Die Deutschen pflegen derzeit ausgiebig ihre Angst vor einem dritten
Weltkrieg. Aber warum sehen sie sich so gerne in der Opferrolle?
Reinhard Mohr,
«Was
ist mit euch Deutschen los?», fragte mich ein Reporter der linken
Tageszeitung «Libération» aus Paris. «Warum habt ihr vor allem Angst?»
Es war im Spätsommer 1983, vor bald vierzig Jahren. Wir standen im
Friedenscamp Mutlangen, wo die Vorbereitungen auf eine «gewaltfreie
Blockade» jenes amerikanischen Waffendepots in vollem Gange waren, das
die neuen atomaren Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing II beherbergen
sollte. Diese hatten unter dem Label «Doppelbeschluss zur Nachrüstung» –
der Bundeskanzler hiess Helmut Schmidt – eine riesige Protestwelle
ausgelöst.
Als
militärstrategisches Gegenstück zu den sowjetischen SS-20-Raketen
repräsentierten die Pershing-II-Raketen zwar die Fortschreibung der
klassischen Abschreckungslogik, wurden von vielen Kritikern aber als
einseitige Bedrohung des Friedens durch den Westen wahrgenommen.
Wer die Katastrophe spürt
Im
Camp gab es einen «Sprecherrat» und eine Theatergruppe,
«Vertrauensübungen» und «Planspiele». Abends wurde am Lagerfeuer Gitarre
gespielt, und eine junge Frau sprach für viele, als sie sagte: «Wenn
ich bei der Mahnwache vor dem Atomdepot so schweigend Hand in Hand mit
fünfzehn anderen
dasteh – das ist ein wahnsinnig tolles Gefühl, in sich zu gehen, die
ganze Katastrophe mit den Raketen zu spüren, ganz intensiv.»
Eine
Mischung aus Atomgrusel und Betroffenheitskult befeuerte den
Widerstand, der die unterschiedlichsten Milieus vereinte: Esoteriker und
Pietisten, Pazifisten und Anarchisten, Kommunisten und Katholiken,
Liberale und Linksradikale.
Über
allem schwebte ein Grundgefühl, das an die Antiatombewegung der
fünfziger Jahre erinnerte: Die Apokalypse, der Weltuntergang droht, und
wir werden die ersten Opfer sein. Darunter machen wir Deutschen es
nicht, von der Pendlerpauschale und dem dreizehnten Monatsgehalt mal
abgesehen. Schon 1954 hatte Friedrich Sieburg in seinem Band «Die Lust
am Untergang» festgestellt: «Es ist unglaublich, was man mit einem gut
gepflegten Katastrophengefühl alles anfangen kann. Richtig zu leben ist
schwer, aber zum Untergang reicht es allemal.»
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen