07 Januar 2024

The Pioneer - Politik des Vergessens: Lügt Scholz?

Business Class Edition
Politik des Vergessens: Lügt Scholz?
Gabor Steingart, 05.01.2024
Guten Morgen,
hinter dem lateinischen Kürzel „Cum-Ex“ verbirgt sich der größte Steuerbetrug der deutschen Geschichte. Wobei Cum-Ex kein Produkt Made in Germany ist, sondern ein weltweiter Betrug, der allein Europa und die USA mindestens 150 Milliarden Euro gekostet hat. Geld aus den Steuerkassen der Staaten. Der größte Schaden ist bislang in Deutschland nachweisbar: mit über 30 Milliarden Euro.
Der heutige Bundeskanzler Olaf Scholz spielte nicht bei der Gewährung der Steuerbefreiung, wohl aber bei der laxen Aufarbeitung dieser Betrugsaffäre in seiner Heimatstadt Hamburg eine Rolle.
Fakt ist: Er war sowohl als Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg (2011 bis 2018) als auch als Bundesfinanzminister (2018 bis 2021) und erneut als Bundeskanzler (seit 2021) mit diesen Vorgängen befasst und tat für einen Menschen, der auf die Verfassung vereidigt ist („Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden werde“), erstaunlich wenig für die Aufklärung der Vorfälle.
Vielleicht liegt das auch daran: Wer Scholz sagt, will betrügen. Denn in Sachen Cum-Ex gibt es nicht den einen Olaf Scholz. Es gibt ihn fünfmal.

# Scholz 1: der Empörte

Während seiner Zeit als Bundesfinanzminister hat Scholz die Praxis von Cum-Ex öffentlich verurteilt. Ende 2019 – seine Rolle aus der Hamburger Zeit war noch nicht öffentlich geworden – ließ er sich auf einer Veranstaltung von „Transparency Deutschland“ in seiner Empörung von niemandem übertreffen:
Cum-Ex war eine Riesenschweinerei. Mir ist völlig schleierhaft, wie man das für legal oder auch nur irgendwie für legitim halten konnte.

# Scholz 2: der Vergessliche

Es war ein anderer, ein deutlich einfühlsamerer Olaf Scholz, der sich mit dem ehemaligen Chef der Hamburger Privatbank Warburg, Christian Olearius, in den Jahren 2016 und 2017 dreimal getroffen hatte. Das Thema: Die Steuer-Tricksereien der Warburg Bank und die deshalb fälligen Steuernachzahlungen. Scholz sprach hier nicht von Schweinerei, sondern zeigte sich verständnisvoll.
Das erste Treffen kam am 7. September 2016 zustande, laut den Einträgen von Olearius traf man sich um 18:45 Uhr im Büro von Scholz. In seinem Tagebuch notiert der Bankier:
"Er lässt mich spüren, dass er frühere Treffen mit mir in Erinnerung behalten hat, hört aufmerksam unseren Schilderungen zu und stellt kluge Fragen".
Und weiter:
"Ich verweise neben unserer positiven rechtlichen auch auf unsere miserable wirtschaftliche Situation. Wir bekommen nichts versprochen, erwarten, fordern das auch nicht. Jederzeit könnte ich mich melden, er erwarte das auch in dieser Angelegenheit. (...) Nach anderthalbstündigem Gespräch freundschaftlichste Verabschiedung".
Als die Tagebucheinträge von Olearius öffentlich wurden, konnte sich Scholz zunächst nicht an die Treffen erinnern, später waren es nur noch die Inhalte der Gespräche, an die er sich nicht erinnern konnte. Vor dem Untersuchungsausschuss zum Cum-Ex-Prozess in Hamburg sagte er im August 2022:
"Daran habe ich keine Erinnerung".
Die Erinnerungslücke war so groß wie der Grand Canyon. Nach Zählungen anwesender Journalisten beantwortete Scholz 29 Fragen damit, dass er sie aus Gründen mangelhafter Erinnerung nicht beantworten könne. Er schloss mit den Worten, die einem Freispruch in eigener Sache gleichkamen:
"Ich bin auch nur ein Mensch und ich finde, es wäre an der Zeit, zu sagen: Da war nix".
Im Jahr 2020 erklärte Scholz dem deutschen Bundestag:

"Ein guter Bürgermeister ist jemand, der ganz viele Gespräche führt und es ist glaube ich sehr plausibel, dass man sich nicht an jedes einzelne Gespräch erinnern kann".
Der Anwalt Scholz weiß, dass im deutschen Strafrecht sich niemand selbst belasten muss. Die Erinnerungslücke ist die eleganteste Form der Flucht aus der Verantwortung.
 
# Scholz 3: der Verdächtige

Konkret wird Scholz vorgeworfen, während seiner Zeit als Erster Bürgermeister von Hamburg Einfluss auf die Steueraffäre der Warburg Bank genommen zu haben. Der Investigativ-Journalist und Buchautor Oliver Schröm ist sich sicher, dass die Treffen zwischen Scholz und Olearius – bei denen oft auch Max Warburg zugegen war – für die Bankinhaber „in Verbindung mit einer Hoffnung“ stattfanden. Er führt weiter aus:
"Einer der Anwälte von diesen beiden Bankinhabern sagte mal: "Der Sinn der Treffen mit Olaf Scholz war, dass sich anschließend die Forderungen, die Millionenforderungen, in weiße Wölkchen auflösen sollen".
Fest steht: Genau das passierte. Es zogen weiße Wölkchen über der Warburg Bank auf. Hamburg ließ Steuernachforderungen in Höhe von 47 Millionen Euro vorsätzlich verjähren, eine weitere Steuernachforderung über 43 Millionen Euro wurde 2017 erst nach Intervention des Bundesfinanzministeriums unter Wolfgang Schäuble eingefordert. Dabei hatte Scholz zuvor an Olearius andere Signale gesendet. Im Tagebucheintrag vom 10. November 2017 heißt es:
"Ich meine, sein zurückhaltendes Verhalten so auslegen zu können, dass wir uns keine Sorgen zu machen brauchen".
Es kam anders. Vertreter der Hamburger Steuerverwaltung wurden ins Berliner Finanzministerium einbestellt. Hamburg musste die Millionen von Warburg in 2017 zurückfordern. Schäubles Ministeriale zogen durch. Im Jahr 2020 hatte Warburg nach eigenen Angaben alle Steuerforderungen vollständig zurückbezahlt.
Von einer politischen Einflussnahme will Scholz nichts wissen. Im Bundestag sagte er:
"Woran man sich erinnern kann, ist, wie man ist. Ich zum Beispiel bin so, dass es bei der Entscheidung von Finanzämtern keine politische Intervention gibt".
Eine Zeugin im Untersuchungsausschuss der Hamburger Bürgerschaft hat ihn entlastet. Im Widerspruch dazu steht die Nachricht einer anderen Hamburger Finanzbeamtin. Daniela P. soll 2016 an jenem Tag, als beschlossen wurde, bei der Warburg Bank auf die Steuernachzahlung zu verzichten, in ihr Handy getippt haben:
"Mein teuflischer Plan ist aufgegangen".
Die Bekannte fragte per WhatsApp nach:
"Also verjähren lassen?"
Daniela P.:
"Ja, wenn nicht noch etwas kommt".
Ein erleichterter Christian Olearius schrieb am selben Tag in sein Tagebuch:
"Frau P. empfiehlt, Ruhe zu bewahren. Man müsse das Entscheidungsprotokoll unterschreiben. Auch sei ja 2009 Ende des Jahres verjährt und das Risiko halbiert".
Zwei Wochen später – nachdem die Entscheidung feststand und Olearius von seinen Anwälten darüber informiert wurde – sprach der Bankier wieder mit seinem Tagebuch. Der Eintrag offenbart das enge Verhältnis zwischen Bank und Finanzbehörde:
"Frau P. habe angerufen, alle Zuständigen haben ihr Protokoll unterschrieben. Sie warnt vor Staatsanwaltschaft und Deloitte. Die seien uns nicht gewogen".
Der Banker glaubt zu wissen, wem er diese Gefälligkeit – die ihm Millionen spart und den Fiskus Millionen kostet – zu verdanken hat. Am 19. November 2019 trifft Olearius bei einer Trauerfeier im Hamburger Schauspielhaus auf Olaf Scholz. Er spricht ihn an und schreibt in sein Tagebuch:
"Hr. Bürgermeister drücke ich vor der Saaltür die Hand und sage kurz ‚danke‘.
Neben seinem Tagebuch – das als Satire-Version mittlerweile im Internet kursiert – führt Christian Olearius noch eine Dankesliste. Hinter vier Namen macht er einen Haken. Einer davon: Olaf Scholz.

