07 Januar 2024

Werden Deutsche ohne Migrationshintergrund langfristig zur Minderheit? (WELT+)

Werden Deutsche ohne Migrationshintergrund langfristig zur Minderheit? (WELT+)
Von Jan Alexander Casper Redakteur Innenpolitik
Je jünger die Bevölkerungsgruppe, desto größer ist der Anteil derjenigen mit Migrationshintergrund. Lässt sich daraus folgern, dass „Bio-Deutsche“ zur Minderheit werden? Demografie-Experte Frank Swiaczny vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung erklärt, was Prognosen sicher aussagen können.

WELT: Wie sieht Deutschland bevölkerungsmäßig in 50 Jahren aus, Herr Swiaczny?

Frank Swiaczny: Das hängt stark davon ab, wie viele Menschen in Zukunft zuwandern, da in Deutschland seit den 1970er-Jahren jedes Jahr mehr Menschen sterben, als geboren werden. Bei einer niedrigen Zuwanderung von langfristig 180.000 pro Jahr würde die Bevölkerungszahl von heute 84 Millionen 2070 auf etwa 75 Millionen fallen, bei einer hohen Zuwanderung von 400.000 pro Jahr auf 90 Millionen steigen. Ohne Wanderungsgewinne würde sie sogar auf 61 Millionen zurückgehen. Die Alterung der Bevölkerung wird sich auch unter Berücksichtigung der Zuwanderung fortsetzen – allerdings dämpft die Zuwanderung den Anstieg der Alterung.

WELT: In Deutschland gilt auch: Je jünger die Bevölkerungsgruppe, desto größer ist der Anteil derjenigen mit Migrationshintergrund – in Bremen lag er bei Kindern unter sechs Jahren 2020 bei 64 Prozent. Kann man also vorhersagen: Langfristig sind Menschen ohne unmittelbaren Migrationshintergrund in Deutschland in der Minderheit?

Swiaczny: So einfach lässt sich das nicht sagen. Es ist schwierig, die Dimension Migrationshintergrund in Bevölkerungsprognosen über lange Zeiträume abzubilden – es ist schon kompliziert genug, die künftige Bevölkerungsgröße und Altersstruktur seriös vorauszuberechnen.

WELT: Warum?

Swiaczny: Weil bereits für solche Vorausberechnungen Annahmen getroffen werden müssen, die bei geringen Abweichungen über die Generationen hinweg zu großen Unsicherheitsspannen führen können. Was wir bei der Prognose tun, ist, kurz gesagt: Wir nehmen als Ausgangsposition die Bevölkerung des Jahres 2023 und fügen dann für jedes künftige Jahr die zu erwartenden Geburten hinzu und ziehen die Sterbefälle ab. Und genau das Gleiche machen wir dann noch einmal bei der Zu- und bei der Abwanderung.

Eine wichtige Annahme betrifft dabei die Geburtenrate: Wie viele Kinder bekommen 1000 Frauen in einem bestimmten Alter in einem bestimmten Jahr? Diese Raten sind über die Zeit allerdings recht stabil. Ähnlich ist es mit der Lebenserwartung.

Großen Schwankungen kann dagegen die Zuwanderung unterworfen sein: Niemand konnte den Zustrom der Syrer oder mehr als einer Million Ukrainer vorhersehen – geschweige denn, ob und wie viele dieser Menschen bleiben, ob und wie viele Kinder sie bekommen, ob diese wiederum in Deutschland bleiben. Es ist schwierig, die Annahmen in einer solchen Differenzierung angemessen in den Vorausberechnungen zu berücksichtigen.

WELT: Und würde man dazu noch weiter nach dem Migrationshintergrund der Angehörigen späterer Generationen differenzieren, das heißt nach nicht-deutscher und deutscher Staatsangehörigkeit von Eltern und ihren Kindern …

Swiaczny:  dann müsste man zusätzlich auch für jedes Jahr schätzen, wie viele Menschen etwa die Staatsbürgerschaft wechseln, oder Annahmen formulieren, ab wann in einer Kohorte noch ein Migrationshintergrund vorliegt. Und auch: Welche Personen aus welchen Gruppen weiter zu- oder wieder abwandern und so weiter. Die Aussage einer Prognose wie „Zu einem bestimmten Jahr hat eine bestimmte Anzahl an Personen einen Migrationshintergrund“ wäre aufgrund der großen Unsicherheitsspannen nicht seriös zu treffen.

