15 Mai 2023

Globaler Wettbewerb Erosion von Fleiß und Können – und weitere Gründe für Deutschlands Abstieg (WELT+)

Globaler Wettbewerb
Erosion von Fleiß und Können – und weitere Gründe für Deutschlands Abstieg (WELT+)
15.05.2023
Im 21. Jahrhundert müssen Ökonomien attraktiv sein, um zu prosperieren. Eigentlich hätte Deutschland gute Voraussetzungen. Aber immer neue Eingriffe führen zu steigenden Kosten und Unsicherheit. Auch die Arbeitskräfte sind ein Problem. Nicht nur ihr Mangel – Ökonomen sprechen von einer „Erosion des Fleißes“.
Die ökonomische Erfolgsformel dieser Zeit ist das Plattform-Prinzip. Unternehmen, die ihren Kunden einen attraktiven Marktplatz fürs Konsumieren und Kommunizieren bieten, ziehen immer neue Nutzer an.

Das Ganze entwickelt eine Eigendynamik und ist ein Garant für Wachstum. Auch für ganze Volkswirtschaften gewinnt der Plattform-Gedanke an Bedeutung. Länder mit einer attraktiven Wirtschaft ziehen Firmen und Talente aus aller Welt an und werden so zu einer vernetzten Super-Ökonomie.

Um zukunftsfähig zu sein, muss sich Deutschland im globalen Wettbewerb auch zu einer attraktiven Plattform entwickeln. Die jüngsten Zahlen offenbaren aber, wie schwer sich die Bundesrepublik damit tut. Sie deuten eher darauf hin, dass Europas größte Volkswirtschaft beim Kampf um Wachstum und Wohlstand zurückfällt.
Das beginnt bei der Zahl der Neugründungen größerer Betriebe. Im ersten Quartal 2023 wurden in Deutschland nur noch rund 33.100 Firmen gegründet, deren Rechtsform und Beschäftigtenzahl auf höhere wirtschaftliche Relevanz schließen lassen. Das waren 5,5 Prozent weniger als im Vorjahresquartal, wobei das Jahr 2022 insgesamt schon das schwächste in diesem Jahrhundert war.

Neue Unternehmen sind wichtig für den Strukturwandel eines Landes und als Innovationstreiber. Gibt es weniger neue Unternehmen, droht die wirtschaftliche Dynamik insgesamt zu erlahmen.

Doch nicht nur im Inland ist der Gründergeist auf dem Rückzug, auch aus dem Ausland zieht es weniger Firmen auf die Plattform Deutschland.

Im Jahr 2022 haben Investoren aus dem Ausland hierzulande nur mehr 832 Investitionsprojekte verkündet. Das war der schwächste Wert seit zehn Jahren. Verglichen mit dem Spitzenjahr 2017 ist das ein Viertel weniger.

Während Deutschland weniger ausländische Direktinvestitionen verzeichnete, konnte Frankreich einen Zuwachs vermelden: Dort wurden vergangenes Jahr 1259 Projekte angekündigt.

Den größten Sprung bei den Projekten machte Polen mit einem Plus von 30 Prozent, gefolgt von Portugal mit plus 24 Prozent und der Türkei mit plus 22 Prozent. Auch Irland und Italien legten in der Gunst der Investoren deutlich zu.

Neben hohen Steuern und Abgaben sowie der Bürokratie klagen Investoren über die teure Energie am Standort Deutschland. „Die deutsche Industrie ächzt unter hohen Stromkosten“, heißt es in einer Einschätzung von IW-Chef Michael Hüther.

Seinen Berechnungen zufolge mussten Unternehmen hierzulande im zweiten Halbjahr 2022 durchschnittlich 25 Cent für eine Kilowattstunde Strom zahlen. Die Abschaltung der letzten deutschen Kernkraftwerke im Frühjahr 2023 hat die Lage nicht besser gemacht. Kein Wunder, dass viele Betriebe und Verbände einen „Industriestrompreis“ (auch „Brückenstrompreis“ genannt) begrüßen würden.

