08 November 2024

Das Ultimatum des Kanzlers: elf Seiten für den Koalitionsbruch (NZZ)

Das Ultimatum des Kanzlers: elf Seiten für den Koalitionsbruch (NZZ)

Die Milliardenforderungen von Olaf Scholz für die Ukraine und die kriselnde Wirtschaft ließen Christian Lindner nur die Wahl zwischen Verfassungsbruch und Koalitionsende. Der FDP-Chef wählte Letzteres.
Johannes C. Bockenheimer, Berlin



Lindner verweigert sich dem Machtwort
Doch Lindner widersetzt sich dem Machtwort des Kanzlers. Die geforderten Massnahmen hätten Milliardenlöcher in den Bundeshaushalt gerissen – finanzierbar nur durch neue Kredite und eine erneute Aussetzung der Schuldenbremse. Denn der Kanzler hatte von Lindner nicht nur gefordert, teure Wirtschaftssubventionen mitzutragen und die Ukraine-Hilfen um 3 Milliarden Euro aufzustocken.

Scholz drängte Lindner auch dazu, die Hilfsmittel für Kiew in ein Sondervermögen auszulagern. Damit bleibt im Kernhaushalt mehr finanzieller Spielraum, um andere Herzensprojekte des Kanzlers zu finanzieren. Wenn Lindner dem faktischen Aussetzen der Schuldenbremse nachkomme, dann werde er auch über Steuersenkungen mit sich reden lassen, lockt der Kanzler in dieser letzten Stunde der Koalition. Doch der FDP-Politiker lehnte ab.

«Dann, lieber Christian, möchte ich nicht mehr, dass Du meinem Kabinett angehörst», bekommt er von Scholz noch zu hören. Dann folgen ein paar Sekunden des Schweigens und die Verabschiedung. Als Scholz kurze Zeit später vor die Presse tritt, ist für ihn der Fall klar: Schuld am Scheitern der Koalition trägt allein Lindner.
Mit kaum verhohlener Verachtung hält der Kanzler seinem bisherigen Finanzminister mangelnde Kompromissbereitschaft vor. Wer in eine Regierung eintrete, müsse seriös und verantwortungsvoll handeln. Lindner hingegen gehe es einzig um die eigene Klientel und um das Überleben der eigenen Partei. «Zu oft hat er kleinkariert parteipolitisch taktiert. Zu oft hat er mein Vertrauen gebrochen», wirft er dem geschassten Finanzminister hinterher.
Am Donnerstagvormittag schlägt Lindner zurück. Der FDP-Chef beschuldigte den Kanzler seinerseits einer «Entlassungsinszenierung». Nicht die Ukraine-Hilfe sei der wahre Grund gewesen, sondern der Wunsch der SPD, durch neue Schulden in Höhe von 15 Milliarden Euro den quälenden Koalitionsstreit zu beenden. «Mit einem so fahrlässigen Umgang mit dem Grundgesetz hätte ich meinen Amtseid verletzt. Das wusste der noch amtierende Bundeskanzler», konterte er.

Verfassungsrechtliche Zweifel am Scholz-Plan

Tatsächlich steht Scholz’ Massnahmenpaket rechtlich auf wackeligen Beinen. «Ein grosser Gemischtwarenladen» – so charakterisiert der Verfassungsrechtler Hanno Kube von der Universität Heidelberg das «Ampel»-Paket. Von Netzentgeltsubventionen in Milliardenhöhe über Steuergeschenke an die Wirtschaft bis hin zu weiteren Ukraine-Hilfen reiche die Palette.

Dabei stellt der Experte vor allem die von der Bundesregierung bemühte «Notlage» als Begründung für neue Kredite infrage. «Einen exogenen Schock sehe ich gegenwärtig nicht», erklärt Kube im Gespräch mit der NZZ. Die Voraussetzungen für eine Notlagen-Kreditaufnahme seien damit nicht erfüllt.

Seine Begründung: Sowohl der Mittelbedarf für Bundeswehr und Ukraine-Hilfe als auch die Notwendigkeit wirtschaftlicher Impulse seien «seit Jahren bekannt». Der Jurist kommt zu folgendem Schluss: «Nur weil jetzt das Geld für eine weitere Ausdehnung der Staatstätigkeit nicht ausreicht, kann kein Notlagenbeschluss gefasst werden.»

Ökonom warnt vor Subventionsfalle

Der Ökonom Stefan Kooths zweifelt zudem an der Sinnhaftigkeit der wirtschaftlichen Massnahmen. Statt die Ursachen der Energiekrise anzupacken, habe Scholz mit seinen Milliardensubventionen nur die Symptome verschleiert. Mit ermässigten Netzentgelten und ausgeweiteter Strompreiskompensation werde ein «dauerhafter Subventionstatbestand» geschaffen. «Der Standort wird in Summe nicht gestärkt, da die erforderlichen Mittel an anderer Stelle fehlen», mahnt Kooths.

Die Bundesregierung verkenne zudem die wahren Kostentreiber komplett. Die hohen Netzentgelte seien direktes Ergebnis einer Politik, die auf eine Stromversorgung hauptsächlich durch schwankungsanfällige Erneuerbare setze. Die Koalitionshoffnung auf sinkende Energiekosten durch die Öko-Wende entlarvt Kooths als Illusion: Dies gelte «nur für die variablen Erzeugungskosten, nicht für die systemischen Kosten».

Das Ende der Ampelkoalition

Was bleibt? Die gleiche kreative Haushaltspolitik, die das konfliktbeladene Bündnis aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen erst möglich machte, führt nun zu seinem Zerbrechen. Schon der Nachtragshaushalt über 60 Milliarden Euro zu Beginn der Legislaturperiode hatte das Bundesverfassungsgericht auf den Plan gerufen.

Dass ausgerechnet ein weiterer Versuch, die Schuldenbremse zu umgehen, nun zum Koalitionsbruch führt, erscheint wie ein finanzpolitisches Déjà-vu. Während Lindner seine ordnungspolitischen Prinzipien verteidigt, steht Scholz vor den Trümmern seiner Kanzlerschaft – und Deutschland vor Neuwahlen.

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