Die Auseinandersetzungen und die Unklarheit über den weiteren Kurs der Wirtschafts-, Finanz- und Gesellschaftspolitik haben in weiten Bereichen der deutschen Wirtschaft zu Resignation und Zukunftspessimismus geführt.
Die damalige FDP sah sich als Motor einer „Wirtschaftswende“, um das Wort von Lindner aufzugreifen. Lambsdorff schrieb, was viele in der FDP-Führung heute auch denken. Die damalige FDP-Größe riet nämlich dazu, von der Analyse zur Aktion zu kommen:
Deshalb kann und muss in der Bundesrepublik das erforderliche Mindestmaß sozialer Anpassungsbereitschaft mobilisiert werden.
Das Interview in Gänze gibt es am Samstag als Podcast und in Schriftform, ab Mittwoch als Video. Aber heute schon die Kurzfassung im Pioneer Podcast und jetzt hier:
Pioneer: Die deutsche Wirtschaft hat das Wachstum eingestellt. Der Mittelstand leidet. Die Großindustrie verlagert Produktion ins Ausland. Herr Finanzminister – braucht Deutschland eine Restrukturierung?
Lindner: Eindeutig ja. Wir haben seit 2014, also über
zehn Jahre hinweg, dramatisch an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Wir
waren vor zehn Jahren die Nummer sechs in der Welt und sind jetzt Nummer
24. Zwar sind wir noch die viertgrößte Volkswirtschaft, aber eben eine
ohne Dynamik. Restrukturierung ist deshalb für mich das richtige Wort.
Wenn Unternehmen restrukturieren, bedeutet das, sie reduzieren die
Kosten und sorgen dafür, dass sich die Erträge wieder erhöhen. Genau das
brauchen wir.
Pioneer: Was wäre Teil eins Ihres Restrukturierungsplans?
Lindner: Wir müssen uns von mancher Lebenslüge verabschieden, die sich in unserem Land in den vergangenen Jahren verfestigt hat.
Pioneer: Was ist die deutsche Lebenslüge Nummer eins?
Lindner: Es gibt den Irrtum, dass man seinen
Lebensstandard halten könnte durch weniger Anstrengung. Ich beklage
generell, dass wir eine gewisse Antriebslosigkeit haben. Null Bock auf
Arbeit. Null Bock auf Wettbewerb. Das sind durchaus auch Manager, die
den Erfolg ihres Unternehmens nicht mehr auf den Weltmärkten suchen,
sondern in der Nähe des Staatshaushaltes mit seinen Subventionen.
Lindner: Es ist nicht möglich, dass die größte Volkswirtschaft der Europäischen Union auf die Kernenergie verzichtet und gleichzeitig fünf Jahre schneller klimaneutral sein will als der gesamte Rest der Europäischen Union. Das ist nicht möglich, zumindest dann nicht, wenn am Ende stehen soll, dass wir eine klimaneutrale Wirtschaftsmacht sind und nicht ein klimaneutral verarmtes Land.
Pioneer: Das heißt konkret was?
Lindner: Wir müssen erkennen, dass schon die
europäischen Klimaziele, also das Erreichen der Klimaneutralität 2050,
eine Höchstanstrengung bedeutet.
Pioneer: Die Ampel hat im Koalitionsvertrag dieses Ziel um fünf Jahre vorverlegt. Das deutsche 2050 heißt 2045.
Lindner: Wir müssen uns die Frage stellen – ist 2045 realistisch? 2045 bedeutet ja, dass wir funktionierende Anlagen und funktionierende Technologie in Deutschland abschalten….
Pioneer: …und verschrotten.
Lindner: Wenn Deutschland fünf Jahre schneller ist, bedeutet das nur, dass andere in Europa weniger Anstrengungen unternehmen müssen, weil die gemeinsamen europäischen Ziele gegenüber der Welt dieselben bleiben. Wenn Deutschland also übererfüllt, haben unsere Freundinnen und Freunde in Polen ein leichteres Leben.
Pioneer: Das bedeutet, Deutschland sollte Ihrer Ansicht nach seine Ziele wieder strecken?
Lindner: Das ist mein Vorschlag.
Pioneer: Hat es eine Überpriorisierung der Klimapolitik gegeben in den vergangenen drei Jahren?
