Mit der Brechstange (Cicero)
Der Bundeswirtschaftsminister gibt sich wie gewohnt eher nachdenklich und klagt ein wenig darüber, dass die Bevölkerung die Transformationsagenda der Grünen inhaltlich zwar befürworte, aber keine eigenen Opfer bringen wolle. Die Außenministerin wiederum begründet ihre Ukrainepolitik. Und Jarasch benennt als ihr oberstes Ziel, die Hauptstadt „klimaneutral“ zu machen.
Es gibt viel Applaus von der Grünen-Fanbase. Und sonntags darauf dann die große Ernüchterung: 18,4 Prozent für die Grünen – ein knappes Minus im Vergleich zur Abgeordnetenhauswahl rund anderthalb Jahre zuvor. Das eigentliche Drama aber: Die Grünen konnten kein bisschen von der in Berlin herrschenden Anti-SPD-Stimmung profitieren, der große Gewinner war vielmehr Kai Wegners CDU mit 28,2 Prozent und einem Plus von mehr als zehn Punkten. Offenbar (und aus gutem Grund) hatten die leidgeprüften Berliner andere Prioritäten als Klimaneutralität. Game over für Bettina Jarasch.
Der Traum ist aus
Die entsprechende Stimmung lässt sich an einem Montagabend Mitte Januar beobachten. Knapp vier Wochen vor der Wiederholungswahl hat der Verein Berliner Kaufleute und Industrieller sämtliche Spitzenkandidaten der wichtigsten Parteien zu einer Vorstellungsrunde geladen: Berlins Regierende SPD-Bürgermeisterin Franziska Giffey ist dabei, Kultursenator Klaus Lederer von der Linken, ebenso der CDU-Herausforderer Kai Wegner, die AfD-Fraktionsvorsitzende Kristin Brinker sowie FDP-Mann Sebastian Czaja – und natürlich Umwelt- und Mobilitätssenatorin Jarasch.
Die 54-Jährige macht sich zu diesem Zeitpunkt noch berechtigte Hoffnungen darauf, Giffey im Roten Rathaus als Regierungschefin abzulösen; immerhin sind viele Berliner Bezirke – Mitte, Prenzlauer Berg, Friedrichshain-Kreuzberg – klassische Grünen-Biotope. Doch die Podiumsveranstaltung gerät zu einem regelrechten Desaster für die anfangs noch fröhlich auftrumpfende Senatorin: Das wirtschaftsnahe Publikum quittiert ihre Redebeiträge mit teilweise höhnischem Gelächter, und als die Rede ist von der auf Betreiben der Grünen für den Autoverkehr gesperrten Friedrichstraße, schlägt ihr blanke Empörung entgegen.
Konsterniert verlässt sie nach dem Ende der Veranstaltung den Saal. Die bürgerliche Mitte der Stadt ist von den Grünen offenbar nicht ganz so begeistert wie diese von sich selbst. Dabei war die Berliner Wiederholungswahl sogar nur das Vorspiel für weitere Rückschläge: Der „Volksentscheid Berlin klimaneutral 2030“ am 26. März ging spektakulär in die Hose, obwohl die Grünen sich entgegen ihrer ursprünglichen Ablehnung auf den letzten Metern doch noch vor den Karren der Initiative hatten spannen lassen. Sachliche Einwände zählten plötzlich nicht mehr, zu groß war die Angst davor, die radikalen Klimaschützer zu verprellen.
Der grüne Nimbus bröckelt
Richtig brutal Federn lassen mussten die Grünen dann in der letzten Märzwoche. Beim mehrtägigen Koalitionsausschuss der Bundesampel wurde die Partei von den vereinten Kräften der Bündnispartner derart unter Druck gesetzt, dass vielen Grünen hinterher Hören und Sehen verging: Die einzelnen Sektoren weiterhin auf Einsparziele bei den CO2-Emissionen verpflichten? Abgeräumt! Stattdessen: beschleunigte Planung von 144 Autobahnprojekten. Das war der Preis, den Habeck zahlen musste, um seine rigorosen Heizungspläne doch noch durchzusetzen. So hatten sich die Anhänger der Grünen die „Fortschrittskoalition“ aber nicht vorgestellt. Plötzlich sind Habeck & Co. in der Defensive. Klimaaktivistin Luisa Neubauer fand dafür nur ein Wort: „unfassbar“.