WELT: Extrem komplexe Prognostik sind wir allerdings aus der Klimapolitik gewohnt – wieso nicht auch in der Demografie? Man könnte zum Beispiel die unterschiedlichen Fertilitätsraten in den Herkunftsländern von Migranten berücksichtigen und dann hochrechnen.

Swiaczny: So einfach ist es nicht. Nach Beginn der größeren Migrationsbewegung von Polen nach England etwa haben die polnischen Frauen in England im Durchschnitt mehr Kinder bekommen als polnische Frauen in Polen. Stellen Sie sich Bevölkerungsprognosen wie einen Trichter vor: Sie gehen von einem klar definierten Punkt aus – und dann wächst das Ausmaß der Unsicherheit, die mögliche Fehlerspannweite mit jeder Generation. Jede Berechnung auf Grundlage des Status quo in England damals hätte also in die Irre geführt.

WELT: Es interessiert bei der Debatte über Zuwanderung auch, wie die zukünftige Bevölkerung geprägt ist, ob es irgendwann zum Beispiel mehr Muslime als Säkulare geben könnte. Können Demografen dazu seriöse Voraussagen machen?

Swiaczny: Man müsste auch hier hochspekulative Annahmen treffen über die Veränderung der religiösen Identität in der Generationenfolge. Also: Nein. Verlässliche Vorausberechnungen basieren auf den Faktoren Geburtenrate und Lebenserwartung sowie Wanderung. Solche Prognosen liefern Bevölkerungszahlen nach Alter und Geschlecht – mehr nicht.

WELT: Können die nicht auch sehr unzuverlässig sein? Die Erfindung der Pille hat die Fertilitätsraten gesenkt, der sogenannte Pillenknick. Und migrationsauslösende Ereignisse wie der Syrien-Krieg oder Russlands Überfall auf die gesamte Ukraine lassen sich auch nicht vorhersehen.

Swiaczny: Demografen sprechen nicht vom „Pillenknick“, sondern vom zweiten demografischen Übergang, der auch mit der verbesserten Stellung der Frau in der Gesellschaft und damit einhergehender größerer Entscheidungsgewalt über die eigene Reproduktion zu tun hat. Dadurch sank die durchschnittliche Anzahl der Kinder je Frau. Wie auch schon während des ersten demografischen Übergangs – als das Fertilitäts- und Mortalitätsniveau aufgrund von verbesserter Hygiene und moderner Medizin zurückgingen.

Nach den Veränderungen der 1970er-Jahre pendelte sich die Fertilität um ein neues, niedrigeres Niveau herum ein. Die Fertilität neigt heute zu Stabilität, das trägt zusätzlich zur generellen Trägheit demografischer Prozesse bei.

Größere Unsicherheit birgt in der Tat der Faktor Wanderung: Die immer schon vorhandene Volatilität bei der Migration ist für die Prognosen ein Problem. Das betrifft vor allem die Frage, wie viele Menschen in einem bestimmten Alter zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Land leben werden. Andere Vorhersagen über die Zusammensetzung einer Bevölkerung lassen sich demografisch seriös nicht treffen.

WELT: Als Beispiel fallen einem die USA ein. Hätte man dort vor 100 Jahren hochzurechnen versucht, wie die Bevölkerung heute beschaffen ist, hätte man vielleicht eine stark katholisch geprägte Gesellschaft aus italienisch- und polnisch-stämmigen Ostküsten-Amerikanern erwartet – nicht aber einen US-Präsidenten Barack Obama vorausgesehen, einen protestantischen Christen mit Eltern aus Kansas und Kenia, geboren auf Hawaii.

Swiaczny: Und für New York City hatte man ausgerechnet, die Stadt würde bei gleichbleibendem Bevölkerungswachstum in naher Zukunft in Pferdemist ersticken. Dann kam das Automobil. Soweit zu Prognosen komplexer Systeme, wie Gesellschaften es sind.

Als Bevölkerungswissenschaftler kann ich aber sagen: Wenn wir uns auf das demografische Zusammenspiel aus Geburten, Sterbefällen und Zuwanderung beschränken, können wir, auch aufgrund der Trägheit demografischer Prozesse, relativ zuverlässige Vorhersagen über die generellen Trends zentraler Bevölkerungsgrößen treffen – immer mit der Einschränkung großer, unvorhersehbarer Migrationsbewegungen.

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