30 Mai 2023

Schulversagen und Selbstverantwortung - Seines Glückes Schmied (Cicero)

Schulversagen und Selbstverantwortung
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Seines Glückes Schmied (Cicero)
Schulabbrecher können bei vielen Zeitgenossen auf Verständnis hoffen, da man für ihr Schicksal gerne die Schule oder die Gesellschaft verantwortlich macht. In Wirklichkeit haben die meisten ihr Schicksal selbst verschuldet, indem sie ein aufregendes Leben dem mühsamen Lernen vorzogen.
VON RAINER WERNER am 27. Mai 2023
In Sozialreportagen unserer Fernsehsender kann man Menschen erleben, die ganz unten angekommen sind: Seit Jahren arbeitslos, von Krankheit gezeichnet, mitunter auch dem Alkohol verfallen, leben sie von Zuwendungen, die ihnen unser Sozialsystem gewährt. Mitfühlend sprechen die Reporter davon, dass diese Menschen auf der Schattenseite des Lebens gelandet seien. Auch von Schicksalsschlägen oder Pech ist die Rede. Wie es zu einem Leben auf der abschüssigen Bahn gekommen ist, interessiert die Reporter selten. Untersuchte man dies, könnte man häufig nicht mehr von Pech oder Schicksal reden. Man würde nämlich feststellen, dass viele Betroffene ihr prekäres Leben in Armut als Jugendliche selbst verschuldet haben.

In Deutschland verlassen jährlich rund 50.000 Schüler die Schule ohne Abschluss. Das entspricht der Einwohnerzahl von Bocholt. Ohne Schulabschluss kann man keine Berufsausbildung beginnen, weil heutzutage jeder Lehrberuf elementare Kenntnisse in Deutsch und Mathematik voraussetzt. Diese sind bei Schulabbrechern nicht vorhanden. Versuche von Handwerksmeistern, auch solche Schüler einzustellen, um dem akuten Fachkräftemangel entgegenzuwirken, sind überwiegend gescheitert.

Die weiteren Perspektiven sind eher düster, weil die beruflichen Anforderungen in Zukunft eher noch anspruchsvoller werden. Umso tragischer ist es, dass es unserem Schulsystem nicht gelingt, alle Schüler zu einem qualifizierten Schulabschluss zu führen.

Dauerschwänzen führt zu Schulversagen

Die Gründe für Schulversagen sind gut erforscht. Eine wesentliche Ursache ist das Schwänzen. Ihm liegt eine Vermeidungshaltung zugrunde. Schüler, die mit schulischen Misserfolgen, wie z.B. einer Fünf in der Klassenarbeit oder einer Zurechtweisung durch den Lehrer wegen Fehlverhaltens, nicht umgehen können, weichen solchen für sie beschämenden oder kränkenden Situationen aus – durch Schulflucht. Die Lücken, die dadurch entstehen, verstärken den Teufelskreis: Wenn die Leistungen noch schlechter werden, sehen sich die Schüler schließlich veranlasst, sich allen weiteren Leistungsüberprüfungen durch Abwesenheit zu entziehen.

Um den Eltern den regelmäßigen Schulbesuch vorzutäuschen, verlassen sie in der Frühe die Schule, um den Vormittag in Einkaufszentren zu verbringen. Die Berliner Polizei hatte vor einiger Zeit eine besondere Einheit, die die einschlägigen Elektronikmärkte durchkämmte, um schwänzende Schüler einzusammeln und in ihrer Schule abzuliefern.

Ein weiterer Grund für Schwänzen liegt in der Gruppendynamik mancher Schulklassen begründet, die oft von Neid und Missgunst gekennzeichnet ist. Um zum anerkannten inneren Zirkel der Klasse zu gehören, muss man sportlich sein, die angesagten Markenklamotten tragen und einen bestimmten Musikstil bevorzugen. Wer diesen „Anforderungen“ nicht genügt, gilt als Looser und wird ausgegrenzt. Mobbing ist deshalb ein wichtiger Grund für das Fernbleiben von der Schule.

