Die Deutschen, die geborenen Untertanen (WELT+)
Von Ulf Poschardt, Chefredakteur, 05.01.2024
Opportunisten sind Menschen, die sich aus Überzeugung bücken, um von Mächtigen belohnt zu werden. Unter linken Vorzeichen hat dieser Typus die deutsche Politik und Gesellschaft so geprägt, dass selbst viele Medien wie Regierungsorgane wirken. Doch nun, in der Krise, läuft seine Zeit ab.
„Diederich hatte gar keine Meinung. Er war das, was die Macht und der Augenblick aus ihm machten.“ Heinrich Mann entwarf 1914 mit „Der Untertan“ nicht nur ein Bild des geduckten wilhelminischen Bürgertums, sondern hatte eine Mentalitätsstudie der Deutschen an der Schwelle zur Moderne geschaffen. „Geschichte der öffentlichen Seele unter Wilhelm II.“ lautete der Untertitel des Manuskriptes.
In Deutschland dominiert seit 1945 die große Sorge über innere Unruhen, Risse, Streit, Spaltung. Das Post-Nazi-Deutschland sollte ein friedlicher, langer Fluss sein. Eine Mischung aus Heimatfilm und Malocherethik.
Karl-Heinz Bohrer bestaunte die gebückten Karrieristen der Bonner Republik als eine Art groß gewordener „Mainzelmännchen“. Das Land der Täter machte sich klein, statt Vergangenheitsbewältigung wurde produktiv verdrängt.
Linke und Intellektuelle machten sich über Spießer lustig und merkten nicht, wie sie selbst verspießten. Ein Kitschier wie Heinrich Böll lag rückblickend in fast allem falsch. Kitschromane wie „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ waren ebenso schrill daneben wie seine Verharmlosung des RAF-Terrors als „Krieg von 6 gegen 60 Millionen“ samt Vorschlag, Ulrike Meinhof solle freies Geleit bekommen – „Bild“-Verleger Axel Springer dagegen (in dessen Verlag auch WELT erscheint) wegen Volksverhetzung angeklagt werden.
Der Marsch durch die Institutionen machte aus den Linken Mainzelmännchen. Er war Teil einer neuen kulturellen Weltordnung im Westen, an deren Ende eine kulturelle Hegemonie linker Ideologismen entstand.
Metapolitik, wie Antonio Gramsci es nannte, war von Anfang an Machtpolitik. Heinrich Böll bereitete – wenn man so will – halbbewusst die Kanzlerkandidatur von Annalena Baerbock vor. Was mit dem Totschlagargument der politischen Korrektheit begann, wurde in der Identitätspolitik, dem Wokeism und dem Transformationsgerede doktrinär.
Der aktuelle, zeitgenössische Opportunismus passt sich der Metapolitik an. Diese Metapolitik monopolisierte in der Berliner Republik die Realpolitik.
Mit Angela Merkel hatte ausgerechnet eine moralisierende, linke Metapolitik ein ideales Ausführungsorgan, ja ein Idol. In einer Kaskade von Gefälligkeitsgesten flogen der Realpolitik seit Energiewende, Flüchtlingskrise und Corona-Maßnahmen die Herzen der Metapolitiker zu. Professoren, Künstler, die öffentlich-rechtlichen Medien (und die meisten vermeintlich linksliberalen Medien) verstanden sich als Regierungsorgane.
Sie kritisierten selten den Staat, sondern forderten ihn mehrheitlich dazu auf, härter und entschiedener zu regieren: mehr Verbote, mehr Lockdown, mehr Regulierung, mehr Steuern, mehr Umverteilung. Jede dieser Maßnahmen war auch gegen die Schar ungläubiger Thomasse gerichtet, die den metapolitischen Trends und Strukturen nicht folgen wollten.
Der Wohlstand in Deutschland gründet in jenen Schweißseen und Anstrengungsgipfeln, die von den Günstlingen des Wohlstands nun als hochproblematisch bezeichnet werden. Waren es die „alten weißen Männer“, die „fossilen Zyniker“ oder gar der „sexistisch-rassistische Kolonialismus“, die den Theoretikern von Degrowth und Critical Whiteness ihre luxuriöse Bequemlichkeit ermöglichten?
