24 Juni 2022

Der andere Blick Wer sich für normal hält, muss ein Menschenfeind sein – wie Grüne die Gesellschaft umpflügen wollen (NZZ)

Der andere Blick
Wer sich für normal hält, muss ein Menschenfeind sein – wie Grüne die Gesellschaft umpflügen wollen (NZZ)
Das Familienministerium in Berlin ist die Agitationszentrale der Grünen. Mit Gender- und Migrationspolitik soll Deutschland umgebaut werden. Gegen Kritiker geht man mit verbaler Aggression vor.
Von Eric Gujer, 24.06.2022
Robert Habeck und Annalena Baerbock heimsen zu Recht Applaus für ihre Haltung im Ukraine-Krieg ein. Ihre Politik ist konsequent, weil sie keinen Zweifel daran lässt, wer Täter und wer Opfer ist. Zugleich ist sie pragmatisch, da in der Frage der Energieversorgung keine Dogmen mehr gelten. Welch wohltuender Gegensatz zum irrlichternden Duo Scholz und Lambrecht.
Was aussenpolitisch ein Erfolg ist, wird innenpolitisch zum Risiko. Während sich alle Augen auf die Ukraine richten, treiben Grüne den gesellschaftlichen Umbau voran. Ob Genderfragen oder Migration – die ehemalige Umweltpartei konzentriert sich umso mehr auf die Identitätspolitik, als ihr die Kriegszeiten viele Kompromisse abverlangen. So ersetzt sie die ausbleibenden russischen Gaslieferungen beherzt mit Kohle und Gas vom Golf, betreibt also nüchterne Realpolitik. In Identitätsfragen hingegen polarisiert die Partei und fördert Extreme. Die Schaltzentrale der Grünen für ihr Umerziehungsprogramm ist das Ministerium für Wokeness, früher bekannt als Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Die Kriminalität arabischer Clans soll totgeschwiegen werden
Wie die Partei dabei vorgeht, illustriert die Personalie der designierten Antidiskriminierungsbeauftragten Ferda Ataman. Familienministerin Lisa Paus schlägt dem Bundestag eine Kandidatin zur Wahl vor, die Deutsche als «Kartoffeln» verunglimpft.
Diskriminierung ist gut, solange sie sich gegen die Mehrheitsgesellschaft richtet, linke Ausländerpolitiker und Aktivisten aber zufriedenstellt. Diese glauben, dass weisse Deutsche generell privilegiert sind – ob es sich um Sozialhilfeempfänger oder Multimillionäre handelt. Die Diskriminierung von Deutschen ist folglich keine Diskriminierung, sondern nur die beschleunigte Herstellung gleicher Lebensverhältnisse.
Es geht nicht um Dialog und Ausgleich, sondern um Konfrontation und Schaufensterpolitik. Die Journalistin Ataman gehört einem Verein an, der andere Journalisten an den Pranger stellte, weil diese den angeblich ausländerfeindlichen Begriff der Clan-Kriminalität benutzen.
In Deutschland soll nach dem Willen von Ataman und ihren Gesinnungsfreunden nicht berichtet werden, dass arabische Clans in Berlin und anderen Städten zu den dominierenden Kräften der Unterwelt zählen. Was nicht sein darf, kann nicht sein. Ideologie und die Zustimmung in einem rot-grünen Justemilieu sind wichtiger als Fakten.
Ginge es darum, Lösungen zu finden, statt ein Thema linkspopulistisch zu bewirtschaften, würde sich gerade das Phänomen der Clan-Kriminalität für eine differenzierte Betrachtung anbieten. Denn hier zeigt sich, wie eine kurzsichtige Ausländerpolitik gravierende gesellschaftliche Probleme schaffen kann.
Türkische und libanesische Grossfamilien nutzten in den achtziger Jahren die DDR als Tor zum Westen. Der Stasi-Staat liess sie einreisen, sofern sie unverzüglich in den Westen weiterzogen. Westberlin konnte die Migranten nicht abschieben, wäre sie aber gerne losgeworden. So erhielten die Familien eine Duldung, welche Arbeitsaufnahme, ja sogar Schulbesuch verbot und so die Familien förmlich in die Illegalität drängte. Obwohl sie nur vorläufig geduldet wurden, haben sie Deutschland nie mehr verlassen.
Die Demokratie schrumpft zur Service-Agentur für Minderheiten
Diese Migrationsgeschichte wäre ein ideales Beispiel, um zu erklären, warum die Ampelkoalition das Ausländerrecht reformiert. Geduldete Personen sollen nach fünf Jahren einen dauerhaften Status erhalten, sofern sie gut integriert sind. Das ist vernünftig, weil so unnötiges Leid vermieden wird. Der Staat muss gegen illegale Migration vorgehen, aber vier Jahre und 364 Tage sind Zeit genug, um eine Person des Landes zu verweisen.
Doch der angehenden Antidiskriminierungsbeauftragten geht es offenkundig nicht darum, zu erklären und um Verständnis zu werben. Lieber will sie skandalisieren und indoktrinieren. Wer über die lange ignorierte Migrantenkriminalität berichtet, soll mundtot gemacht werden.
Als ich vor 15 Jahren noch als Korrespondent über das Thema recherchierte, sagte mir eine Kriminalrätin im Berliner Polizeipräsidium, es werde nicht gerne gesehen, wenn sie dazu Auskunft gebe. Das widerspreche dem Bild des multikulturellen Berlin.