Dass ihnen der Wind auch aus dem eigenen Milieu derart ins Gesicht bläst,
ist für viele Grüne eine ganz neue Erfahrung. Aber dabei wird es nicht
bleiben, die Ablehnung dürfte bald bis weit in die Mitte der Bevölkerung
hinein ausstrahlen. Jahrelang war die Partei von der roten, schwarzen
oder sogar der gelben Konkurrenz umworben und von den Medien –
insbesondere dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk – als progressive Kraft
gefeiert worden. Auch in weiten Teilen von Wirtschaft und Gesellschaft
schienen die Zeichen auf Grün zu stehen, und in der Eigenwahrnehmung
sind die Grünen ohnehin die einzige politische Bewegung, der die Rettung
des Klimas und damit der gesamten Menschheit gelingen kann.
- Neue Protestaktionen der „Letzten Generation“: Kleben und beten (Volker Resing)
- „Ökologisches Heizen darf kein Elitenprojekt werden“ (Lamia Messari-Becker)
- Wochen der Wahrheit für Grüne: Die Grenzen medialer Gehirnwäsche (Jens Peter Paul)
- „Künstliche Verknappung mit sozialen Härten und ohne Klimaschutz“ (Ben Krischke)
- Volksentscheid in Berlin: Radikale Klimaschützer scheitern (Mathias Brodkorb)
Den Kampf gegen den Klimawandel haben sie absolut gesetzt. Dass damit auch Risiken verbunden sind, zeigt sich jetzt aber in aller Schärfe: Der Kotau der Grünen vor radikalen Organisationen wie „Letzte Generation“ zahlt sich nicht aus, weil selbst das akademische Wohlfühlelektorat (Asien-Urlaub, Bio-Produkte, BMW mit Elektroantrieb), bei dem Grün-Wählen bisher ganz selbstverständlich zum Lifestyle gehörte, irgendwann genervt ist von Straßenklebern oder Kunstwerke-Beschmierern. Und sich mit spitzem Bleistift ausrechnet, was Habecks Heizungsoffensive für die eigenen vier Wände bedeutet. Vielfach reicht es dabei nämlich nicht, bloß die Heizung auszutauschen. Vor allem im Altbau kommen Fassadendämmung und neue Heizkörper hinzu. Die Kosten dafür können schnell auf mehr als 100 000 Euro steigen.
Noch mehr CO2 durch Wärmepumpen
Ein zentrales Dilemma der Grünen ist es, dass „Klima“ zwar als Wahlkampfschlager taugt, weil sich damit hehre Ziele verbinden, die auch außerhalb der Öko-Bubble kaum noch hinterfragt werden. Aber je konkreter sich der Kampf gegen den weltweiten Temperaturanstieg ausformt, desto deutlicher spürt auch die Bevölkerung, was das am Ende alles kostet und welche Einschränkungen damit einhergehen.
Die eigentliche Krux besteht aber darin, dass der Klimawandel ein globales Phänomen ist, dem deswegen auch nur global begegnet werden kann. Selbst wenn die Deutschen sich die strengsten Klimaschutzmaßnahmen auferlegen würden: Solange etwa die Chinesen weiterhin massiv auf den Bau von Kohlekraftwerken setzen, bleiben von der Bundesregierung verordnete Wärmepumpen ein kaum zu erkennender Tropfen auf den heißen Planeten. Und am Ende sind sie nicht einmal das.
Durch den massiven Einbau von Wärmepumpen könnten die CO2-Emissionen in Wahrheit sogar weiter zunehmen – wegen des CO2-lastigen deutschen Strommixes. Durch den vollständigen Ausstieg aus der Atomkraft wird sich dieses Problem sogar noch vergrößern: CO2-Emissionen mit noch mehr CO2-Emissionen reduzieren wollen – und das zu astronomischen Kosten. Das Handeln der Bundesregierung erinnert derzeit an religiöse Eiferer.
Grüne und die Demokratie
Als Winston Churchill seiner Bevölkerung im Mai 1940 „Blut, Schweiß und Tränen“ abverlangte, war das Ziel ein mit vereinten Kräften gewonnener Krieg. Wenn heute die Grünen ihre mit vielen Zumutungen verbundene Transformationsagenda durchsetzen wollen, bleibt der Effekt fürs Weltklima gleichwohl marginal.
Was zwar nicht heißt, dass die Maßnahmen samt und sonders falsch wären. Doch über kurz oder lang droht bei den Bürgern eine massive Frustration: Warum strengen wir uns eigentlich so an, wenn’s am Ende doch nichts bringt? Dieser Widerspruch ließe sich allenfalls mit dem Argument lösen, Klimaschutz made in Germany werde dem Rest der Welt zum Vorbild gereichen und ganz bestimmt schon bald überall nachvollzogen. Die verkorkste „Energiewende“ und der teilweise fassungslose Blick aus dem Ausland auf die klimapolitischen Experimente an der deutschen Volkswirtschaft sprechen allerdings eher für das Gegenteil.
Zumal gerade die Grünen als vermeintliche Fortschrittspartei alles
andere als technologieaffin wirken: Kernenergie, E-Fuels, Gentechnik
oder moderne Verbrennermotoren – alles irgendwie Teufelszeug, über das
am besten gar nicht diskutiert werden sollte. Stattdessen polieren sie
ihr überwunden geglaubtes Image als „Verbotspartei“ wieder auf nach dem
Motto „Der Zweck heiligt die Mittel“. Wenn etwa die
Fridays-for-Future-Frontfrau (und Partei-Grüne) Luisa Neubauer eine
Abkehr vom bisherigen Modell demokratisch verfasster Marktwirtschaften
in Europa fordert und ein „neues System“ zur „Klimarettung“ verlangt,
liegt der Verdacht nahe, dass Klimaschutz als trojanisches Pferd für
Staatswirtschaft und Kollektivismus herhalten und als Vorwand für einen
Angriff auf die Demokratie dienen soll.
„I want you to panic!“, rief Greta Thunberg ihrem Publikum im Januar 2019 beim Weltwirtschaftsforum in Davos entgegen. Auch die Grünen wissen, dass Panikmache ein probates Mittel ist, um Widerstand zu brechen. „Alles, was die Langsamkeit der Klimapolitik nicht hinnimmt, wird allzu leicht als autoritär denunziert“, hieß es in einem Anfang April erschienenen Kommentar im Spiegel, der die Grünen gegen den Vorwurf in Schutz nehmen sollte, in Richtung einer „Ökodiktatur“ zu marschieren.
Und weiter: „Wir stehen also nicht vor der Wahl, das Klima langsam in einer Demokratie zu schützen oder schnell in einer Diktatur. Wir stehen stattdessen vor der Wahl, entweder weiter wie bisher in die Katastrophe zu laufen – oder unsere Demokratien so zu formen, dass sie das Klima schützen. Bislang gelingt ihnen das leider nicht ausreichend.“
Gegen den Willen der Mehrheit
Die Frage ist allerdings: Wie muss Demokratie eigentlich „umgeformt“ (man könnte auch sagen: gelenkt) werden, wenn einer aktuellen Umfrage desselben Magazins zufolge 50 Prozent der Deutschen dem Klimaschutz eine „geringe Relevanz“ beimessen und weitere 17 Prozent „unentschieden“ sind? Vor diesem Hintergrund sollte man schon genau hinhören, wenn etwa die Grünen-Politikerin Katja Dörner nach dem verlorenen Klimaentscheid in Berlin das Ergebnis sogleich mit dem Hinweis zu relativieren versucht hat, es hätten unterm Strich mehr Menschen für Klimaschutz gestimmt als ein paar Wochen zuvor bei der Abgeordnetenhauswahl für die CDU. Mit anderen Worten: Eingeübte demokratische Verfahren werden auch mal gern zur Disposition gestellt, wenn das Ergebnis nicht im Sinne der Grünen ausfällt.
