01 November 2024

The Pioneer - Arbeitsmarkt Deutschland: Der krank gemeldete Mann Europas

Arbeitsmarkt
Deutschland: Der krank gemeldete Mann Europas
Die Kieler Verkehrsgesellschaft (KVG) hat ein Problem: Zu viele Leute sind krank. Nun hat sich der Vorstand zu einer ungewöhnlichen Aktion hinreißen lassen. Wer sich als Busfahrer pro Quartal an keinem einzigen Tag arbeitsunfähig meldet, bekommt einen Bonus: 250 Euro.
Selbst wer maximal an nur zwei Tagen fehlt, erhält noch 200 Euro, bei drei und vier Tagen krankheitsbedingter Abwesenheit immerhin 125 Euro. Das macht für fitte, gesunde und arbeitseifrige Kollegen bis zu 1000 Euro Gesundheitsbonus pro Jahr.
Der Fahrermangel in Kiel macht also erfinderisch. Seit knapp zwei Monaten läuft das Experiment. Eine Zwischenbilanz gibt es noch nicht. Auch der Kontakt zu den Kieler Verkehrsbetrieben ist mit Hürden verbunden: Die zuständige Pressesprecherin ist seit drei Wochen krankgemeldet.
Deutschland leidet unter einer historisch hohen Krankheitswelle. Die einen sagen: Überlastung der Mitarbeiter. Die anderen: Das Gesundheitssystem verleite zur Abwesenheit. Unstrittig aber ist: Die Wirtschaft wird ausgebremst, das Wachstum verlangsamt sich. Unternehmer, Ökonomen und Kassenchefs machen nun radikale Vorschläge, um die Menschen wieder zur Arbeit zu bewegen.

Von Januar bis September dieses Jahres waren durchschnittlich 5,9 Prozent der Mitglieder in der gesetzlichen Krankenversicherung krankgeschrieben. Im gesamten Coronajahr 2020 waren es nur 4,3 Prozent.
Die ökonomische Belastung ist immens: Laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) haben Arbeitgeber vergangenes Jahr 77 Milliarden Euro an Lohnfortzahlung für erkrankte Beschäftigte gezahlt – doppelt so viel wie vor 14 Jahren.
Krankheit in Deutschland wird zum relevanten volkswirtschaftlichen Schaden. Die Rekord-Abwesenheitsquote hat die Wirtschaft laut Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (VFA) wegen „beträchtlicher Produktionseinbußen“ gar in die Rezession gedrückt. In der VFA-Studie heißt es:


Ohne die überdurchschnittlichen Krankentage wäre die deutsche Wirtschaft um knapp 0,5 Prozent gewachsen.

Stattdessen schrumpfte die Wirtschaft um 0,3 Prozent. Die Ökonomen errechnen einen Schaden von etwa 26 Milliarden Euro.

Deutschland ist der kranke beziehungsweise krankgeschriebene Mann Europas. Kein EU-Staat hat höhere Fehlzeiten. Durchschnittlich bekam ein deutscher Beschäftigter im Jahr 2022 wegen Krankheit rund 25 Fehltage bezahlt. Das zeigen die Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, kurz OECD. Zum Vergleich: In Schweden waren es elf Fehltage.

2010 lag Deutschland laut OECD nur bei rund 16 Fehltagen und während der Coronajahre 2020 und 2021 bei 20 bezahlten Fehltagen.

Ökonom Gunther Schnabl, Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität Leipzig, sagt zu dem Phänomen:

Der angespannte Arbeitsmarkt und der Arbeitskräftemangel haben die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer gegenüber den Arbeitgebern erhöht.

Es sei schwieriger geworden, Arbeitnehmer zu sanktionieren, wenn sie oft fehlten. Die Folge seien höhere Lohnstückkosten, die die Preise von Gütern und Dienstleistungen nach oben treiben sowie der internationalen Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands schaden.

Manager sehen in dem hohen Krankenstand gar ein Zeichen sinkender Arbeitsmoral.