Schulabbrecher scheitern an ihrer Schulunlust

Die Forschungsergebnisse über Schulversagen decken sich mit meinen eigenen Erfahrungen, die ich als Lehrer an verschiedenen Berliner Schulen gesammelt habe. Die meisten Schulabbrecher scheitern nicht an mangelnder Intelligenz, sondern an ihrer Schulunlust. Sie finden andere Dinge im Leben wichtiger als jahrelang zu lernen, um erst später im Leben die Früchte der Mühsal zu ernten. Triebaufschub ist eine Tugend, die sie nicht gelernt haben. Sie führen ein aufreibendes Leben außerhalb der Schule, z.B. mit der Freundin, in der Clique, in der Musik-, Gamer- und Drogenszene. Die Verlockungen der sozialen Medien spielen dabei ebenfalls eine Rolle.

Ich habe ein 15-jähriges Mädchen erlebt, das die Schule abgebrochen hat, weil sie als Influencerin auf YouTube mehr verdiente als ihre Eltern. Als der Erfolg verflog, landete sie als 18-Jährige in der Sozialhilfe. Ich habe einen gleichaltrigen Jungen erlebt, der die Schule vor der 10. Klasse verließ, um im Jugend-Leistungszentrum eines Profi-Fußballvereins Fußball zu spielen. Als eine Verletzung seine Karriere beendete, stand er ohne Schulabschluss da.

Schulversagen ist häufig selbst verursacht

Solche Beispiele zeigen, dass man die Schule nur bedingt für Schulversagen verantwortlich machen kann. Der Hauptschulabschluss ist so leicht, dass man sich schon sehr dumm anstellen muss, um ihn nicht zu bestehen. In den Sekundar- und Gemeinschaftsschulen ist das Sitzenbleiben abgeschafft, sodass man auf jeden Fall den Weg bis zum Mittleren Schulabschluss gehen kann. Man muss nur die Prüfung bestehen.

Selbst die Prüfungen haben ihren früheren Schrecken verloren. In der deutschen Schule hat das Paradigma der sozialen Gerechtigkeit nämlich längst das Leistungsprinzip abgelöst, was bei Bildungsexperten aus dem Ausland mitunter für Befremden sorgt. Die Anforderungen bei Klassenarbeiten und Prüfungen wurden Stück für Stück abgesenkt, sodass man nur dann scheitern kann, wenn man sich dem System Schule bewusst entzieht.

Nach meiner Erfahrung sind für Schulversagen oder Schulerfolg vor allem persönliche Entscheidungen und Verhaltensweisen verantwortlich. Die Berichterstattung in den Medien blendet diesen Sachverhalt gerne aus. Vermutlich halten auch Journalisten den Satz „Jeder ist seines Glückes Schmied“ für eine neoliberale Propagandafloskel und nicht für die Widerspiegelung der Realität. Es ist außerdem viel bequemer, eine Institution für das Versagen von Menschen verantwortlich zu machen, der viele Menschen aus eigener Erfahrung mit Misstrauen begegnen: die Schule. Ihr kann man unbesehen anlasten, die jungen Menschen nicht ausreichend motiviert und gefördert zu haben. Diese Begründung wird auch von Schulabbrechern gerne angeführt, weil es ihnen peinlich ist, persönliches Versagen als Grund für ihr Scheitern zuzugeben.

Analphabetismus als Makel einer Bildungsnation

Nach Einschätzung des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung leben in Deutschland zurzeit rund sieben Millionen Analphabeten. Dazu zählen Flüchtlinge, die aus Entwicklungsländern stammen, wo sie keine ordentliche Schulbildung genossen haben. Sie bezeichnet man als primäre Analphabeten. Nach Auskunft des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) schafften von den Flüchtlingen aus Nahost, die anfänglich des Lesens und Schreibens nicht mächtig waren, nur 20 Prozent den Level A2 im Deutschkurs, der eine grundlegende Verständigung in der fremden Sprache ermöglicht. 80 Prozent der Absolventen verstanden auch nach dem Kurs so wenig Deutsch, dass sie keine Aussicht auf einen Aushilfsjob oder eine berufliche Ausbildung hatten (Zahlen von 2018).

Sekundäre Analphabeten sind Menschen, die zwar in der Schule Lesen und Schreiben gelernt haben, beides aber im späteren Leben infolge mangelnder Praxis wieder verlernten. Von funktionalem Analphabetismus spricht man, wenn die Betroffenen zwar einige Wörter lesen können, den Sinn eines Textes jedoch nicht verstehen. Sie können z.B. keine Speisekarten, Gebrauchsanweisungen oder Fahrpläne lesen.