Tatsächlich haben die Grünen eine gewisse Meisterschaft darin entwickelt, ihre Vorstellungen konsequent auch ohne eigene Mehrheiten durchzusetzen. Der nach dem durch einen Tsunami ausgelöste Reaktorunfall von Fukushima im Jahr 2011 von einer schwarz-gelben Bundesregierung beschlossene Ausstieg aus der Kernenergie war nicht zuletzt als präemptiver Schlag gegen die Grünen gedacht, um der Atomkraft-nein-danke-Partei den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Ähnliches gilt für gesellschaftspolitische Weichenstellungen wie die Homo-Ehe: Selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel bekannte damals, eine Ehe sei für sie laut Grundgesetz Mann und Frau vorbehalten – dennoch wurde das Gesetz im Jahr 2017 zu Zeiten der Großen Koalition mit großer Mehrheit im Bundestag beschlossen. Was ohne Druck durch die oppositionellen Grünen kaum geschehen wäre. Der Zeitgeist war schon lange grün gefärbt, bevor die Partei Ende 2021 nach 16 Jahren wieder selbst an die Schalthebel der Macht gelangte. Entsprechend groß waren die Erwartungen insbesondere an der grünen Basis: endlich durchregieren!
Wahlniederlage trotz Rekordergebnis
Einen bitteren Wermutstropfen galt es allerdings zu schlucken. Denn am Abend des 26. September 2021 war zwar klar: Die Grünen haben ihr bestes Wahlergebnis auf Bundesebene seit ihrer Gründung eingefahren; mit Annalena Baerbock als Spitzenkandidatin holten sie 14,8 Prozent. Dennoch war die Enttäuschung groß – es herrschte eine fast depressive Stimmung, manche Grünen-Funktionäre waren regelrecht wütend. Und bei einigen von ihnen hält diese Wut bis heute an. Denn die Grünen hatten die historische Chance vertan, das Kanzleramt zu erobern. Nichts Geringeres war das Ziel gewesen – und daran sind sie gescheitert.
Alles war darauf angelegt, die nächste Bundesregierung anzuführen. Robert Habeck und Annalena Baerbock hatten die Partei auf handzahm getrimmt, auch das Programm wurde aufpoliert und etwas entideologisiert. Die grüne Revolution mit menschlichem Antlitz wurde versprochen: Klimaschutz, aber nicht brutal; die bunte Gesellschaft, aber ohne Triumphalismus. Und dann der Absturz weit unter die 20-Prozent-Marke. Den eigentlichen Wahlerfolg konnten die Grünen deshalb nicht feiern – die Kanzlerkandidatin hatte sich zuvor im Wahlkampf mit einer geschönten Biografie, plagiierten Buchpassagen und etlichen anderen Patzern unerwartete Blößen gegeben.
„Es war nicht Annalenas Schuld alleine“, lautet seit diesem düsteren Abend der Spin. Doch kaum jemand mochte ihn hören oder glauben. Dass die SPD am Schluss sogar vor der CDU lag, hatte eben auch seine Ursache in grüner Under-Performance. Ein führender Parteifunktionär sagt, Baerbock habe damals nicht verstanden und verstehe es heute noch nicht, dass man nicht nur für die eignen Leute Politik machen darf, wenn man wachsen will, wenn man das ganze Land regieren will, wenn man Volkspartei werden will.
Grüne befeuern die Polarisierung
Das Projekt einer „grünen Volkspartei“ erscheint inzwischen wie ein Traum aus lange vergangenen Zeiten. Zwar haben die Grünen zu Recht erkannt, dass das Land nach 16 bräsigen Merkel-Jahren enormen Reformbedarf hat. Doch ihre Modernisierungspolitik mit der Brechstange ist nicht mehrheitsfähig, wie sich jetzt insbesondere in den Bereichen Klimaschutz, Transgender, Verbrennermotor oder Kernenergie immer deutlicher erweist. Die Grünen wirken zunehmend ideologiegetrieben und missionarisch – was ein Indiz dafür sein könnte, dass sie das strategische Endziel einer grünen Kanzlerschaft selbst nicht mehr für erreichbar halten.
Ohnehin hat die Partei seit der für sie enttäuschenden Bundestagswahl nicht aus ihrer Frustration herausgefunden. Mit Baerbocks Spitzenkandidatur war schon deutlich geworden, dass sich nicht der pragmatische Realo-Flügel um Habeck durchgesetzt hatte, sondern die (zwischenzeitlich auch recht pragmatischen) Fundis. Und nun zeigt sich im täglichen Regierungsgeschäft, dass sie aus den strategischen Fehlern nicht lernen konnten oder wollten.