Wie eitel der postkoloniale Unsinn war, der aus der neuen, linken Denkfolklore entstand, konnte nach dem 7. Oktober an den Ivy-League-Universitäten bestaunt werden, und auch an Karrieren wie die der Quoten-Ikone Claudine Gay, die sich in nur sechs Monaten als Harvard-Präsidentin komplett blamierte. In jeder Hinsicht.
Nach Deutschland sind diese Trends auch herübergeschwappt, nur fehlt anders als in den USA die Macht der privaten Sponsoren, die nun all die antisemitischen, postkolonialen, antikapitalistischen Agenten der Metapolitik de-funden werden. In Deutschland ist der Quark weitgehend steuer- und gebührenfinanziert.
Da irritieren die aktuellen Umfragen nur teilweise. Auf eine Überzeugungstäter:in (sic!) kommen einhundert Opportunisten. Sie bücken sich aus Überzeugung, im Glauben, dass sie am Ende von den Mächtigen belohnt werden.
Das Rebellenkostüm gehört zum Opportunisten längst dazu: die Nasenringe und bunten Haare, die modischen Plateauschuhe und instagramtauglichen Schals. Ein neuer, formierter Fake-Individualismus denunziert genau das, was er sein möchte: den mündigen, widerständigen Rebellen und Individualisten.
Das Scheitern von SPD und Grünen – und leider auch eines Teils der FDP – ist ein Scheitern der Opportunisten. Der Opportunist ist ein Schönwetterkapitän, ein Leichtmatrose. Ein Lauch, wie Liberale das gerne nennen.
Mit ihm ist kein Staat zu machen. Und schon gar nicht eine Verschlankung des Staates. Er funktioniert kopfnickend und schmiegt sich an die Macht, wie das Heinrich Mann schon vor mehr als 100 Jahren so schön beschrieb.
Loyalität gibt es kaum, und schon gar keine Wehrhaftigkeit. Der Opportunist der Gegenwart sucht Safe Spaces unter Gleichgesinnten. Auf LinkedIn, dem Karrierenetzwerk, kann man studieren, wie weit dieser Metapolitik-Opportunismus längst aus den geisteswissenschaftlichen, kulturellen, zivilgesellschaftlichen Feldern in den real existierenden Kapitalismus migriert ist.
Doch: Ähnlich wie im „Untertan“ 1914 ist diese Figur eine Figur auf der Klippe, dem Absturz nahe, seine Zeit könnte vorüber sein. Die Disruptoren und Revolutionäre sind aus anderem Holz geschnitzt. Elon Musk, Peter Thiel, Javier Milei, aber auch in Europa Georgia Meloni, Konstantin Kisin und Michel Houellebecq stehen für eine neue Unbeugsamkeit gegen einen wohlstandsverwahrlosten Opportunismus, der am Ende den Feinden des Westens in die Hände spielt.
Soziale Medien wie Twitter oder Instagram, Podcasts wie die von Joe Rogan und neue Medien wie die von Bari Weiss gegründete Free Press bauen in der Mitte der Gesellschaft eine neue Überzeugungs- und Wehrhaftigkeitskultur, die nicht Anpassung oder Opportunismus befördert, sondern Mündigkeit und Eigenverantwortung.
Die Freiheit steht auf dem Spiel. Opportunisten haben kein Freiheitssensorium. Wer sich in der Regel anpasst, empfindet Verbote nicht als Verlust. Im Gegenteil, im Zweifel gibt es einen Freiheitsneid der Untertanen den Freien und Unangepassten gegenüber.
Das ist besonders in dem mächtigen und milliardenschweren vorpolitischen Raum in Deutschland prägend: ein Hass auf echte Liberale und ein Gefühl, dass die zarten eigenen moralischen Pflänzchen durch den „freien Menschen“ gefährdet sind. Eine wehrhafte Demokratie kann auf Opportunisten nicht wirklich zählen. Sie finden sich im Zweifel auch in Diktaturen zurecht.
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