20 Juni 2022

Beschwerdeführer Marcel Luthe über den Berliner Wahl-Skandal - „Alles andere als Wahlwiederholung ist kein akzeptables Urteil“ (Cicero)

Beschwerdeführer Marcel Luthe über den Berliner Wahl-Skandal

„Alles andere als Wahlwiederholung ist kein akzeptables Urteil“ (Cicero)

Die Pannenwahl zum Berliner Abgeordnetenhaus liegt über ein halbes Jahr zurück und die Prüfung der Einsprüche dauert fort. Neue Dokumente aus den Wahllokalen offenbaren indes das Ausmaß des Fiaskos und begründen einen neuen Verdacht: Marcel Luthe, Jurist, Politiker und Beschwerdeführer vor dem Verwaltungsgerichtshof, spricht mit „Cicero“ über Wahlmanipulation, Befangenheit und den desolaten Zustand der Demokratie.
INTERVIEW MIT MARCEL LUTHE am 20. Juni 2022
Herr Luthe, nach und nach kommen immer mehr Pannen bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl ans Licht: Es kam zu massiven Verzögerungen im Ablauf, Stimmzettel fehlten oder wurden falsch ausgegeben. Welche Probleme gab es Ihrer Kenntnis nach noch?
Nun ja, die Liste ist lang: Es fehlten zum Beispiel nicht nur Stimmzettel, es wurden teils vorsätzlich falsche Stimmzettel an Wähler ausgehändigt. Dazu kommt, dass noch bis weit nach 18 Uhr, also nach dem eigentlichen Abstimmungszeitraum, in den Wahllokalen abgestimmt wurde. Nachweislich haben auch Minderjährige an der Wahl teilgenommen, weil keine Kontrolle stattfand, wer nur für die Kommunalwahl wahlberechtigt war. Ganz zu schweigen von der unsicheren Verwahrung der Stimmzettel Tage vorher und den immens langen Wartezeiten vor und in den Wahllokalen.
Nun erhärtet sich anscheinend auch der Verdacht einer Manipulation der Wahlergebnisse. Ungültige Stimmen aus dem Bezirk Kreuzberg sollen als gültig gewertet worden sein. Sie haben deswegen Strafanzeige gestellt.
Stimmen aus dem Bezirk Kreuzberg sind zunächst als ungültig gewertet worden und im Nachhinein dann wieder gültig gemacht worden, und zwar in einem Umfange, der erhebliche Auswirkungen auf das Wahlergebnis haben dürfte, zumal rund 75 Prozent der Stimmen auf die Koalition entfielen... Außerdem belegen die Niederschriften aus den Wahllokalen, dass zeitweise gemäß einer Anweisung des Bezirkswahlamts Stimmzettel aus einem anderen Wahlbezirk ausgegeben wurden. Wenn sich dieser Verdacht bewahrheitet, bedeutet das, dass eine bewusste Beeinflussung der Wahlergebnisse stattgefunden hat und dieses Vorgehen auch durch mangelhafte Protokollführung unter den Teppich gekehrt wurde. Das hätte Konsequenzen weit über Berlin hinaus. Wenn es stimmt, dass tatsächlich Wahlfälschung betrieben wurde, dann steht die Glaubwürdigkeit von Politik und Demokratie in Deutschland im In- und Ausland ganz allgemein in Frage. Deshalb ist eine schnelle und transparente Aufklärung so wichtig.
Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin hat die Entscheidung über eine mögliche Wiederholung der Wahl bis nach der Sommerpause vertagt. Es sind dort 15 Anfechtungen eingegangen, die Ihrige. Ist das führende Verfahren. Wie ist der Stand?
Der Verfassungsgerichtshof berät zunächst einmal nichtöffentlich, aber ich habe nicht den Eindruck, dass der gesamte Verfassungsgerichtshof das gleiche Aufklärungsinteresse hat. Daher habe ich auch jüngst einen Befangenheitsantrag gegen die Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs eingereicht, über den nun zunächst befunden werden muss. Danach werden wir sehen, wie es mit der Entscheidung über die Wahl von 2021 weitergeht.
Was werfen Sie denn der Präsidentin Ludgera Selting vor?
Man kann den Eindruck gewinnen, dass die von der SPD nominierte Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs die transparente, öffentliche Untersuchung der öffentlichen Wahlen – die ganz klar eben diesem Öffentlichkeitsprinzip unterliegen – nicht will, sondern voreingenommen gegen meine Anfechtung ist. Sie bestreitet aber, bestimmte Aussagen gegenüber meinen Mitarbeitern in Zusammenhang mit der Akteneinsicht getätigt zu haben. Das sehen meine Mitarbeiter anders, und das wird jetzt aufzuklären sein. Wenn das entsprechend den Aussagen meiner Mitarbeiter festgestellt wird, dann wäre die Präsidentin sicher abgelehnt und damit von der Mitwirkung an dem Verfahren ausgeschlossen. Eine Entscheidung könnte dann womöglich früher fallen, weil jemand anderes darüber zu befinden hätte, wie es in dieser Sache weitergeht. Vielleicht ist jemand anderes eher an einer schnellen Aufklärung interessiert.
Sie unterstellen der Präsidentin Befangenheit?
Ich bewerte zunächst die Aussage selbst und dann den Umstand, dass es doch auffällig ist, dass Michael Müller, Andreas Geisel und Franzi Giffey alle aus der gleichen Partei kommen, die die Gerichtspräsidentin nominiert hatte. Und das ist ja die Partei, die am meisten zu verlieren hat bei einer Wahlwiederholung.