  • Allianz-CEO Oliver Bäte sagte gegenüber The Pioneer: „Früher gab es einen sogenannten Karenztag, eine Art Selbstbeteiligung. Das haben wir abgeschafft, und die Konsequenzen sind nicht mehr beim Individuum, sondern bei der Gemeinschaft, was jetzt langsam richtig teuer wird.“

  • Mercedes-Chef Ola Källenius kritisiert gegenüber dem Spiegel den hohen Krankenstand in Deutschland: „Wenn unter gleichen Produktionsbedingungen der Krankenstand in Deutschland teils doppelt so hoch ist wie im europäischen Ausland, hat das wirtschaftliche Folgen.“

  • Telekom CEO Tim Höttges mahnte: „Wir müssen alle wieder mehr arbeiten.“ 

Andere Manager werden noch deutlicher:

Robert Rae, Chef der IT-Firma Perfact, sagt: Mitarbeitern würde es zu einfach gemacht, wenn sie sich morgens nicht fit fühlten. „Wenn ich dann nur einmal anrufen muss, dann fällt die Entscheidung vielleicht leichter, nicht zur Arbeit zu gehen.“

Ralf Hermes, Chef der Innovationskasse (IKK) in Lübeck, sagt: „Es hat sich in unserer Gesellschaft normalisiert, sich anlasslos krankzumelden. Seit Corona und mithilfe von telefonischen Krankschreibungen hat sich das noch verschärft.“ Seine schonungslose Abrechnung:

Das Gefühl von Rae, Hermes und den Dax-CEOs wird durch Umfragen untermauert:

Sechs von zehn Arbeitnehmern melden sich trotz Arbeits­fähigkeit hin und wieder krank, ergab eine Studie der BKK Pronova: Die sogenannte Bettkantenentscheidung falle bei 59 Prozent der Beschäftigten in Deutschland zugunsten der Krankmeldung aus, obwohl sie arbeitsfähig wären. Jeder Zehnte tue das sogar häufig.

Je jünger die Arbeitnehmer sind, desto eher wird ihnen nachgesagt, auch gesund die Krankmeldung einzureichen. Das Vorurteil zeigt sich tatsächlich in den Zahlen. Je jünger, desto häufiger krank. Allerdings steigt mit höherem Alter die Dauer der Abwesenheit.
Auch Corona hat seinen Einfluss: Laut BKK-Befragung gehen heute nur 34 Prozent der Arbeiter mit leichten Infekten zur Arbeit – vor der Pandemie waren es 50 Prozent. Zudem schleppen sich nur noch 46 Prozent der Angestellten mit Rückenschmerzen zur Arbeit, ein Rückgang um elf Prozentpunkte seit 2018.

Wirtschaftspsychologen und Personalchefs sehen auch einen Zusammenhang zwischen Unzufriedenheit der Mitarbeiter und hohem Krankenstand. Und es gibt weitere Vermutungen für die steigenden Krankenstände. Da ist zum einen die Demografie, die alternden Belegschaften. Psychische Krankheiten nehmen seit Jahren zu, aber auch Atemwegserkrankungen.

Das andere ist die telefonische Krankschreibung. An ihr scheiden sich die Geister. Finanzminister Christian Lindner verurteilte sie kürzlich als Hauptursache für die vielen Fehltage. Gewerkschafterin Yasmin Fahimi hielt auf dem Arbeitgebertag dagegen. Das sei keine Ursache für die Ausfälle.

Was aber auffällt: Seitdem die telefonische Krankschreibung im Coronajahr 2020 eingeführt (und zwischenzeitlich verlängert) wurde, haben sich die Krankenstände drastisch erhöht. Doch da es keine Statistik gibt, wie viele der Krankschreibungen auf telefonischen oder Praxisbesuchen beruhen, bewegt sich die Diskus

Das Problem: Viele Ärzte sind überfordert, haben keine Termine für Vor-Ort- oder Videotermine frei, verfügen womöglich über kein Videosprechstunden-System und schreiben daher immer häufiger telefonisch krank. Die Ärzte selbst sind Befürworter der telefonischen Krankschreibung, da es sie entlastet.

Ärzte selbst sind Treiber der Krankschreibungswelle

Und, auch das gehört zur Wahrheit dazu, die Ärzte selbst sind Treiber der Krankschreibungswelle. Sie betrachten die unbürokratische Krankschreibung als Kundenbindungsinstrument. Routinemäßig wird in vielen Arztpraxen nachgefragt, ob wirklich der eine Tag reiche oder nicht gleich drei Tage auf der Krankschreibung stehen sollten. Sicher ist sicher.

