze, mit denen sie sich über gewöhnliche Menschen stellen.
Es überrascht daher nicht, wenn das Allensbach-Institut auf der Grundlage einer Umfrage schreibt: «Heute genießen die meisten Institutionen des Staates nicht mehr das Vertrauen der Mehrheit der Bevölkerung.» Noch 28 Prozent der Deutschen vertrauen der Regierung und nur 17 Prozent den Parteien.
Gerade Merz sollte das beunruhigen. Am CSU-Parteitag beschwor er in einem dramatischen Appell seine Landleute, die Demokratie und ihre Institutionen gegen das zersetzende Gift des Populismus zu verteidigen. «Walk your talk», heisst es im Englischen. Die Wähler erwarten, dass der Kanzler seinen Worten wenigstens gelegentlich Taten folgen lässt.
An Gründen, warum eine Mehrheit der Deutschen Artikel 5 des Grundgesetzes für Makulatur hält, herrscht wie gesagt kein Mangel. Einen liefert die Staatsanwaltschaft Giessen. Sie prüft ein Verfahren gegen den Vorsitzenden des AfD-Jugendverbandes, Kevin Dorow. Er bekennt sich zur Parole «Jugend führt Jugend». Diese hatten die Nazis von der Wandervogelbewegung des späten Kaiserreichs übernommen.
Seit die AfD den etablierten Konsens erschüttert, klopfen Staatsanwälte politische Bekundungen auf eine Nazi-Vergangenheit ab, als wären sie die deutschen Chefhistoriker. Das gilt nicht nur für offensichtliche Fälle wie das Hakenkreuz oder «Heil Hitler».
Selbst Formulierungen, bei denen der Hintergrund weniger offensichtlich ist, können zu Verfahren führen. So geschehen bei «Alles für Deutschland», einer Losung der SA. Ihretwegen wurde der AfD-Politiker Höcke zu Geldstrafen verurteilt.
Sogar eine verfremdend-distanzierende Verwendung kann einem zum Verhängnis werden. Die «TAZ» hatte getitelt: «AfD-Verbot und Höcke-Petition: Deutschland erwacht». Der Medienwissenschafter Norbert Bolz reagierte darauf mit dem ironischen Tweet: «Gute Übersetzung von woke: Deutschland erwache.» Das trug ihm einen Hausbesuch der Berliner Polizei ein, selbstverständlich unter Androhung der Beschlagnahme seines Handys.
Problematisch ist daran zum einen die Willkür. Höcke wurde verurteilt – der «Spiegel» nicht, obwohl er einen Text mit «Alles für Deutschland» überschrieben hatte. Bei Bolz kreuzte die Staatsmacht für eine Hausdurchsuchung auf, bei der «TAZ» nicht.
Als die CDU noch Ex-Nazis verteidigte
Beschwichtigend heisß es, im Rahmen der geltenden Gesetze könne man alles sagen. Das ist unwahr, denn die Justiz interpretiert die Gesetze sehr unterschiedlich. Mal wird eine Formulierung bestraft, mal nicht. Mal gilt eine Äußerung als Satire, mal nicht. Diese Unberechenbarkeit ist ein zentraler Grund, weshalb die Menschen vorsichtig geworden sind.
Die meisten Bürger, die nicht durchwegs intelligente Posts in ihre Handys tippen, sind keine Juristen, Politiker oder Journalisten. Sie beschäftigen sich nicht beruflich mit den Grenzen des Sagbaren. Sie erhalten erstens den Eindruck, dass der Staat die Meinungsfreiheit völlig willkürlich auslegt. Und zweitens, dass Staatsanwälte keine unparteiischen Hüter des Gesetzes sind, sondern Aktivisten, die gegen alles vorgehen, was ihnen politisch missfällt.
Die Grenzen des Sagbaren (oder Zeigbaren) sind dem geschichtlichen Wandel unterworfen. Nacktszenen im Fernsehen hätten in den fünfziger Jahren den Staatsanwalt auf den Plan gerufen. Heute kommt ohne sie kaum eine Vorabendserie aus.
«Jugend führt Jugend» war in den siebziger Jahren noch eine gängige Formulierung, wenn es darum ging, zu beschreiben, dass nicht – wie damals üblich – die Alten den Ton angeben sollten. Zu jener Zeit lagen in deutschen Bibliotheken auch noch «Landser»-Hefte aus.
Die im Ton von NS-Wochenschauen geschriebenen Groschenhefte verherrlichten die Wehrmacht. Sie beschrieben die Sowjettruppen kaum verhüllt als Untermenschen und verharmlosten die Shoah. Damals fanden staatliche Bibliotheken nichts dabei. Heute firmiert das unter Volksverhetzung und Rassismus.
Das historische Bewusstsein entwickelt sich weiter. Der furchtbare Satz, «was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein», stimmt gerade nicht. Aber deswegen ist nicht alles justiziabel, was nicht mehr dem Zeitgeist entspricht.
Der Urheber des furchtbaren Satzes, Ministerpräsident Hans Filbinger, musste 1978 zurücktreten, nachdem ruchbar geworden war, dass er als Militärrichter im Zweiten Weltkrieg vier Todesurteile verhängt hatte. Filbinger, ehemals Mitglied der NSDAP, zeigte sich uneinsichtig. Doch der Druck der Opposition und der Medien war zu stark.
Die CDU, die heute den Tweet «kleiner Nazi» für eine verfolgenswerte Beleidigung hält, verteidigte übrigens ihren Parteifreund, den Ex-Nazi, bis zum Schluss.
Die Öffentlichkeit muss beim Umgang mit der Geschichte stets aufs Neue aushandeln, was als rechtens gilt. Einen historischen Grundkonsens zu finden, gehört zu den Aufgaben einer offenen Gesellschaft. Wenn sich aber Staat und Justiz die Deutungsmacht über die Geschichte anmaßen, ist das ein Warnzeichen. Dann muss man vorsichtig sein, was man sagt.

Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen