05 Januar 2024

Weltvergleich - Deutschlands erstaunlicher Hang zur Selbstüberschätzung (WELT+)

Weltvergleich -
Deutschlands erstaunlicher Hang zur Selbstüberschätzung (WELT+)
Ressortleiter Außenpolitik
Ob Klimaschutz oder Migration – die Bundesrepublik stilisiert sich gern zum Musterschüler und „Vorreiter“. Deutschland spielt in dieser Vorstellung eine große Rolle bei der Lösung der Weltprobleme. Blickt man richtig auf die globalen Dimensionen, zeigt sich, wie wichtig wir wirklich sind.
Hierzulande wird, wenn es um die Modernität der Republik geht, gern ein Wort aus dem vor-automobilen Zeitalter verwendet. Deutschland muss dann „Vorreiter“ sein. In der Herkunft des Wortes schwingt das kühne Vorangehen von Soldaten in gefährlichem Territorium mit, aber auch das selbstgefällige Stolzieren des ersten Reiters in einem Paradezug.
Ob in Energiefragen, beim Klimaschutz oder bei der Migration: In den vergangenen Jahren zeigte sich oft, manchmal offen, manchmal subtil, die Überzeugung, anderen Staaten einen Schritt voraus zu sein – und eine Schlüsselrolle bei der Lösung der Weltprobleme zu spielen.
Aber die vergangenen zwei Jahrzehnte haben gezeigt: Wer vorneweg reitet, kann auch besonders leicht den Kontakt zu den anderen verlieren und sich verirren. Ein Blick auf die Zahlen könnte helfen, das eigene Tun und dessen Bedeutung zu relativieren – und die richtigen Prioritäten zu setzen.

Ökonomie

Hier stimmt das Bild von Deutschlands Ausnahmestellung: Die Bundesrepublik ist ein ökonomischer Riese. Die Bundesrepublik ist die viertgrößte Volkswirtschaft der Erde, laut der aktuellen Schätzung des Internationalen Währungsfonds (IWF) jetzt sogar die drittgrößte, weil Japan im vergangenen Jahr überholt wurde.

Diese wirtschaftliche Bedeutung, die seit Jahrzehnten anhaltende Strahlkraft von Produkten „made in Germany“ im Ausland ist es womöglich, die Bundesregierungen dazu verführt, anderen Ländern als leuchtendes Beispiel gelten zu wollen.

Klimaschutz und Energie

Besonders deutlich wird das beim Klimaschutz und der Energiepolitik. Als Ex-Kanzlerin Angela Merkel im Juni 2011 in einer Regierungserklärung den Atomausstieg und die Energiewende begründete, schwang die Behauptung einer Art Auserwähltheit in ihrer Rede mit. „Welches Land, wenn nicht unser Land, sollte dazu die Kraft haben?“, rief sie damals in den Bundestag.

Und so begab sich das Land auf einen Weg, der in dieser Form unter den großen Industrieländern historisch ohne Vorbild war – und schaltete binnen zwölf Jahren seine Atomkraftwerke ab, obwohl diese besonders klimafreundlich Energie erzeugen.

Die meisten Länder der Welt kommen bei der Abwägung der Gefahren von Atomkraft und Klimawandel zu dem Schluss, dass die Risiken der Kernkraft vertretbar sind. Während Deutschland aussteigt, erlebt die Atomkraft derzeit weltweit eine Renaissance: In zahlreichen Ländern werden Dutzende neue Reaktoren neu gebaut oder geplant.Deutschland aber plant de facto, schnell allein mit erneuerbaren Energien die viertgrößte Volkswirtschaft der Erde betreiben. Es nimmt dabei in Kauf, dass die Strompreise steigen und die Wirtschaft hohen Belastungen ausgesetzt ist.

Dabei wird ignoriert, dass der wirtschaftliche Riese Deutschland bei der Bevölkerungszahl und beim Ausstoß von Treibhausgasen ein Zwerg ist. Mit 83 Millionen Einwohnern liegt die Bundesrepublik auf Rang 19 der bevölkerungsreichsten Länder. Der Anteil an den acht Milliarden Menschen, die derzeit auf der Erde leben, liegt bei relativ genau einem Prozent.