Lindner: Nicht in den vergangenen drei Jahren. Das ist das Erbe der Ära Merkel. Unsere Wettbewerbsfähigkeit ist seit zehn Jahren gesunken, seit 2014.
Pioneer: Sie haben neulich gesagt, die Probleme verschärfen sich und die politischen Spielräume verengen sich. Irgendwann kommt der Tag, da werden wir uns die Karten legen müssen. Was haben Sie damit gemeint?
Lindner: Wir müssen einen Bundeshaushalt in wenigen
Tagen beschließen und da sind Prioritäten zu treffen. Wir haben eine
dramatische wirtschaftliche Entwicklung, gemessen an dem, was unser
Selbstanspruch sein muss. Und wir haben alle Verschuldungsspielräume
ausgeschöpft. Wir machen 50 Milliarden Euro zusätzliche Schulden. Das
ist der Rahmen.
Pioneer: Wirtschaftsminister Habeck will den Rahmen verändern.
Lindner: Das kann ich noch nicht glauben, dass das wirklich der Plan ist. Weil es würde bedeuten, vorsätzlich europäisches Recht zu brechen.
Pioneer: Er will politisch dafür kämpfen, die Schuldenregel des Grundgesetzes mit Zweidrittelmehrheit zu verändern.
Lindner: Aber das ist nur die deutsche Schuldenbremse.
Pioneer: Diese Debatten innerhalb der Regierung paralysieren das Land. Sie haben neulich gesagt, das Land verträgt keinen Schwebezustand.
Lindner: Wir haben zwei Denkschulen in Deutschland: Wir müssen Schulden als Staat machen, um dann der Wirtschaft Subventionen zu geben, damit sie wettbewerbsfähig ist. Das sagt die eine Denkschule. Ich glaube daran nicht. Denn es soll ja eigentlich die Wirtschaft den Staat finanzieren und nicht der Staat die Wirtschaft. Aber richtig ist: Wir haben gegenwärtig eine nicht getroffene Richtungsentscheidung für unser Land.
Pioneer: Was schlecht ist!
Lindner: Was wir deshalb schnellstmöglich beenden müssen durch eine zu treffende Richtungsentscheidung.
Pioneer: Otto Graf Lambsdorff hat die Koalition mit Helmut Schmidt an sehr ähnlichen Fragestellungen scheitern lassen. Daher die Frage an Sie: Ab wann ist genug gesprochen?
Lindner: Ich finde die historische Analogie etwas spielerisch. Über diese Fragen will ich öffentlich nicht spekulieren. Es besitzt auch einen hohen Wert, eine stabile Regierung zu haben.
Pioneer: Aber diese Regierung ist doch nicht mehr stabil.
Lindner: Natürlich ist die Regierung stabil. Jede Woche werden im Deutschen Bundestag gemeinsam Gesetze beschlossen.
Pioneer: Gibt es Tage, wo Sie selbst sagen, es gibt für mich auch außerhalb der Politik Möglichkeiten, Geld zu verdienen und zu wirken?
Lindner: Ich war ja schon mal Unternehmer, habe seit dem 18. Lebensjahr meinen Lebensunterhalt selbst bestritten. Ich bin ja nicht Politiker mangels Alternative. Ich bin Politiker, weil ich für meine Überzeugungen eintrete.
Pioneer: Das heißt für Ihre weitere Lebensplanung was?
Lindner: Mit mir ist noch länger zu rechnen. Den Gefallen tue ich den Linken nicht.
Pioneer: Das Geld der Privatwirtschaft kann Sie nicht locken?
Lindner: Niemand hat eine so große Kreditkarte wie der Finanzminister der Bundesrepublik Deutschland.
Fazit: Wir sind wieder Zeitzeuge einer politischen Wende. Noch kennt keiner der Protagonisten den Ausgang, weil niemand in Gänze die Spielzüge des Koalitionspartners (und Rivalen) durchschaut. Ungewollte Auswirkungen auf die beiden populistischen Parteien rechts und links der Mitte sind nicht ausgeschlossen. Oder wie Graf Lambsdorff in seinem Trennungspapier 1982 schrieb:
Eine unkontrollierbare Eskalation der Haushaltsprobleme und mangelnde Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme können leicht den Boden für eine politische Systemkrise bereiten.
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