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Für Sie ist also klar, dass parteipolitische Interessen dahinterstehen?
Das habe ich so nicht gesagt, für mich ist klar, dass es erheblich schneller gehen könnte. Ein Grund dafür könnten parteipolitische Interessen sein, aber womöglich gibt es auch ganz sachliche Gründe. Die muss man dann aber mitteilen.
Wie könnte das Verfahren ausgehen? Wird es auf eine Wiederholung der Wahl hinauslaufen?
Nach dem, was jetzt bekannt geworden ist, kann es gar nicht anders ausgehen. Der Verfassungsgerichtshof wird sich aber im laufenden Verfahren zunächst mit der Prüfung der Niederschriften aus den Wahllokalen auseinandersetzen müssen. Das sind die Dokumente, von denen auch in der Presse die Rede war. Außer mir und einigen Journalisten hatte noch niemand Einsicht in diese Protokolle.
Und was genau macht diese Protokolle so ausschlaggebend?
Diese Originalprotokolle sind die Legitimationsgrundlage für jedes Wahlergebnis, aber ich habe mir nicht vorstellen können, wie schlampig diese geführt werden! Vergleicht man dann die Niederschriften aus den einzelnen Wahllokalen mit denen der Bezirkswahlausschüsse, wo die Ergebnisse zusammengeführt werden, gibt es da erhebliche Ungereimtheiten. Das hätten die Bezirksausschüsse überprüfen müssen, offensichtlich war das nicht der Fall. Es wurden ja angeblich offiziell keine signifikanten Fehler beim Wahlablauf festgestellt.
Und nun soll der Verfassungsgerichtshof sämtliche Dokumente abgleichen und etwaige Fehler feststellen? Wieso dauert das so lange?
Das liegt daran, dass es genau ein physisches Exemplar gibt, beziehungsweise es gibt die 28.000 Seiten, verteilt auf 67 Ordner in einfacher Ausführung. Da ist nicht digitalisiert, keine Pdf-Fassung erstellt worden, gar nichts. Normalerweise bekommen Sie als Prozesspartei eine Pdf-Version der Anlagen, nicht so in diesem Fall. Und es gilt nun mal der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme.
Und der besagt was?
Das heißt, das Gericht kann die Prüfung nicht auslagern, sondern muss sie selbst vornehmen. Wir sind also, was den Stand des Verfahrens betrifft, nicht viel weiter als zu Beginn, weil es beim Ablauf diese erheblichen Verzögerungen gibt. Umso wichtiger wäre es gewesen, eine Einstweilige Regelung durch den Verfassungsgerichtshof zu erlassen, was ich beantragt hatte und nun neu beantragen werde. Im Moment ist die Situation so, dass viel dafür spricht, dass wir ein Parlament haben in Berlin, das 19. Abgeordnetenhaus, das nicht demokratisch legitimiert ist, weil es nicht aus Wahlen hervorgegangen ist, die den Ansprüchen des Bundeswahlgesetzes und damit des Artikel 38 Grundgesetz entsprechen. Wenn sich das bewahrheitet, würde es zu einer Wiederholung der Wahl zum Abgeordnetenhaus kommen müssen. Zugleich wäre immer noch das 18. Abgeordnetenhaus im Amt, denn dessen Amtszeit endet mit dem Zusammentritt des echten 19. Abgeordnetenhauses – also eines ordentlich gewählten.
Nach dem, was bislang bekannt ist, haben die Fehler rund um die Wahl mandatsrelevante Auswirkungen. Gibt es bald Neuwahlen in ganz Berlin?
Wie der Verfassungsgerichtshof hier entscheidet, kann ich natürlich nicht sagen, es ist aber, meiner Ansicht nach ausgeschlossen, dass es zu einer Wiederholung der Wahl nur in einzelnen Bezirken kommt. Die Ergebnisse wirken sich untereinander einfach zu stark auf die Gesamtverteilung der Sitze im Abgeordnetenhaus aus. Verfassungsrechtlich ist es schlicht nicht möglich, dass die Abstimmung nur partiell wiederholt wird. Allerdings wäre es unter Umständen denkbar, dass das Gericht so entscheidet, dass in den betroffenen Bezirken neu gewählt wird und in allen anderen nicht. Sollte das der Fall sein, werde ich aber vor dem Bundesverfassungsgericht Berufung einlegen.
Und wenn Sie keinen Erfolg haben und vor Gericht scheitern?
Dann regieren in Berlin womöglich weiterhin Volksvertreter, die gar nicht gewählt sind. Wenn das der Fall ist, kann man sich demokratische Wahlen wirklich schenken. Dann haben Sie die Büchse der Pandora auch in dieser Frage geöffnet. Deshalb ist alles andere als eine vollständige Wahlwiederholung für mich kein akzeptables Urteil. Wenn diese absolut begründeten Zweifel daran, dass Wahlen in Berlin im Jahr 2021 so ablaufen, wie sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes das gedacht haben, nicht ausgeräumt werden, dann nimmt diese parlamentarische Demokratie einen Schaden, der sich nicht mehr reparieren lassen wird. Schon jetzt sind Politiker die am wenigsten angesehene Berufsgruppe. Das hat Gründe. Es hat vor allem was zu tun mit erschüttertem Vertrauen. Und dieses Vertrauen werden wir alle, meine Kollegen und ich, nur dann zurückgewinnen, wenn wir auch deutlich machen, wie wichtig uns diese Werte sind.
Wie erklären Sie sich, dass eine Wahl so schlecht ablaufen kann, ohne dass es zum öffentlichen Aufschrei kommt?
Fehlendes Interesse ist das Problem. 1969 hatten wir noch eine Wahlbeteiligung von 88 oder 89 Prozent bei der Bundestagswahl. Da waren die Leute wirklich noch aktiv. Ich glaube, da hätte sich auch jeder für die Protokolle interessiert. Die Protokolle von 2021 hat man sich offensichtlich nicht einmal angesehen, da wurden einfach Sachen nicht eingetragen und hinterher hieß es dann: Oh, das wussten wir nicht, das haben wir vergessen. Der Kern ist für mich, die Tatsache, dass die Protokolle ganz offensichtlich auch seit Jahrzehnten immer schlampiger geführt worden sind. Daher haben wir jetzt solche fürchterlichen Niederschriften, bei denen alles möglich ist. Sie sind teilweise nicht unterschrieben, unvollständig, nachträglich korrigiert, das Wählerverzeichnis wurde nicht nachgehalten oder man kann sich nicht erklären, wo plötzlich Stimmzettel herkommen. Das ist mit Sicherheit nicht nur in Berlin ein Problem, sondern es hat damit zu tun, dass sich die Zuständigen, die eigentlich kontrollieren sollten, dass im demokratischen Prozess alles seine Richtigkeit hat, für diese Prozesse einfach nicht mehr interessieren.
Auch bei der gleichzeitig stattgefundenen Bundestagswahl gab es in Berlin große Probleme. Müsste diese Wahl ebenfalls wiederholt werden?
Das ist eine separate Angelegenheit. Ich bin allerdings auch Beschwerdeführer beim Wahlprüfungsausschuss des Bundestags, der sich auch mit dem – mit zwei Seiten sehr dünnen – Einspruch des Bundeswahlleiters befasst und zu gegebener Zeit diesbezüglich entscheiden muss. Das würde meines Erachtens acht der zwölf Berliner Wahlkreise betreffen. Hier geht es um die zentrale Frage, ob die Linke als Fraktion im Bundestag vertreten bleibt, was ja nur durch eines der beiden Direktmandate aus Berlin möglich war. Ich bin gespannt, wann der Wahlprüfungsausschuss sich mit meinem Einspruch befasst, der mit 400 Seiten etwas umfangreicher ist und sicherlich prüfbare Ansätze ergeben wird. Meines Erachtens brauchen die Kollegen im Bundestag dafür schlicht mehr Ressourcen – so eine Wahlprüfung kann man nicht en passant machen.
Das Gespräch führte Sophia Martus.

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