Multikulti existiert nicht mehr, heute heisst es Diversität. Mit gesundem Menschenverstand betrachtet, bedeutet dies nichts anderes, als die gesellschaftliche Vielfalt anzuerkennen und selbstverständlich zu leben. Rot-grünen Identitätspolitikern genügt dies nicht. Sie behaupten, wahre Diversität und Demokratie seien erst erreicht, wenn alle Menschen, weitgehend unabhängig von Herkunft und Aufenthaltsdauer mitbestimmen könnten.
Diese Vorstellung stellt das Zerrbild einer Demokratie dar, die zum Mitmachklub mutiert für alle, die gerade Lust haben, sich zu beteiligen. Der Staat wäre nur noch eine zufällige Versammlung, ohne Verbindlichkeit und ohne Pflichten. Der Einzelne hat nur noch Rechte und Ansprüche gegenüber dem Staat auf «Inklusion» und «Partizipation».
Der Gesellschaftsvertrag ist kein Vertrag mehr auf Gegenseitigkeit, sondern ein einseitiges Abkommen, in dem das Individuum seine Wünsche formuliert. Die Demokratie schrumpft zur Service-Agentur namentlich für alle jene Minderheiten, die ihre Forderungen am lautesten artikulieren.
Über medizinische Risiken muss diskutiert werden – auch wenn das einer Gender-Ideologie widerspricht
Die grenzenlose Individualisierung ist Programm bei Grünen und mit Abstrichen auch bei der FDP. Das schlägt sich im Koalitionsvertrag nieder. Er verheisst den Individuen die totale Verfügungsmacht über ihre Körper, unabhängig von gesellschaftlichen Konventionen, juristischen oder medizinischen Einwänden. So soll jede Person über 14 Jahre ihr Geschlecht durch einfache Willenserklärung ändern können, einschliesslich einer chemischen und operativen Behandlung.
Wer sich dagegen ausspricht, etwa unter Hinweis auf die Entwicklungspsychologie von Teenagern, wird in derselben wüsten Weise beschimpft, die Deutsche zu Kartoffeln herabwürdigt. Stets führt das Familienministerium, die Agitationszentrale der sonst so weltläufigen Parteivorsitzenden Habeck und Baerbock, die Kampagnen an.
Der Staatssekretär im Ministerium Sven Lehmann wetterte gegen «Homo- und Transfeindlichkeit» und «Fake News», nur weil mehrere Autoren in einem Gastbeitrag für die «Welt» darauf hingewiesen hatten, dass eine Geschlechtsumwandlung bei Pubertierenden deren Gesundheit beeinträchtigen kann. Sie warnten ausserdem vor einer die Risiken verharmlosenden Berichterstattung in den Medien.
Bei jeder anderen Behandlung ist es die juristische wie ethische Pflicht des Arztes, über mögliche Nebenwirkungen aufzuklären. Nur bei der Geschlechtsumwandlung verkehren grüne Identitätsideologen hippokratische Wahrhaftigkeit zur «gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit». Keine Fernsehwerbung für harmlose Venensalbe kommt ohne das Sprüchlein aus: «Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker». Nur bei einem irreversiblen Eingriff soll das nicht gelten.
Dabei ist noch eine ganz andere Art von Menschenfeindlichkeit denkbar: Aktivisten immunisieren eine Behandlungsmethode gegen jede Kritik. Medien verstärken das Randphänomen zum gesellschaftlichen Trend, und bedenkenlose Mediziner lassen sich nicht zweimal sagen, dass sie zum Skalpell greifen sollen. Lukrativ ist so eine Operation gewiss, und es wäre nicht das erste Mal, dass sich skrupellose Ärzte in den Dienst eines irregeleiteten Zeitgeistes stellen.
Wenn medizinische Praktiker und Wissenschafter die ebenso segensreiche wie manchmal furchteinflössende Wunderwelt der modernen Medizin hinterfragen, verdient das Respekt. Das sollte selbst dann gelten, wenn man deren Argumente nicht teilt. Wissenschaft beruht auf Rede und Gegenrede und der Bereitschaft, jede Hypothese zu falsifizieren.
Schon in der Pandemie mutierte «die» Wissenschaft allerdings zum Glaubensbekenntnis, mit dem sich Andersdenkende trefflich ausgrenzen liessen. Die Corona-Erfahrungen zeigen, dass verbale Abrüstung den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördert. Leider prallt die Erkenntnis am Panzer der Ignoranz ab, den alle begeisterten Rechthaber tragen – ob links oder rechts.
Der grünen Kampfbrigade fällt das Paradoxe ihres Tuns nicht auf. Sie fordert Toleranz und Gleichberechtigung für Minderheiten, begegnet aber allen Einwänden mit Intoleranz. Wer Lehmann oder Ataman zu widersprechen wagt, ist eine Kartoffel oder ein Menschenfeind. Das ist die Sprache von Kulturrevolutionären und nicht von Politikern, die eine Gesellschaft auf dem langen Weg der Veränderung mitnehmen wollen.
Eines ist gewiss. Wenn das Ministerium für Wokeness sein Programm verwirklicht hat, wird die Republik an einigen Stellen nicht wiederzuerkennen sein.

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