Diese Menschen mogeln sich mit Hilfe von Tricks durchs Leben, indem sie z.B. Passanten mit der Ausrede um Hilfe bitten, sie hätten ihre Lesebrille vergessen. In ihrem Beruf sind sie mitunter trotzdem erfolgreich, wie der Kellner in einem vornehmen Berliner Restaurant, der seinen Überlebenstrick in einer Talkshow verriet. Da er die Speisekarte nicht lesen konnte, bat er frühmorgens einen Koch, ihm die aktuellen Gerichte vorzulesen. Er hatte die Spezialbegabung entwickelt, sich den Text so exakt einzuprägen, dass er den Gästen souverän Auskunft geben konnte.

Analphabeten entstehen in der Grundschule

Grundschulpädagogen erleben täglich, wie Analphabetismus entsteht. Kinder aus Akademikerfamilien können bei der Einschulung häufig schon lesen und schreiben. Kinder aus der deutschen Unterschicht und aus dem Migrantenmilieu hingegen mühen sich mühsam, anhand der Rechtschreibfibel das Alphabet und die Regeln der Wortbildung zu lernen. Wenn es den Lehrkräften nicht gelingt, beiden Anspruchsniveaus gerecht zu werden, vergrößert sich die Diskrepanz beim Lesen und Schreiben von Woche zu Woche. Viele Kinder der benachteiligten Gruppe verlieren die Lust am Lesenlernen, wenn sie erkennen, dass sie die flinken Lerner niemals mehr würden einholen können. Der Lernfrust wird dann so groß, dass sich diese Schüler dem Lernen gänzlich verweigern.

Im Berliner Regionalfernsehen schilderte eine ältere Dame, die sich ehrenamtlich im Alpha-Bündnis, einer Alphabetisierungsinitiative, engagiert, wie sie in der Grundschule zur Analphabetin wurde. Sie konnte das Wort Tiefebene nicht aussprechen, weil sie die erste Silbenfuge f – e nicht erkannte. Als sie von ihren Mitschülern deshalb ausgelacht wurde, vermied sie in der Folge das Vorlesen, wo sie nur konnte. Husten und Schnupfen gelten als probate Ausreden, um von der Lehrkraft geschont zu werden. Permanente Schonung führt dann über kurz oder lang zum Analphabetismus.

Wenn man weiß, wie Analphabetismus in der Grundschule entsteht, gibt es nur einen Weg, ihn zu vermeiden. Den leseschwachen Schülern muss ein geschützter Raum geboten werden, in dem sie ohne Beeinträchtigung durch überhebliche Mitschüler das Lesen unter Anleitung einer Fachkraft sicher lernen und kontinuierlich üben. Angesichts des volkswirtschaftlichen Schadens, der durch Analphabetismus entsteht, sollte dem Staat diese pädagogische Investition, die zusätzliche Lehrerstellen erfordert, nicht zu teuer sein.

Schulabschluss als Verpflichtung

Schulische Bildung ist keine lästige Bürde, derer man sich nach Gusto entledigt, wenn einem der Sinn nach Spaß und Abenteuer steht. Ein Schulabschluss ist die Eintrittskarte in unsere Leistungsgesellschaft. Er verbürgt ein selbstbestimmtes Leben und ein sicheres Auskommen. Und er schützt davor, auf die Hilfe der Solidargemeinschaft angewiesen zu sein. Die Schule abzubrechen, sollte deshalb nicht länger ins Belieben der Schüler gestellt werden. Zu viel steht für den Einzelnen und für die Gesellschaft auf dem Spiel.

In der Silvesternacht 2022 entlud sich in mehreren Großstädten eine Orgie an Gewalt gegen Polizei und Feuerwehr. Es gab zahlreiche Verletzte und hohe Sachschäden. Die Statistiken der Polizei wiesen aus, dass es sich bei den Tätern überwiegend um Jugendliche mit Migrationshintergrund handelte. Die Integrationsbeauftragte von Berlin-Neukölln, Güner Balci, nannte die Täter „hoffnungslos Abgehängte, absolute Loser“. Eine Frage ließ sie unbeantwortet: Warum wurden die Migrantenkinder abgehängt? Die Passivformulierung legt nahe, dass es dafür einen Verursacher gibt.