Gesellschaftlicher Krawall
Der Streit zwischen Habeck und Baerbock schwelt weiter, und mit dem Scheitern des Volkspartei-Kurses gewinnen bei den Grünen wieder ganz andere Kräfte Auftrieb. Angesagt sind nicht mehr Verbürgerlichung und eine Anschlussfähigkeit an die Mitte, vielmehr mutieren die Grünen zurück zur Guerillatruppe, die auf dem Marsch durch die Institutionen die ganze Gesellschaft verändern will. „Transformation“ heißt jetzt das Modewort ganz unverblümt, es ist eine selbstverliebte Hybris statt diskursiv-demokratischen Gestaltenwollens. Die jüngsten Projekte und Initiativen der grünen Ampel sorgen denn auch für gesellschaftlichen Krawall – und nicht dafür, dass die Gesellschaft „grüner“ wird.
Was teilweise sogar einem machttechnischen Kalkül geschuldet ist. Denn gerade die von den Grünen viel beklagte gesellschaftliche Spaltung zahlt letztlich auf ihr eigenes Konto ein: Je stärker die politischen Ränder, je stärker insbesondere die ans bürgerliche Lager nicht anschlussfähige AfD, desto wahrscheinlicher ist eine Regierungsbeteiligung der Grünen. Das gilt im Bund wie in den Ländern. Und dass die grüne Partei auch als Juniorpartnerin ihr volles Programm weitgehend durchzieht, zeigt sich etwa in Nordrhein-Westfalen.
Dort wurden höchstumstrittene „Meldestellen zu queerfeindlichen und rassistischen Vorfällen“ unterhalb der Strafbarkeitsgrenze sogar unter einem CDU-Ministerpräsidenten durchgesetzt. Denunziantentum auf Betreiben des Staates: Mit konsequenter Polarisierung legen die Grünen das Fundament für ihre Deutungshoheit. Es ist eine Art politisches Perpetuum mobile.
Bizarrer Paternalismus
So erleben die Bürgerinnen und Bürger derzeit auch in der Bundesampel
eine grüne Bastapolitik, die kraftmeierisch gegen große Teile der
Bevölkerung durchgeboxt werden soll – untermalt mit der
Überhöhungsfloskel der Weltverbesserung. „Grün wirkt“, lautete der
Slogan im Bundestagswahlkampf, und sogar aus der vermeintlichen
Niederlage beim Koalitionsausschuss im März haben die Grünen mehr
radikal-ökologischen Umbau herausgeholt, als die Liberalen und die SPD
zunächst vermutet hatten. Es gehört schlichtweg zum „progressiven“
Selbstverständnis, der trägen Gesellschaft zu zeigen, wo der grüne
Hammer hängt: Herrschaft jetzt! Triumph jetzt!
Wobei durchaus auch warnende Stimmen aus dem eigenen Lager vernehmbar sind. Baerbocks „feministische Außenpolitik“ etwa richte mehr Schaden als Nutzen an und irritiere noch dazu die internationalen Partner. Zumal die Außenministerin sich bei der Präsentation ihrer entsprechenden Agenda in bizarr-paternalistischen Ausführungen über den richtigen Standort öffentlicher Toiletten in afrikanischen Dörfern verlor. „Diesem Politikansatz fehlt jede Demut, und ohne Demut wird man nicht Kanzlerin“, sagt ein altgedienter grüner Parteistratege, der in Berlin kaum noch Gehör findet.
Vor diesem Hintergrund müssten die Grünen alarmiert sein, dass sich auch ihr Verhältnis zur Wirtschaft zunehmend eintrübt. Besonders die großen Industrieverbände und Deutschlands Dax-Unternehmen haben der Partei gegenüber viele Jahre lang großes Wohlwollen gezeigt – teilweise aus Überzeugung, häufiger aus Kalkül. BDI-Präsident Siegfried Russwurm etwa hielt es noch im vorigen Oktober während einer Rede beim Grünen-Parteitag in Bonn für angebracht, in überdeutliche Gender-Sprache zu verfallen.