Für den Unternehmer Sven Schmidt wäre eine solche staatliche Subvention ein weiterer Schritt in Richtung Planwirtschaft. „Der Staat ist nicht der bessere Unternehmer.“ Die Politik könne auch nicht die Zukunft vorhersagen.

Aus seiner Sicht führen immer wieder neue Eingriffe nur zu steigenden Kosten und noch mehr Unsicherheit. Schmidt fordert vielmehr grundlegende Reformen. „Neben Energie sind Bildung, Rechtssicherheit und eine effiziente Bürokratie wichtig für eine Plattform“, sagt der Unternehmer.

Als Managing Director bei der Online-Plattform Maschinensucher hat er einen guten Einblick in die deutsche Industrie. Schmidt hat beobachtet, dass hierzulande kaum noch neue Investitionen getätigt werden und viele gebrauchte Maschinen aus Deutschland nach Asien verkauft werden. Schmidt ist pessimistisch für die Plattform Deutschland, auch weil er einen Mentalitätswandel weg vom Leistungsgedanken feststellt.

Das spiegelt sich auch im Rückgang der geleisteten Arbeitsstunden. In keinem anderen Industrieland arbeiten Erwerbstätige so wenig wie in Deutschland: Im Laufe eines Jahres fallen hierzulande nur mehr 1349 Arbeitsstunden an, in der Europäischen Union sind es im Schnitt 1566 Stunden, in Japan 1607 Stunden und in den USA sogar 1791 Stunden.

Nach Anfang der 1990er-Jahre, nach der Wiedervereinigung, arbeitete der durchschnittliche deutsche Arbeitnehmer ebenfalls noch mehr als 1550 Stunden jährlich, seither ist die Arbeitszeit hierzulande fast kontinuierlich zurückgegangen.

Für Deutschland ist der Rückgang der Erwerbszeit auch insofern dramatisch, als die Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter sinkt: Jahr für Jahr gehen rund 500.000 Menschen mehr in Rente, als junge Menschen ins Erwerbsleben nachrücken.

Die Zuwanderung von Hochqualifizierten reicht bei Weitem nicht aus, um die Lücken zu schließen, zumal auch viele hochqualifizierte Deutsche das Land verlassen, um woanders ihr Glück zu suchen.

Deutschlands Nachwuchs bei den Grundfertigkeiten international abgeschlagen

Thomas Mayer, Chefökonom und Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute, spricht mit Blick auf die sinkenden Arbeitszeiten von einer „Erosion des Fleißes“. Im Grundsatz lassen sich die geringeren Arbeitszeiten durch Produktivitätssteigerungen ausgleichen. Höhere Produktivität lässt sich langfristig aber nur dann erzielen, wenn das Bildungsniveau hoch ist und hoch bleibt.

Internationale Vergleiche legen aber eher nahe, dass Deutschlands Schüler auf vielen Wissensfeldern eher mittelmäßig abschneiden. Mayer spricht, was das angeht, von einer „Erosion des Könnens“.

Grundfertigkeiten wie Lesen, Rechnen und Schreiben bröckeln, stellte gerade erst der IQB-Bildungstrend fest. Ökonom Mayer zieht Parallelen zum Italien der 1980er-Jahre, wo mangelnde Anpassung an eine sich verändernde Welt einen wirtschaftlichen Abstieg einläutete.

Um die „Plattform Deutschland“ doch noch zum Erfolgsmodell zu machen, wären beherzte Schritte vonnöten. Doch die Kapitalmärkte werden Europas größter Volkswirtschaft dafür auch nicht beliebig viel Zeit geben.

Bei der jüngsten Auktion von langlaufenden Bundeswertpapieren zeichnete sich bereits ab, dass die Akteure ungeduldiger werden: Für die 30-jährigen Bonds musste der deutsche Staat eine Rendite von 2,53 Prozent bieten, um Investoren anzulocken. Für den Bund waren die Kosten für die Kreditaufnahme damit so hoch wie seit 2013 nicht mehr.

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