05 Juni 2022

Ängstliche Republik – die deutsche Untergangsseligkeit trägt narzisstische Züge (NZZ)

Ängstliche Republik – die deutsche Untergangsseligkeit trägt narzisstische Züge (NZZ)
Die Deutschen pflegen derzeit ausgiebig ihre Angst vor einem dritten Weltkrieg. Aber warum sehen sie sich so gerne in der Opferrolle?
Reinhard Mohr,
«Was ist mit euch Deutschen los?», fragte mich ein Reporter der linken Tageszeitung «Libération» aus Paris. «Warum habt ihr vor allem Angst?» Es war im Spätsommer 1983, vor bald vierzig Jahren. Wir standen im Friedenscamp Mutlangen, wo die Vorbereitungen auf eine «gewaltfreie Blockade» jenes amerikanischen Waffendepots in vollem Gange waren, das die neuen atomaren Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing II beherbergen sollte. Diese hatten unter dem Label «Doppelbeschluss zur Nachrüstung» – der Bundeskanzler hiess Helmut Schmidt – eine riesige Protestwelle ausgelöst.
Als militärstrategisches Gegenstück zu den sowjetischen SS-20-Raketen repräsentierten die Pershing-II-Raketen zwar die Fortschreibung der klassischen Abschreckungslogik, wurden von vielen Kritikern aber als einseitige Bedrohung des Friedens durch den Westen wahrgenommen.
Wer die Katastrophe spürt
Im Camp gab es einen «Sprecherrat» und eine Theatergruppe, «Vertrauensübungen» und «Planspiele». Abends wurde am Lagerfeuer Gitarre gespielt, und eine junge Frau sprach für viele, als sie sagte: «Wenn ich bei der Mahnwache vor dem Atomdepot so schweigend Hand in Hand mit fünfzehn anderen dasteh – das ist ein wahnsinnig tolles Gefühl, in sich zu gehen, die ganze Katastrophe mit den Raketen zu spüren, ganz intensiv.»
Eine Mischung aus Atomgrusel und Betroffenheitskult befeuerte den Widerstand, der die unterschiedlichsten Milieus vereinte: Esoteriker und Pietisten, Pazifisten und Anarchisten, Kommunisten und Katholiken, Liberale und Linksradikale.
Über allem schwebte ein Grundgefühl, das an die Antiatombewegung der fünfziger Jahre erinnerte: Die Apokalypse, der Weltuntergang droht, und wir werden die ersten Opfer sein. Darunter machen wir Deutschen es nicht, von der Pendlerpauschale und dem dreizehnten Monatsgehalt mal abgesehen. Schon 1954 hatte Friedrich Sieburg in seinem Band «Die Lust am Untergang» festgestellt: «Es ist unglaublich, was man mit einem gut gepflegten Katastrophengefühl alles anfangen kann. Richtig zu leben ist schwer, aber zum Untergang reicht es allemal.»

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