Von der Reflex-Krankschreibung vieler Ärzte spricht denn auch IKK-Kassenchef Hermes.

Mit den Patienten als ihren Kunden haben sie einen großen Anreiz, das anzubieten, was diese fordern – auch so viele Krankentage, wie sie wollen.

Ökonom Gunther Schnabl hält Krankschreibungen per Telefonanruf für „eine falsch verstandene Digitalisierung“. Sie dürfte die gesamtwirtschaftliche Produktivität senken, sagt er.

Der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Steffen Kampeter, will die Hemmschwelle für Patient und Arzt wieder höher legen. Er sagt: „Die Bescheinigung eines Arztes in der Praxis ist der wichtigste Nachweis für das Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit.“ Er fordert: „Lasst uns zurückkehren zum bewährten Verfahren.“

Inzwischen gibt es sogar zweifelhafte Plattformen im Internet, die damit werben, Krankschreibungen gegen Geld online auszustellen. Glaubt man deren Eigenwerbung, könnten sie bereits mehrere Millionen Krankschreibungen ausgestellt haben.

Kampeter mahnt:

Ungerechtfertigte Praktiken von digitalen Geschäftemachern müssen unterbunden werden. Das führt zu Unfrieden in den Betrieben und lässt Missbrauch wahrscheinlich erscheinen.

Unternehmen sollten die Krankschreibungen von Plattformen wie beispielsweise dransay.com und au-schein.de nicht akzeptieren, so die Empfehlung.

Prämien und weniger Geld

Ökonomen und Unternehmen sind angesichts des hohen Krankenstandes alarmiert – und reagieren.

Die Manager der Autofabrik des US-Herstellers Tesla in Grünheide besuchten die kranken Mitarbeiter zuhause, um sich nach deren Zustand zu erkundigen. Die deutsche Tesla-Leitung will künftig – ähnlich wie bei dem Verkehrsbetrieb in Kiel – Mitarbeitern, die weniger als fünf Prozent ihrer Arbeitszeit fehlen, eine Prämie von 1000 Euro zahlen.

Ökonom Schnabl widerspricht:

Ich halte wenig davon, im privaten Sektor für das Nichtkranksein Prämien zu bezahlen. Die Lohnstückkosten steigen dadurch weiter, was die Existenz von Unternehmen gefährden kann.

Aus seiner Sicht sei die Einschränkung der Lohnfortzahlung das bessere Instrument. Ein internationaler Vergleich zeigt die relativ großzügigen Vorzüge des deutschen Systems:

  • Frankreich erlaubt maximal ein Tagesgeld von 47,43 Euro pro Tag. Die Lohnfortzahlung orientiert sich am Referenzlohn eines Arbeitenden.

  • Großbritannien zahlt erst ab dem vierten Krankheitstag umgerechnet bis zu 124 Euro pro Woche. Mitunter führen Firmen zusätzliche Krankengeldprogramme.

  • Schweden zahlt in den meisten Fällen 80 Prozent des Gehalts über einen Zeitraum von 364 Tagen. Unter Umständen kann es verlängert werden.

  • Portugal gewährt 55 Prozent des durchschnittlichen Einkommens des Arbeitnehmenden für maximal drei Jahre.

  • Luxemburger Arbeitnehmende erhalten in der Regel 100 Prozent des Gehalts für die ersten 77 Krankentage – eine Ausdehnung über 1,5 Jahre ist möglich.

  • In Deutschland zahlen die Arbeitgeber bis zu sechs Wochen lang das volle Gehalt. Danach reduziert sich das Krankengeld auf 70 Prozent. Dauer: bis zu drei Jahre.

Schnabl schlägt vor, beispielsweise den ersten Krankheitstag nicht zu bezahlen. So würde Krankfeiern sanktioniert, dem Arbeitskräftemangel entgegenwirkt und der Anstieg der Lohnstückkosten gebremst. Es gäbe zudem einen Anreiz, gesundheitsbewusst zu leben.

