09 September 2024

The Pioneer: Business Class Edition - Parteienstaat: Die große Ermattung

Business Class Edition
Parteienstaat: Die große Ermattung
Schlummert in der Entwicklung im Osten auch eine Chance für die Reformierung  unserer Demokratie?
In seinem jetzigen Zustand, das wird immer deutlicher, kann der alte Parteienstaat der Bundesrepublik dem Gemeinwesen keine Impulse mehr geben. Die Überwucherungen durch die Bürokratie, das still vor sich hin erodierende Bildungswesen und selbst die Deutsche Bahn reagieren seit längerem nicht mehr auf die Impulssetzung durch Politiker.
Von Gabor Steingart, 06.09.2024
Guten Morgen,
die Dramatik in der politischen Nachspielzeit ist diesmal größer als im Spiel selbst. Erkennbar tun sich SPD, FDP und Grüne schwer, das Wählervotum von Sachsen, Thüringen und der Europawahl in seiner Schonungslosigkeit für sich anzunehmen.
So feiern denn die abgestraften Würdenträger ein Festival der Ignoranz, das am Wahlabend begann und sich bei den Klausuren der Fraktionen gestern fortsetzte.
Die SPD will ihre Politik nicht ändern, nur besser erklären. Die Grünen wollen nicht die Regierung reformieren, sondern sich selbst stabilisieren. Die FDP kritisiert nicht sich, sondern wieder nur ihre Koalitionspartner.

Einige verdiente Kämpfer für die Sache der Demokratie gehen den Politikern willfährig zur Hand, indem sie verbale Schnellgerichte für widerspenstige Wähler eingerichtet haben. Wolf Biermann sagt in der Zeit:

Die, die zu feige waren in der Diktatur, rebellieren jetzt ohne Risiko gegen die Demokratie.

Die Tatsache, dass die AfD und das Bündnis von Sahra Wagenknecht in Thüringen nicht bei den Alten, sondern bei den 18- bis 24-Jährigen abräumten, nimmt Biermann vorsichtshalber nicht zur Kenntnis. So fällt nicht weiter auf, dass seine Beschuldigung infam und sein „Kampf gegen Rechts“ ein Kampf gegen die Jugend ist.

Womöglich bilden der Osten und die ostdeutsche Jugend aber nicht die Nachhut der DDR, sondern die Vorhut einer neuen Zeit. Was wäre davon zu halten, wenn die ostdeutschen Länder nicht die Peripherie einer Gesellschaft im Umbruch bilden, sondern deren Epizentrum?

Denn die Erdstöße dieser jüngsten Eruption finden wir ähnlich ausgeprägt bereits in den Niederlanden, Belgien, Spanien, Frankreich und Italien. Das Besondere ist nicht der Osten. Das Besondere ist die alte Bundesrepublik mit ihren historisch bedingten Imprägnierungen gegen das Laute und das Extreme.

Längst machen überall Anti-Parteien von sich reden, die das Unsagbare sagen, das Undenkbare denken und das Alternativlose der etablierten Politik nicht mehr akzeptieren. Womöglich erleben wir nicht nur den Untergang der Ampel, was zu verschmerzen wäre, sondern die Presswehen einer populistischen Demokratie, die herzhafter, lauter und derber, dafür aber volksnäher, im besten Fall effektiver und weniger normiert ist als das heutige Modell.

Der Vorteil: Die Werbeagenturen könnten aufhören, für die Parteien jene Unterschiede zu erfinden, die am Tag nach dem Urnengang wieder bestritten werden müssen. Das spart Kalorien, Geld und Vertrauenskapital. Diversität würde nicht mehr nur simuliert, sondern gelebt.

In dieser hoffnungsvolleren Lesart unserer Gegenwart ist die Demokratie nicht beendet, sondern fängt erst richtig an. Wir erleben dann nicht den Untergang des Abendlandes, sondern die Demokratisierung der Demokratie, das heißt die Entmachtung einer ohnehin schon ermatteten politischen Klasse, die von Zukunftsgestaltung auf Selbsterhalt umgeschaltet hat.

In seinem jetzigen Zustand, das wird immer deutlicher, kann der alte Parteienstaat der Bundesrepublik dem Gemeinwesen keine Impulse mehr geben. Die Überwucherungen durch die Bürokratie, das still vor sich hin erodierende Bildungswesen und selbst die Deutsche Bahn reagieren seit längerem nicht mehr auf die Impulssetzung durch Politiker.

Führung findet nicht statt. Was stattfindet, sind Limousinenfahrten, Reden und Statements für die Tagesschau. Aber das ist nicht das Gleiche. Es kam zum Verfall der tradierten Autoritäten, der weit über den Ansehensverlust von Olaf Scholz hinausreicht.

Der Angriff auf das Bestehende erfolgt diesmal von den politischen Rändern, die ihre Randlage nicht länger akzeptieren wollen. Wir erleben das Verschwinden von Zentralität und Homogenität.

Es gibt kein publizistisches Leitmedium mehr. Die Kirche ist heute ein Architekturmuseum mit angeschlossenem Krippenspiel. Wer Familienoberhaupt sagt, will betrügen.

Eine neue Kultur der Unterschiede, der vorgetragenen und der ausgehaltenen, kann der Demokratie neues Leben einhauchen. Die etablierte Politik sollte ihren Legitimationsverlust nicht beklagen, sondern durch neue Formen der Kommunikation und der Partizipation zu heilen versuchen.

Die Demokratisierung der Demokratie ist ein Prozess, der viele Wirtschaftsführer weniger verwundert als Scholz, Habeck und Linder. Denn die Geschäftsmodelle der Firmen müssen länger schon der Gesellschaft zur Ratifizierung vorgelegt werden, nicht mehr nur dem Aufsichtsrat.

Die Atomindustrie weiß, wovon hier die Rede ist. Ihre Akzeptanz war in Deutschland erloschen, noch bevor die gesetzlichen Laufzeiten der Kraftwerke sich dem anpassten. Es geht hier nicht darum, ob der Atomausstieg sachlich geboten war. Es ist jetzt nicht wichtig, ob die Angst der Bürger vor genveränderten Nahrungsmitteln gerechtfertigt ist. Es ist unerheblich, ob die Casino-Mentalität der Investmentbanker wirklich die Weltfinanzkrise ausgelöst hat. Es geht um die Anerkennung eines demokratischen Prinzips, das seinen Aktionsradius von den alten Kommandozentralen in die Gesellschaft verlegt.

Dieser Vorgang geschieht ohne Volksbegehren und ohne Initiativantrag auf einem Parteitag schlicht dadurch, dass sich der Souverän dem bisherigen Prinzip der Entscheidungsfindung verweigert. Oder um mit Albert Camus zu sprechen:

Was ist ein Mensch in der Revolte? Ein Mensch, der nein sagt.

Im Unterschied zu den Revolutionären vorangegangener Jahrhunderte, die Barrikaden in Brand steckten und Dynamit in den Taschen trugen, sind die neuen Aufständischen gesittet und höflich.

Scholz muss nicht die Guillotine fürchten, nur das Auslaufen seines Vertrages.

Die Ampel-Hierarchen werden nicht geteert und nicht gefedert, sondern nur abgewählt.

ARD und ZDF werden nicht gestürmt, nur ausgeschaltet. Bei den jüngeren Jahrgängen ist ihr Marktanteil tiefer gerutscht als die Umfragewerte der SPD.

Und der brave Bürger? Sollte das Neue – auch wenn es zunächst schrumpelig aussieht und merkwürdige Töne von sich gibt – nicht gleich verstoßen. „Die Stimmen der Zeit vereinigen sich zum Lärm, nicht zur Musik“, schrieb Thomas Mann in „Betrachtung eines Unpolitischen“.

Aber seine Empfehlung war nicht eine Augen und Ohren verschließende Ignoranz, sondern vorsätzliche Neugier:

Man muss die Stimmen trennen, muss sie gesondert hören, um klug aus ihnen zu werden.


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