In der Wirtschaft brodelt es
Tatsächlich existieren im Verhältnis der Grünen zur Wirtschaft zwei Ebenen: eine öffentliche und eine verdeckte. Verdeckt ist aufseiten der Wirtschaft ein immenser Frust; öffentlich dominiert hingegen weiterhin die Rede von Ausgleich und Annäherung. Der Industrie bleibt auch nichts anderes übrig, als sich irgendwie mit Habecks Wirtschaftsministerium zu arrangieren, ist sie doch existenziell abhängig von dem Beamtenapparat an der Berliner Invalidenstraße. Insider jedoch klagen seit Monaten über aktive Behinderung der Exportwirtschaft aus dem Ministerium heraus – eine Kritik, die freilich kaum öffentlich artikuliert wird.
Tatsächlich haben im Ministerium die Aktivisten das Ruder übernommen. Staatssekretär Patrick Graichen, zuvor Chef des Lobbyverbands Agora Energiewende, zieht nun seinen Kurs einer staatlich gelenkten Klimaschutz-Wirtschaft durch. Industrievertreter werden zu Bittstellern, sagt ein Manager aus dem Westen der Republik. Ähnlich wie Graichen agiert auch sein Staatssekretärs-Kollege Sven Giegold, der als Attac-Gründer und Kapitalismuskritiker bekannt wurde und sich in außerparlamentarischen Initiativen engagiert hat, bevor er zu den Grünen kam. Ausgerechnet Giegold arbeitet nun im Wirtschaftsministerium an einer Transformation der deutschen Industrie. Dass da marktwirtschaftliche Instrumente kritisch gesehen werden, verwundert nicht.
Die deutsche Industrie hat sich darauf eingestellt, dass sie es mit mindestens zwei grünen Lagern zu tun hat: jenes, das auf Aussöhnung mit der Wirtschaft bedacht ist und zugleich Klima- und Umweltschutz in ökonomische Prozesse integrieren will. Wie viel Zuspruch dieser Kurs in der Wirtschaft fand, lässt sich ablesen an einer Laudatio von Nicola Leibinger-Kammüller auf Baden-Württembergs grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann im Oktober vergangenen Jahres. Die Chefin des weltweit agierenden Unternehmens Trumpf warnte in ihrer Rede eindringlich davor, dass Nachhaltigkeitspolitik nicht die Wertschöpfungsketten beschädigen dürfe, und malte die Gefahr der Deindustrialisierung an die Wand. Kretschmann hingegen habe stets „ein offenes Ohr“ für die Unternehmer im Land, sei frei von Populismus und kalkulierten Tabubrüchen, so die Unternehmerin.
Wen interessieren schon Fakten?
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hingegen wird inzwischen dem Lager der „Planwirtschaftler ohne Plan“ zugerechnet, wie sogar der ansonsten durchaus Grünen-freundliche Spiegel konstatiert: Jeder zehnte Betrieb aus der Automobil-, Maschinenbau- oder Chemieindustrie will Produktion ins Ausland verlagern, und „Habecks Leute halten nicht dagegen“, sondern heizten die „Deutschland? Nein, danke“-Stimmung vielmehr noch an.
Das stößt auch den beiden Koalitionspartnern in der Bundesampel zunehmend übel auf. Die rot-gelb-grünen Flitterwochen sind ohnehin längst vorbei, aus den Reihen von SPD und FDP wird immer öfter berichtet, die Grünen seien zum nervenden Partner in dieser Ménage-à-trois geworden. Schon in den Wochen vor dem sich über Tage hinziehenden Koalitionsausschuss habe sich das Arbeitsklima zwischen Liberalen und Grünen merklich verschlechtert, erzählt ein FDP-Regierungsmann. Zumal die Grünen immer mehr Druck von ihren politischen Vorfeldorganisationen bekämen, weil sie in Sachen Klimaschutz nicht genug durchbringen würden – und die schlechte Stimmung an die Koalitionspartner weitertrügen: „Im täglichen Regierungsgeschäft wird es ungemütlicher, und es wird immer mehr getrickst“, berichtet jemand aus dem Maschinenraum der Ampel. Für den früheren Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter wiederum ist die SPD „nicht mehr natürlicher Bündnispartner“ seiner Partei, seit sie sich mit Bundeskanzler Scholz dem grünen Brachialkurs in Klima- und Wirtschaftsfragen widersetzt, um in der Wählergunst nicht noch weiter abzurutschen.