Prämien für Anwesenheit wären nur sinnvoll, wenn die Basisentlohnung abgesenkt und durch Prämien für Anwesenheit – ähnlich wie ein Bonus – ergänzt werden.

Axel Börsch-Supan, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Mannheim, fordert Ähnliches:

Natürlich sinkt der Krankenstand, wenn die Lohnfortzahlung bei Bagatellkrankheiten weniger großzügig ist.

Eigentlich schreibt das Gesetz vor: Die persönliche Untersuchung beim Arzt hat Priorität, ohne sie keine Krankschreibung. Nur wenn diese nicht möglich ist, ist eine Videosprechstunde erlaubt und wenn auch diese nicht verfügbar ist, kann der Arzt telefonisch krankschreiben. Dies aber auch nur für maximal fünf Tage.

Das ist höchst unsolidarisch. Die Arbeit bleibt bei den Kollegen hängen, während sie die Kranken auch noch mitfinanzieren müssen.

Es brauche Reformen, um Schein-Krankheiten zu verringern und die Kosten transparenter zu machen, fordert Krankenkassenchef Hermes.

Die Wiedereinführung eines abgeschafften Gesetzes aus den 1990er-Jahren könne dabei helfen. Die Regierung setzte die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall von 100 auf 80 Prozent herunter mit der Möglichkeit, das fehlende Gehalt in eingesetzte Urlaubstage auszutauschen. Das Gesetz braucht es aus Sicht von Hermes wieder.

Man müsse das Krankengeld zudem auf höchstens ein Jahr beschränken. „Es kann nicht sein, dass sich die Patienten über Jahre hinweg mit immer wieder neuen Krankheiten verabschieden und so ihre Rente vorziehen“, sagt Hermes. Und betont:

Wir sind keine Rentenübergangsagentur. Diese Kosten können nicht bei den Krankenkassen hängen bleiben. Notfalls muss man in dem Fall über einen frühzeitigen Renteneintritt nachdenken.

Auffällig ist, dass vor allem Bedienstete im öffentlichen Sektor überdurchschnittlich häufig fehlen. Knapp zwölf Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland arbeiteten 2023 im Staatsdienst. Die Beschäftigungszahlen im öffentlichen Dienst steigen seit 2008 kontinuierlich stark an. Umso problematischer, wenn Beamte oft krank sind.

Die öffentliche Verwaltung hatte laut AOK im Jahr 2023 mit einem Krankenstand von 7,5 Prozent den höchsten aller Branchen.

Extrembeispiel Berlin: Im Durchschnitt sind Beamte in der Hauptstadt-Verwaltung an 43,8 Tagen im Jahr krank gemeldet – laut einem Bericht der für Personal zuständigen Senatsfinanzverwaltung.

Der Bundesvorsitzende des Deutschen Beamtenbundes, Ulrich Silberbach, sagt:

Es würde mich nicht überraschen, wenn es im Staatsdienst mehr Ausfälle gäbe. Die Belastung ist enorm hoch.

Zwar sei in einzelnen Bereichen zuletzt wieder Personal aufgebaut worden, aber die Aufgaben würden ebenfalls wachsen – „und zwar deutlich schneller als der Personalbestand.”

An dieser Erklärung gibt es aber auch Kritik. Hinter vorgehaltener Hand halten einige Experten der Gesundheitsbranche auch Bore-out, sprich: Langeweile und Unterforderung im Job, für eine mögliche Ursache.

Frankreich hat wie viele EU-Länder mit einem ähnlichen Phänomen zu kämpfen und führte eine neue Maßnahme ein: Seit Januar 2018 wird im französischen öffentlichen Dienst der erste Tag der Krankschreibung nicht mehr bezahlt.

Die Franzosen sehen bereits einen Effekt: Im öffentlichen Bildungssektor, in dem rund 16 Prozent der Beamten beschäftigt sind, hat diese Maßnahme zu einem Rückgang der Abwesenheitshäufigkeit um durchschnittlich 23 Prozent geführt.

Fazit: Wer krank ist, ist krank. Aber die auffällig hohe Abwesenheit in Deutschland scheint andere Ursachen zu haben. Was in Deutschland auf jeden Fall krank ist, ist das System.

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