Freilich
hätte es die gar nicht geben müssen. Man hätte sich einfach als
Demokraten an die bisherigen Gepflogenheiten halten und die
AfD-Kandidatin aus durchaus nachvollziehbaren Gründen durchfallen lassen
können, um dann einen Kandidaten aus dem Spektrum der etablierten
Parteien zu wählen. Dann hätte der Landtag von Thüringen etwa gegen 15
Uhr des heutigen Tages einen neuen Präsidenten oder eine neue
Präsidentin gehabt und wäre arbeitsfähig gewesen. Aber das war
ausdrücklich nicht gewollt.
Stattdessen ließ man es auf eine fundamentale Streitfrage ankommen:
Muss man erst einen Präsidenten wählen, um dann eine Geschäftsordnung
beschließen zu können, so wie es seit der Wende auch in Thüringen üblich
ist? Oder kann man auch umgekehrt vorgehen: Erst beschließt man eine
Geschäftsordnung und wählt dann einen Präsidenten? Genau um diese Frage,
die keinen einzigen Bürger Thüringens interessieren dürfte, ging es
heute im Landtag von Thüringen. Die Herren und Damen Abgeordneten saßen
im Parlament und spielten auf Steuerzahlerkosten in ihrem Sandkasten mit
ihren Eimerchen und Förmchen.
Eine Inszenierung
Ihren
vorläufigen Tiefpunkt fand die Debatte, als Andreas Bühl, der
parlamentarische Geschäftsführer der CDU, dem nach drei langen
Unterbrechungen wieder sprechenden Alterspräsidenten mehrfach ins Wort
fiel, dieser ihm daraufhin mehrfach das Wort entzog, worauf Bühl mit
neuen Einwürfen reagierte und schließlich rief: „Was Sie hier tun, ist
Machtergreifung!“
Eigentlich kann er diesen Vorwurf, der auf die „Machtergreifung“ der
Nationalsozialisten 1933 verweist, nicht wirklich ernstgemeint haben.
Der Inszenierungscharakter dieser Eskalation war allzu offensichtlich.
Eine 30-Prozent-Partei ohne willigen Koalitionspartner kann nicht im
Parlament die Macht ergreifen, indem ihr ältester Abgeordneter als
sitzungsleitender Alterspräsident stur versucht, die konstituierende
Sitzung so durchzuziehen, wie das bisher eigentlich üblich war. Wozu
bisher auch gehörte, dass die größte Fraktion – und das ist nun einmal
die AfD – einen Kandidaten für das Amt des Landtagspräsidenten zumindest
vorschlagen darf. Der eigentliche Zweck der Inszenierung war daher wohl
eher: zu demonstrieren, dass die AfD keine legitime Partei ist und dass
nur die anderen Parteien dies sind.
Unerzogene Rotzlöffel
Neben
diesem ersten Tiefpunkt der Debatte gab es dann am Nachmittag noch
einen weiteren. Nach mehreren Unterbrechungen versuchte der
Alterspräsident ein weiteres Mal, seinen Vortrag zu Ende zu bringen.
Darin erläuterte er die bisherigen Gepflogenheiten und den Inhalt der
Verfassung.
Selbst in den Passagen, die sich um
verfassungsrechtliche Fragen drehten, quatschten die Abgeordneten der
anderen Fraktionen ständig unter Zuhilfenahme offener Saalmikrofone
ungeniert dazwischen. „Ich widerspreche“, das „entspricht nicht unserer
Rechtsauffassung“ usw. usf. Das auszuführen war freilich jederzeit
legitim, aber dazu hätte man auch die Rede des Alterspräsidenten einfach
abwarten können. Stattdessen zogen es die Sprecher der anderen
Fraktionen vor, sich wie unerzogene Rotzlöffel zu benehmen und den
Alterspräsidenten ständig zu unterbrechen. Wohl noch nie hat man in
einem deutschen Parlament eine derart würdelose Veranstaltung gesehen.
Das Verfassungsgericht muss entscheiden
Weil der
Alterspräsident an seiner Rechtsauffassung festhielt – erst wird der
Präsident gewählt, dann die Geschäftsordnung abgestimmt, so wie es seit
Jahrzehnten auch im Landtag von Thüringen üblich ist –, zogen die
anderen Fraktionen die Reißleine. Sie werden jetzt vor das
Verfassungsgericht ziehen, um eine Frage zu klären, die keinen einzigen
Bürger interessieren dürfte. Die parlamentarische Demokratie Thüringens
hat sich im „Kampf gegen rechts“ in eine Krise gestürzt, die sie selbst
verursacht hat.
Dabei geht es übrigens gar nicht um die Frage, ob
das Gericht am Ende nicht vielleicht doch feststellt, dass beide Wege
rechtlich möglich seien. Das kann sein und kann auch nicht sein. Darauf
kommt es politisch nicht an. Der entscheidende Punkt ist ein anderer:
Selbst nachdem die AfD in Thüringen bei der jüngsten Wahl mit Abstand
stärkste Kraft geworden ist, haben deren Gegner noch immer nicht
verstanden, welche Stunde es geschlagen hat.
Anstatt durch gute Politik die Probleme in diesem Land zu lösen und
damit der AfD den Nährboden zu entziehen, beschäftigen sie sich
weiterhin bloß mit sich selbst. Wie abgehoben muss man eigentlich sein,
um keinerlei Kontakt mehr zum Raumschiff Erde zu besitzen? Muss denn
tatsächlich die AfD erst eine absolute Mehrheit erringen, bevor die
selbsternannten Demokraten aufwachen und endlich ihr Kindergartenspiel
beenden?
Man möchte am liebsten auswandern
Die Wirkung
auf die Bevölkerung, für die ja eigentlich diese Inszenierung gemacht
wurde, könnte daher eine ganz andere sein als die beabsichtigte. Weder
Bühl mit seinem „Machtergreifung“-Zwischenruf, noch die anderen, die den
alten Mann am Pult ungehörig ungezählte Male unterbrachen, kamen
sonderlich heroisch und würdevoll rüber. Was beim den normalen Wählern
am Ende hängen bleiben dürfte, ist wohl eher dies: Die selbsternannten
Demokraten haben sich heute als anstandslose Rüpel erwiesen und es so
der AfD ermöglicht, sich wieder einmal als Opfer zu inszenieren. Die
Rechtspartei wirkt so noch mehr als einzige echte politische
Alternative, und die anderen wirken als saft- und kraftlose
Alt-Parteien, die nur noch mit sich selbst beschäftigt sind.
Der
Chef der Thüringen-CDU, Mario Voigt, der Ministerpräsident und damit
Landesvater werden will, hat sich an diesem Tag mit der Strategie seiner
Partei jedenfalls gehörig verzockt. Er wollte zusammenführen und nicht
spalten – und hat in Wahrheit das Gegenteil erreicht. Wenn man nicht ein
Demokrat aus Überzeugung wäre, könnte man dieser Tage daher glatt an
der real existierenden Demokratie verzweifeln und aus Deutschland
auswandern.
Korrektur: In der ursprünglichen Fassung des
Artikels wurde darauf hingewiesen, dass üblicherweise
Landtagsverwaltungen in die parlamentarische Würdigung von Rechtsfragen
eingebunden sind und dies auch in diesem Fall so gewesen sein dürfte.
Diese Vermutung hat sich als unzutreffend herausgestellt. Die
Ausführungen des AfD-Alterspräsidenten entstanden allein in Abstimmung
mit der AfD-Landtagsfraktion und durch sie hinzugezogene Juristen.
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