„Mehr Fortschritt wagen“, dieses Motto des rot-gelb-grünen Koalitionsvertrags klingt zunehmend hohl und in den Ohren vieler Bürger mitunter sogar bedrohlich, weil „Fortschritt“ innerhalb der Ampel offenkundig nicht nur sehr unterschiedlich definiert wird, sondern in seiner grünen Lesart mit echten ökonomischen Risiken und Zumutungen behaftet ist.
Erheblichen Sprengstoff – gesellschaftlich wie koalitionsintern – birgt auch der politische Ansatz der Grünen in Geschlechterfragen. Das Bekenntnis zu Queerness hat in der Partei, ähnlich wie das Klima-Thema, mittlerweile quasireligiöse Züge angenommen. Besonders das von ihr propagierte Selbstbestimmungsgesetz, wonach Menschen ihr Geschlecht künftig frei wählen können sollen, sorgt hinter den Kulissen der Koalition für Unmut. Denn das gesamte Projekt basiert auf einer Grenzüberschreitung, bei der offensichtliche Kontrafaktizität in Gesetzesrang erhoben wird. Wenn die grüne Bundesfamilienministerin Lisa Paus selbstbewusst dekretiert, „eine Frau ist eine Person, die sich selbst als Frau identifiziert“, öffnet das die Tür zu einer irrationalen, antiaufklärerischen Politik, die Gefühle über wissenschaftliche Tatsachen stellt – und sich auf viele andere Bereiche ausdehnen lässt.
Flucht in die Radikalisierung
Dass Transpersonen selbstverständlich keine wie auch immer geartete Diskriminierung oder Benachteiligung erfahren sollen, dürfte längst gesellschaftlicher Konsens sein. Wenn die Grünen das Thema jedoch dazu missbrauchen, um sich explizit über biologische Tatsachen hinwegzusetzen, ist höchste Vorsicht angebracht. Schließlich leiten auch militante Klimaschützer aus ihrer Behauptung der „Letzten Generation“ einen Absolutheitsanspruch ab, der Diskussion oder gar Widerspruch im Keim ersticken soll. Auf welch ein abschüssiges Terrain man sich hier begeben hat, ist inzwischen auch vielen Sozialdemokraten und FDP-Leuten klar geworden. Aber das Sujet gilt als hochgradig moralbesetzt und wird deshalb auf möglichst kleiner Flamme gekocht. Gut möglich, dass es trotzdem noch explodiert.
Seit 40 Jahren sitzen die Grünen im Bundestag, sie haben die politische Landkarte neu gezeichnet. Vieles von dem, was sie durchgesetzt haben, war notwendig. Nachdem die sozialen Folgen der Industrialisierung weitgehend bearbeitet waren, haben sie die ökologischen Folgen auf die Agenda der Politik gesetzt. Doch der Erfolg ist ihnen mächtig zu Kopf gestiegen. Zwar ist die Kompetenzzuschreibung für Umweltthemen bei den Grünen immer noch besonders hoch, doch die anderen Parteien haben aufgeholt. Die Grünen verlieren ihr Alleinstellungsmerkmal; man sieht vor lauter Grün die Grünen nicht mehr. Also flüchten sie sich in die Radikalisierung, indem die Dramatisierung der Probleme schon als Teil der Lösung verkauft wird.
Als in Deutschland vor einigen Jahren viele Schülerinnen und Schüler damit begannen, einer gewissen Greta Thunberg nachzufolgen und für das Klima zu „streiken“, war eine maximale Breite der Bevölkerung für den Klimaschutz sensibilisiert und für entsprechende politische Konzepte ansprechbar. Heute schütteln die meisten über die Klimakleber nur noch den Kopf, während Luisa Neubauer als Thunbergs deutsche Statthalterin in Lützerath gegen den Kohlekompromiss demonstriert, den ihre eigenen grünen Parteifreunde in Düsseldorf ausgehandelt haben. Die Aktivisten hatten ihr Momentum, aber sie haben es überreizt und sind nun derart fanatisiert, dass sie für die Partei nicht mehr nützlich sind.
