Blinder Aktionismus statt Besonnenheit (Cicero+)
Der Herbst des Jahres 2020 steckt den politisch Verantwortlichen
noch immer in den Knochen. Sie sollten sich dringend Gedanken darüber
machen, wie sie Deutschland gegen eine Neuauflage des Ausnahmezustands
wappnen wollen. Doch statt gewissenhafte Entscheidungen auf Grundlage
einer evidenzbasierten Untersuchung zu treffen, verfallen sie aufs Neue
in blinden Aktionismus.
VON RALF HANSELLE am 3. Juni 2022Wer nichts weiß, muss alles glauben. Unter diesem Motto machten sich
Bund und Länder an einem Donnerstagnachmittag im Frühling schon einmal
ausgiebig Gedanken über den kommenden Corona-Herbst. Auf dem gestrigen,
seit langem wieder in Präsenz stattfindenden Treffen der
Ministerpräsidenten der Länder mit Bundeskanzler Olaf Scholz
(SPD) verständigte man sich darauf, frühzeitig Vorkehrungen auf eine
kritische Corona-Lage in der zweiten Jahreshälfte zu treffen. Man habe
jetzt die Sommerreifen drauf, so Scholz, müsse aber die Winterreifen
bereithalten. Für alle Fälle. Falls es drauf ankommt.
Eine Vorkehrung, die sicherlich gut gemeinten Impulsen folgt. Denn noch immer steckt vielen politisch Verantwortlichen der Herbst des Jahres 2020
in den Knochen. Damals hatte man die lauen und schier endlos
erscheinenden Sommerabende tatenlos am Badestrand verplanscht, während
in der Ferne bereits eine neue Viruswelle heranrollte. Im Oktober dann
brach sie für viele unverhofft über Deutschland herein.
Evaluation ist nicht nur dringend geboten, sondern Pflicht
Das, so hieß es ein Jahr später, sollte so nie wieder geschehen. Dass es dann 2021 dennoch ein weiteres Mal geschah – und das trotz aller zu jenem Zeitpunkt bereits vollzogenen Impfkampagnen und wider jedweder Versprechen auf Besserung – war wohl vor allem dem seit je zu beobachtenden saisonalem Verlauf von akuten Atemwegserkrankungen aller Art geschuldet. Denn eines ist unter Hausärzten und Pneumologen seit je gewiss: Im nächsten Herbst kommt die nächste Welle. Das ist bei Sars-Cov-2 bis dato nicht anders gewesen, als bei H1N1 oder anderen Erkältungsviren.
Vor diesem Hintergrund ist es also durchaus sinnvoll, wenn man sich bereits beizeiten Gedanken darüber macht, wie man das aufgrund struktureller Defizite und personeller Ausdünnung bereits seit langem strapazierte deutsche Gesundheitssystem auf die Wintermonate vorbereitet. Indes müssen diese Gedanken auch zielführend sein. Und dafür wiederum sollte man wissen, welche Maßnahmen bis dato tatsächlich gewirkt haben, welche allenfalls gut gemeint und welche bei aller hehren Ziele sogar kontraproduktiv und schädlich waren.
Evaluation ist nicht nur dringend geboten, sondern Pflicht
Das, so hieß es ein Jahr später, sollte so nie wieder geschehen. Dass es dann 2021 dennoch ein weiteres Mal geschah – und das trotz aller zu jenem Zeitpunkt bereits vollzogenen Impfkampagnen und wider jedweder Versprechen auf Besserung – war wohl vor allem dem seit je zu beobachtenden saisonalem Verlauf von akuten Atemwegserkrankungen aller Art geschuldet. Denn eines ist unter Hausärzten und Pneumologen seit je gewiss: Im nächsten Herbst kommt die nächste Welle. Das ist bei Sars-Cov-2 bis dato nicht anders gewesen, als bei H1N1 oder anderen Erkältungsviren.
Vor diesem Hintergrund ist es also durchaus sinnvoll, wenn man sich bereits beizeiten Gedanken darüber macht, wie man das aufgrund struktureller Defizite und personeller Ausdünnung bereits seit langem strapazierte deutsche Gesundheitssystem auf die Wintermonate vorbereitet. Indes müssen diese Gedanken auch zielführend sein. Und dafür wiederum sollte man wissen, welche Maßnahmen bis dato tatsächlich gewirkt haben, welche allenfalls gut gemeint und welche bei aller hehren Ziele sogar kontraproduktiv und schädlich waren.
Genau aus diesem Grund hat der Gesetzgeber den Paragraph 5 Absatz 9
in das zuletzt am 20. März geänderte Infektionsschutzgesetz
hineingeschrieben. Der besagt nämlich, dass das Bundesministerium für
Gesundheit eine externe Evaluation
zu den Auswirkungen der Regelungen und Vorschriften im Rahmen der
epidemischen Lage von nationaler Tragweite und zu der Frage der
Reformbedürftigkeit beauftragt. Auch eine Frist hierfür ist im Gesetz
festgelegt: Das Ergebnis der Evaluation soll am 30. Juni der
Bundesregierung vorgelegt und am 30. September dem Bundestag übersendet
werden.
Mithin: Es ist wahrlich noch genug Zeit, um sich zu einem späteren
Zeitpunkt wirklich fundierte Gedanken darüber zu machen, wie man im
kommenden Winter dem abermaligen Ansturm der Virenlast effektiv begegnen kann.
Geduld ist eben wirklich der Seelen Schild, wie es bereits in einem
alten deutschen Sprichwort heißt. Und das barg vermutlich nie mehr
Wahrheitsgehalt als heute. Denn wie viel Schaden, besonders seelischer
Art, ist bereits angerichtet worden, weil die Politik in den letzten
zwei Jahren überstürzt zu Maßnahmen gegriffen hat, deren Nutzen kaum
bewiesen, deren früh vermutete Kontraindikation aber mittlerweile durch
zahlreiche international anerkannte Studien belegt ist.
Nun wäre Politik aber nicht Politik, lebte sie nicht primär von
oftmals hektisch gefassten Beschlüssen und von Absichtserklärungen, die
eher dem Druck prominenter Interessens- und Lobbyverbänden, denn der
harten empirischen Erkenntnis geschuldet sind. So war denn auch im
Vorfeld des gestrigen Bund-Länder-Treffens unter Vorsitz des frisch
wiedergewählten nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Wüst die
Bedrängnis groß: „Wir müssen uns darauf vorbereiten, dass im Herbst eine
neue Corona-Welle droht – möglicherweise mit einem mutierten Virus, das
noch gefährlicher sein kann", sagte
etwa der Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebunds, Gerd
Landsberg, vor dem Treffen dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Es
sei daher fahrlässig, wenn der Gesetzgeber bis dahin keine Möglichkeiten
geschaffen hätte, Maskenpflicht, Abstandsregeln und
Kontaktbeschränkungen sowie 2G- oder 3G-Regelungen einzusetzen.
Gerald Gaß wiederum, Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft,
richtete seinen Blick auf den passenden Impfstoff: Ohne zu wissen, mit
welcher Mutante oder welchem Subtyp des 2020 erstmals aufgetretenen
Sars-Cov-2-Virus wir es im Herbst zu tun haben werden, forderte er
gegenüber der Funke Mediengruppe, eine Anschaffung von „Impfstoff in
ausreichenden Mengen“. Und der Philologenverband wiederum schlug alle
Zweifel über die tatsächliche Evidenz – mithin der faktischen
Gegebenheit nach Abwägung von Nutzen und Schaden – von Masken in Schulen
in den Wind, und forderte vorsichtshalber schon jetzt eine
Wiedereinführung von Masken- und Testpflicht.
Die nächste Gesetzesänderung naht
Wie gesagt: Wer nichts weiß, muss alles glauben. Vor allem aber muss
er alles fordern. Auch unter den Ministerpräsidenten und Ministern waren
daher viele schon am gestrigen Donnerstag auf der Spur für das ganz
große Herbstmanöver. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) etwa
kündigte bereits an, Vakzinationen für alle Virusvarianten parat zu
halten und andere Kabinettsmitglieder arbeiteten schon an einer erneuten
Auffrischung für das Infektionsschutzgesetz, das in der jetzigen Form
am 23. September auslaufen soll.
Zwar kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz an, erst einmal abwarten zu
wollen, was die Empfehlungen des Expertengremiums denn nun eigentlich
genau ergäben, doch ganz glauben will man das nicht. Wer bei der
gestrigen Ministerpräsidentenkonferenz den Druck und den Eifer gespürt
hat, mit dem sich die Politik nicht einmal drei Monate nach dem
sogenannten Freedom Day in die nächste blinde Aktion hineindiskutiert,
der kann sich nur wünschen, dass die Sommerpause tatsächlich dafür
genutzt wird, um sich die internationale Studienlage zu den sogenannten Corona-Maßnahmen
einmal sehr genau und vor allem ganz gelassen anzuschauen. Vieles von
dem, was da gestern besprochen wurde, dürfte sich dann von selbst
ergeben.
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