„Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends liefern ein besorgniserregendes Bild. Die negativen Trends sind erheblich und der Anteil der Viertklässler, die nicht einmal die Mindeststandards erreichen, ist zu hoch. Im Jahr 2021 liegt dieser Anteil in Deutschland insgesamt zwischen gut 18 Prozent (Zuhören) und etwa 30 Prozent (Orthografie), wobei die Anteile in einzelnen Ländern noch deutlich höher sind. Es dürfte Einigkeit darüber bestehen, dass solche Zahlen nicht hinnehmbar sind. Bei Mindeststandards handelt es sich um Anforderungen, die von allen Schülern erreicht werden sollten.“
Erosion des Fleißes
Zudem gilt Fleiß in einer Gesellschaft, die mehr an der „Work-Life-Balance“ als an Arbeit interessiert ist, nicht mehr als Tugend. Dies ist zwar kein allein deutsches Phänomen. Aber in Deutschland wird es in eine durchschnittliche jährliche Arbeitszeit übersetzt, die 30 Prozent unter der amerikanischen und 70 Prozent unter der chinesischen liegt.
Anstieg der Energiekosten
Am schwersten wiegt jedoch unser Nachteil bei den Energiekosten. Für elektrischen Strom müssen deutsche Unternehmen den fünffachen Preis amerikanischer und den achtfachen Preis chinesischer Unternehmen bezahlen. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, zwingt die Politik der Industrie Technologien auf, in denen andere Länder Vorteile haben. Dazu gehören Elektroheizungen ebenso wie Autos mit Elektroantrieb. Kein Wunder also, dass in den letzten Jahren die Direktinvestitionen deutscher Unternehmen die Investitionen ausländischer Unternehmen in Deutschland übersteigen.
Erschwerend kommt eine Politik hinzu, die ein interventionistisches Regelsystem samt einer lähmenden Bürokratie geschaffen und den Verfall der Infrastruktur zugelassen hat. Mancher mittelständische Unternehmer denkt über die Verlagerung des gesamten Unternehmens ins Ausland nach.
Warnendes Beispiel Italien
Was geschieht, wenn einem Industrieland die Anpassung an veränderte Umstände nicht gelingt, zeigt das Beispiel Italiens. Wie andere westliche Industrieländer erlebte Italien nach dem Zweiten Weltkrieg einen kräftigen Aufschwung. Und wie Deutschland verringerte Italien sogar den Abstand zu den USA. Doch gegen Ende der 1970-Jahre kam der Aufholprozess mit den USA an sein Ende, und seit Anfang der 1980er-Jahre wächst der Rückstand. Im Jahr 2018 lag das reale BIP pro Kopf sogar unter dem Niveau von 2007.
Der wesentliche Grund für die Abschwächung des Wirtschaftswachstums liegt am Versiegen des Wachstums der Produktivität von Arbeit und Kapital. Die sogenannte gesamte Faktorproduktivität (GF) stieg von Anfang der 1950er- bis Ende der 1970er-Jahre stärker als in den USA und im Gleichklang mit Deutschland. Nach dem Einbruch in der Anpassungsrezession von 1981-82 erholte sich das GF-Wachstum in den Folgejahren jedoch im Gegensatz zu den USA und Deutschland nicht mehr. Die gesamte Faktorproduktivität blieb bis Ende der 1990er-Jahre gleich und sinkt seit dem Beginn des neuen Jahrhunderts.
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Trotz der Stagnation des GF-Wachstums stieg das reale BIP noch bis zum Beginn der Großen Finanzkrise im Jahr 2007. Grund dafür waren bis zum Eintritt Italiens in die Europäische Währungsunion Exportverbilligungen durch Abwertung des Wechselkurses der Lira. Bis 2001 setzte sich die Abwertung aufgrund der anfänglichen Schwäche des Euros fort. Die Währungsschwäche erlaubte es, den Anstieg der Staatsverschuldung zur Stützung der inländischen Nachfrage vorübergehend auszusetzen. Mit der Erholung des Euro-Wechselkurses fiel jedoch der Antrieb durch die Währungsabwertung weg, und die Fiskalpolitik versuchte, die Wirtschaft durch Neuverschuldung zu stimulieren.
Die Gründe für die italienische Wachstumsschwäche werden unter Ökonomen intensiv diskutiert. Lorenzo Codogno und Giampaolo Galli finden in einer Ende letzten Jahres veröffentlichten umfangreichen Analyse, dass eine überbordende Bürokratie, eine träge Justiz, ein sklerotischer Arbeitsmarkt, ein unterentwickeltes Finanzsystem, ein schlechtes Bildungssystem, mangelnder Wettbewerb, Überschuldung und ein von Gruppenegoismen und der Verfolgung von Sonderinteressen bestimmtes politisches System den Übergang von einer traditionellen Wirtschaft zu einer wissensbasierten Wirtschaft verhindert hätten. Italien bleibt in überkommenen Strukturen gefangen, während sich seine Umwelt grundlegend verändert hat.
Wir bräuchten eine Agenda 2030
Noch steht Deutschland weit besser da als Italien. Doch die Erosion des deutschen Wirtschaftsmodells deutet darauf hin, dass Deutschland heute drohen könnte, was Italien in den 1980er-Jahren zum Verhängnis wurde: mangelnde Anpassung an eine stark veränderte Welt aufgrund verkrusteter Strukturen.
Die Lage erinnert an 2002, als Deutschland der „kranke Mann Europas“ genannt wurde. Damals reagierte die Regierung Gerhard Schröder mit der „Agenda 2010“ darauf. Deutschland steht heute wieder an einem Scheideweg — nicht nur politisch mit der von Bundeskanzler Scholz ausgerufenen Zeitenwende, sondern auch wirtschaftlich. Das Land muss sich bei der Energieversorgung neu aufstellen. Der Staat muss die Bürokratie abbauen und die öffentliche Infrastruktur modernisieren. Die Industrie muss die neueste Herausforderung auf dem Gebiet der digitalen Technologie, die künstliche Intelligenz, annehmen. Und Gesellschaft und Politik müssen mit der Alterung der Bevölkerung fertig werden, das Bildungssystem reformieren und die Migrationskrise bewältigen.
Deutschland bräuchte eine „Agenda 2030“, denn die Zeit drängt. Doch leider klaffen die harte Realität und ihre Wahrnehmung durch die Politik weit auseinander. Weil sie den Wohlstand für gegeben nehmen, reiten ausschlaggebende Bereiche der Politik ideologische Steckenpferde. Wenn die Wirtschaft aber nicht mehr gehört wird, entschließt sie sich (nach Albert O. Hirschmann) zum „Exit“. Und wenn den Bürgern ihre Stimme genommen wird, gehen sie in die innere Emigration.
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