Der Durchschnittswähler wohnt nicht in Prenzlauer Berg
Andererseits wollen die Grünen auch nicht mit den Klima-Fundamentalisten brechen. Denn sie stellen immer noch ein großes Stimmenreservoir dar und könnten am Ende eine eigene Partei gründen, wenn sie sich von Habeck & Co. nicht mehr hinreichend vertreten fühlen. Die Grünen, so analysiert es ein deutscher Ministerpräsident, der wissen muss, wovon er spricht, hätten eine verrückte Basis mit einer insgesamt vernünftigen Funktionärsschicht. Und fügt hinzu: Bei den anderen Parteien sei es eher umgekehrt. Sollte diese Diagnose halbwegs zutreffen, erklärt sich die schwelende Ampelkrise von selbst.
Eine wesentliche Säule der bündnisgrünen Erfolgsgeschichte war deren Ausgreifen in bürgerliche Milieus. Die Grünen waren auf gesellschaftlichem Durchdringungskurs, sogar die schwäbische Unternehmergattin wählte plötzlich Grün. Auch in die Wirtschaft hinein gab es zunehmend Vernetzungen, das Bild vom grünen Bürgerschreck wirkte irgendwann lächerlich. Doch damit ist es vorbei. Die Grünen sind zu einer medial gehypten Veranstaltung vermeintlich progressiver Eliten geworden – in Berlin-Mitte zu Hause, in Berlin-Spandau verhasst.
Es gab die Zeit, als alle Parteien „grüner“ werden wollten. Inzwischen hat sogar die SPD verstanden, dass ihr wichtigstes Elektorat nicht in Prenzlauer Berg wohnt, sondern in den weniger privilegierten Stadtteilen von Dortmund oder Duisburg – und in der Lüneburger Heide. Die politische Repräsentationslücke zwischen Stadt und Land, zwischen Akademikern und Handwerkern wird von den Grünen nicht mehr bewirtschaftet. Sie sprechen zwar noch die hippen, woken und öko-wohlhabenden Städter an (die manchmal auch auf dem Land wohnen), dringen aber nicht mehr in andere Gesellschaftsschichten vor. Dort wendet man sich im Gegenteil sogar merklich von der Partei ab.
Mehr Drohung als Versprechen
In gut zwei Jahren sind die nächsten – zumindest regulären – Bundestagswahlen. Ob die Grünen dann noch einmal eine Kanzlerkandidatin oder einen Kanzlerkandidaten aufstellen sollen (und wenn ja, nach welchem Verfahren), ist intern derzeit strittig. Eigentlich hatte man sich auf eine Mitgliederbefragung geeinigt. Doch wie soll so etwas ablaufen, ohne jene Zerrüttung zu offenbaren, die zwischen Annalena Baerbock und Robert Habeck noch immer herrscht?
Die völlig missratene Kanzlerkandidatenkür der Unionsparteien 2021 ist Warnung genug. Inzwischen überlegen einige grüne Spitzenleute schon, ob es nicht besser wäre, auf einen eigenen Kanzlerkandidaten zu verzichten und stattdessen mit einem „Spitzenduo“ ins Rennen zu gehen: Annalena und Robert – damit man sich nicht zwischen beiden entscheiden muss. Doch dann wiederum würden die Grünen ambitionslos erscheinen.
Folgende Prognose sei an dieser Stelle gewagt: An einem
Bundestagswahlabend im Herbst des Jahres 2025 werden die Grünen wieder
einen „Wahlerfolg“ feiern, womöglich kommen sie erstmals in ihrer
Geschichte sogar auf mehr als 15 Prozent. Echte Freude dürfte allerdings
abermals nicht aufkommen. Denn den Kanzler oder die Kanzlerin werden
sie nicht stellen – und auch die politische Mitte nicht erobert haben.
Zwar dürfte es reichen, um ihre ökologische und gebildete
Elitenkernklientel zu mobilisieren – und sich damit rein rechnerisch
wieder in einer Regierung an der SPD oder an der CDU abarbeiten zu
können. Ob jedoch die beiden Letztgenannten sich ernsthaft darauf
einlassen würden, steht in den Sternen.
Denn das grüne Fortschrittsversprechen klingt schon heute eher wie eine Drohung.
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