Das spiegelt sich auch beim deutschen Anteil an den weltweiten Treibhausgas-Emissionen wider. Dieser liegt bei 1,8 Prozent. Für ein Drittel ist allein China mit seinen 1,4 Milliarden Menschen verantwortlich, für weitere 20 Prozent die USA und Indien.

Der Schlüssel im Kampf gegen die Klimakrise liegt in diesen Ländern und in all den Schwellenländern, deren Emissionen in den kommenden Jahrzehnten noch extrem zunehmen werden. Das ist kein Persilschein für Deutschland. Aber es zeigt, dass der Fokus auf heimischen Klimaschutz hierzulande kaum in Relation zum Problem steht.

Migration

Auch in der Flüchtlingspolitik suggerierte der Duktus von Ex-Kanzlerin Merkel, dass Deutschland allein das Problem lösen könne. „Ich sage ganz einfach: Deutschland ist ein starkes Land“, sagte sie im August 2015, als die damalige Flüchtlingskrise ihren Höhepunkt erreichte. „Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das.“ Es folgte eine Aufzählung von angeblichen deutschen Ausnahmetaten: von der Wiedervereinigung bis zum Meistern der Finanzkrise.

Aber auch hier basiert die Argumentation, die in der Ampel-Koalition vor allem von der SPD und den Grünen fortgeführt wurde, oft auf fragwürdigen Annahmen. Denn die Zahl der Flüchtlinge, die in Deutschland ankommen, ist minimal im globalen Vergleich.

Die Kosten, die jene wenigen verursachen, die dank Glück, Geld und Durchsetzungskraft hier ankommen, stehen in keinem Verhältnis zum Elend der übergroßen Zahl der Flüchtlinge, die Europa fernbleiben.

Hinzu kommt, dass in Deutschland inzwischen Asylbewerber mit Einwanderern gleichgesetzt werden. Ganz aus dem Blick gerät damit, dass der Normalfall der Wanderung auf der Welt die legale Arbeitsmigration ist. Auf der Erde gibt es rund 280 Millionen Migranten, Flüchtlinge sind nur ein kleiner Teil davon.

Viele dieser Menschen machen sich aus armen Ländern auf, um durch die Arbeit im Ausland ein besseres Leben für sich und ihre Familien zu finden. Sie kommen in den deutschen Medien oft nur als ausgebeutete Arbeitssklaven vor. Aber das sind Ausnahmefälle, beileibe nicht die Regel.

Verteidigung

Einen Bereich hingegen gibt es, in dem Deutschland sich über Jahrzehnte klein gemacht hat, in dem man auf keinen Fall Vorreiter sein wollte: die Verteidigung. Die Bundesrepublik ist bis heute militärisch abhängig von den USA.

Vor dem Ukraine-Krieg war dies hierzulande vielen nicht bewusst. Auch interessierte nur wenig, dass Deutschland auf der Weltkarte der nuklearen Verteidigung inexistent ist.

In seiner „Zeitenwende“-Rede kündigte Olaf Scholz an, künftig mehr zu tun, damit Deutschland sich und seine Verbündeten schützen kann. „Wir müssen uns fragen: Welche Fähigkeiten besitzt Putins Russland, und welche Fähigkeiten brauchen wir, um dieser Bedrohung zu begegnen, heute und in der Zukunft?“, sagte er. „Klar ist: Wir müssen deutlich mehr in die Sicherheit unseres Landes investieren, um auf diese Weise unsere Freiheit und unsere Demokratie zu schützen. Das ist eine große nationale Kraftanstrengung.“

Viele Staaten im Westen atmeten auf, als Deutschland seinen Pathos nicht auf Öko-Energie und Asylzuwanderung beschränkte, sondern auch auf den Kampf zwischen Demokratie und Autokratie. Die Verbündeten hätten nichts lieber gesehen, als dass Deutschland in diesem Bereich zum Vorreiter wird.

Allerdings liegt der Anteil der deutschen Verteidigungsausgaben immer noch weit unter den angepeilten zwei Prozent der Nato – und nachhaltige Besserung ist aktuell nicht in Sicht. Zwei Jahre später ist wenig vom Elan der „Zeitenwende“ übrig: Die Bundesrepublik trottet in der Rangliste der Länder, die den größten Anteil ihres Bruttoinlandsprodukts für Rüstung ausgeben, immer noch hinterher. Vorreiter sehen anders aus.


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