Die frühere Staatssekretärin des Berliner Senats, Sawsan Chebli (SPD), scheint den Schuldigen zu kennen, wenn sie twittert: „Viele der Jungs, die hier als Integrationsverweigerer bezeichnet werden, schrieben Hunderte Bewerbungen, um eine Arbeit zu finden, und bekamen nur Absagen. Wie soll so Integration gelingen?“

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Berliner Firmen und Handwerksbetriebe suchen händeringend nach Auszubildenden und nach Arbeitskräften. Wenn sie Jugendliche ablehnen, dann tun sie es aus einem triftigen Grund: Die Zeugnisse der Bewerber waren zu schlecht oder die jungen Menschen haben die Schule ohne Abschluss abgebrochen. In Berlin tun das jährlich rund 3000 Schüler. Wenn man den Teufelskreis aus Schulversagen und Randale unterbrechen will, geht das nur mit unorthodoxen Maßnahmen. Ein probates Mittel wäre die Verpflichtung für gescheiterte Schüler, den niedrigsten Schulabschluss auch nach Beendigung der gesetzlichen Schulpflicht nachzuholen. Spezielle Einrichtungen, in denen die Schüler sich voll auf das Lernen konzentrieren, könnten dabei helfen.

Es ist nicht einzusehen, warum es in Deutschland nur Internate gibt, in denen man das Abitur erwerben kann. Internate für lernschwache Schüler zum Erwerb eines Schulabschlusses könnten dazu beitragen, die hohen Abbrecherquoten an den Regelschulen signifikant zu senken. Flankierend dazu müssten die Jobcenter verpflichtet werden, Leistungen des Bürgergelds an Jugendliche nur dann auszuschütten, wenn diese sich dieser Nachqualifizierung unterziehen. Lebenslanges Lernen muss gerade für die gelten, die in der ersten Phase des Lernens – in der Schule – versagt haben.

Diese Qualifizierungsoffensive wird nur dann erfolgreich sein, wenn die Gesellschaft eine solche Bildungspflicht mitträgt. Linke Parteien und Gruppierungen werden mit Sicherheit dagegen opponieren, weil sie dahinter ein pädagogisches Zwangssystem wittern. Wem das Schicksal der jungen Menschen am Herzen liegt, sollte sich von einer solchen Kritik nicht beirren lassen.

Selbstverantwortung tut not

Die Haltung, die Bürger von der Selbstverantwortung für ihr Leben freizusprechen, wurde in den 1960er/1970er-Jahren begründet. Ehemalige Aktivisten der antiautoritären Studentenbewegung, die den langen Marsch durch die Institutionen angetreten hatten, lieferten dazu den passenden ideologischen Überbau: die Theorie von der „strukturellen Gewalt“, die auch von einem demokratischen Staat ausgehe.

Herbert Marcuse sprach von der „repressiven Toleranz“, die lediglich der Verschleierung der „latenten Gewalt des Systems“ diene. Auch der Studentenführer Rudi Dutschke fabulierte von der „organisierten Gewalt des Systems“. Wenn die Wechselfälle des Lebens durch die „strukturelle Gewalt“ des Staates verursacht werden, ist die staatliche Alimentierung – so die simple Logik – nur eine gerechte Wiedergutmachung.

Seither hat sich unsere Gesellschaft daran gewöhnt, den Staat für alle Wechselfälle des Lebens in Haftung zu nehmen. Er soll alle Benachteiligungen in der Gesellschaft ausgleichen, vornehmlich dadurch, dass er Geld ausschüttet. Kein Wehwehchen, das nicht durch ein materielles Pflästerchen zu heilen wäre. Mit einem selbstbestimmten Leben hat das wenig zu tun.

Es wird Zeit, dass Selbstverantwortung wieder zum entscheidenden Paradigma in der Gesellschaft wird. „In einer freien Gesellschaft muss der Bürger Verantwortung für sein eigenes Leben übernehmen und selbst für sein eigenes Wohlbefinden sorgen.“ (Susanne Schröder: „Global gescheitert?“, 2022) Auch in der schulischen Bildung sollte die Einsicht gelten, dass es die Pflicht eines jeden Schülers ist, durch einen (guten) Schulabschluss die Grundlagen für ein materiell abgesichertes Leben zu legen. Ein jeder ist eben doch seines Glückes Schmied.

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