# Scholz 4: der Bedrohliche

Der Bundeskanzler reagiert empfindlich, wenn er auf die Vorgänge angesprochen wird. Auf der Bundespressekonferenz im August 2022 belehrte er den Niederländer Rob Savelberg, der in Berlin unter anderem für „De Telegraaf“ schreibt und den Bundeskanzler bei einer Pressekonferenz fragte, warum er seine Einflussnahme leugne.
"Sie würden diese Tatsachenbehauptung nicht erhärten können, wenn sie müssten. Bedenken Sie das, wenn Sie so etwas sagen."

# Scholz 5: der Getriebene

Die parlamentarische Opposition im Bundestag hat das Thema mittlerweile zu ihrem gemacht. Nachdem sie im Bundestag scheiterte, einen Untersuchungsausschuss zur Aufklärung von Cum-Ex einzusetzen, wurde beim Bundesverfassungsgericht eine Klage eingereicht. Friedrich Merz und seine Fraktion wollen im Detail wissen, so steht es in der Klageschrift:
"Gab es eine politische Einflussnahme oder den Versuch dazu hinsichtlich der Steuerrückforderungen gegen die M.M. Warburg & CO Bank?"
Und:
"Welche Angaben haben der jetzige Bundeskanzler Olaf Scholz, für ihn tätige Anwälte und die von ihm geführten Behörden zu den Verfahren, Ereignissen, Treffen und Kontakten im Zusammenhang mit den Steuerrückforderungen gegen die M.M. Warburg & CO Bank gemacht und sind diese glaubhaft?"
Die drei Ampel-Parteien lehnten die Einrichtung des Untersuchungsausschusses bislang ab. Ihre Begründung: Ein Untersuchungsausschuss dürfe nur Themen bearbeiten, die in den Kompetenzbereich des Bundes fallen. Was in Hamburg passiert sei, bleibe in Hamburg.
Grünes Licht aus Karlsruhe würde für Scholz – dessen Popularität in den ersten beiden Jahren seiner Kanzlerschaft schwer gelitten hat – einen weiteren Reputationsverlust bedeuten.
Nachtrag: Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt, der wohl engste Intimus des Kanzlers, reagiert empfindlich auf kritische Medienberichterstattungen in Sachen Scholz und Cum-Ex. Nach der Veröffentlichung des Pioneer Podcasts „Die Akte Scholz“ teilte das Bundeskanzleramt gestern gegenüber The Pioneer in einem einseitigen Papier seine Sicht der Dinge mit. Die Überschrift:

"Der Fall Warburg ist längst geklärt: Kein Schaden, keine Einflussnahme, keine Widersprüche."

Wenn Sie sich selbst einen Eindruck verschaffen wollen, finden Sie hier alle drei Podcast-Folgen der Staffel „Die Akte Scholz“. – akribisch recherchiert und hochwertig produziert von Pioneer Wirtschaftsredakteurin Josy Müller. Prädikat: verstörend und erhellend zugleich. 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen