Putin ist sterbenskrank, die russische Armee am Boden – wie sich westliche Medien die Lage der Ukraine schönschreiben (NZZ)
Von Benedict Neff 10.06.2022
In Zürich wehen Ukraine-Flaggen am See. Man hat sich daran gewöhnt, geht achtlos an ihnen vorbei. Am 24. Februar haben russische Truppen die Ukraine angegriffen. Es ist schon mehr als drei Monate her. Der Schrecken war auch im Westen riesig. Wenn es Putin wagt, Kiew anzugreifen, wozu ist dieser Mann dann noch bereit? Die Zeitungen veröffentlichten Statistiken zu den Kriegsparteien. Aktive Soldaten: Russland 800 000, Ukraine 200 000. Helikopter: Russland 1543, Ukraine 112. Alle Zahlen sprachen gegen die Ukraine. Länder wie Deutschland zögerten, Waffen an Kiew zu liefern. Vielleicht auch in der Annahme, dass diesem Land ohnehin nicht mehr zu helfen sei.
Irgendwann wurden Satellitenbilder eines 64 Kilometer langen russischen Militärkonvois vor Kiew verbreitet. Das Unheil schien im Anzug. Die Kolonne kam in der ukrainischen Hauptstadt aber nie an. Stattdessen waren die Zeitungen bald voll mit Bildern von russischem Militärschrott. Panzern, zusammengeschossen, ausgebrannt oder einfach stehengelassen auf ukrainischen Strassen. Auch kursierten Videos von ukrainischen Zivilisten, die sich den russischen Invasoren mutig entgegenstellten, oft mit der Botschaft: Leute, geht nach Hause. Hier hat euch niemand gerufen.
Fiasko und Debakel
Langsam setzte sich in den westlichen Medien eine neue Erzählung durch: die einer militärischen Blamage. «Ist die russische Armee ein Papiertiger?», wurden Strategieexperten nun in Interviews gefragt. Gleichzeitig erschienen Artikel über eine klug agierende, hochmotivierte und vom Westen aufmunitionierte ukrainische Armee, die sich allmählich ihr Land zurückkämpfte. Die Bilder von Butscha – von toten Zivilisten – sorgten für internationales Entsetzen. Aber kaum jemand hätte sie noch als Zeugnisse einer Allmacht der russischen Armee gelesen. Sie waren vielmehr Zeichen ihrer totalen Verrohung und Barbarei. Die Angst vor einem möglichen Atomkrieg, die am Anfang des Krieges noch präsent war, rückte bald in den Hintergrund.
Der russische Angriffskrieg wird in den westlichen Medien fast unisono als Fiasko und Debakel dargestellt.
Diese Beschreibung ist auch richtig. Wladimir Putin hat sein Ziel, Kiew einzunehmen und die ukrainische Regierung zu beseitigen, nicht erreicht. Die russische Armee hat wahrscheinlich schon mehr als 20 000 Soldaten verloren, dazu viel militärisches Gerät, auch die westlichen Sanktionen treffen das Land hart. Allerdings scheint es, das Bild der gescheiterten russischen Armee sei in manchen Medien schon fast ins Groteske verzerrt worden.
Zwei deutsche Kriegserklärer
Ende Mai meldeten sich die zwei führenden Kriegserklärer der deutschen Medien zu Wort: Herfried Münkler und Carlo Masala. «Die Ukraine steht im Begriff, den Krieg zu verlieren», sagte Münkler in der «Welt». «Es läuft für Putin. Von daher gibt es keinen Anreiz, sich in Verhandlungen hineinzubegeben», so meldete Masala fast zeitgleich. Die beiden Voten schienen wie aus dem Nichts zu kommen. Eben noch, mussten sich manche Medienkonsumenten gedacht haben, lief der Krieg doch für die Ukrainer. Die Amerikaner verkündeten, die Ukraine könne den Krieg gewinnen. Ebenso äusserte sich der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.
Die Stellungnahmen Münklers und Masalas und ihre starke mediale Verbreitung haben die öffentliche Wahrnehmung der Kriegsverhältnisse noch einmal verändert, zumindest in Deutschland und in der Schweiz. Erstaunlicherweise wurde Masalas und Münklers Einschätzungen der militärischen Lage kaum widersprochen, als hätten alle der ukrainischen Siegeseuphorie instinktiv selbst schon misstraut. Der grüne Publizist Ralf Fücks kritisierte den pessimistischen Münkler nach einem Interview in der NZZ, aber weniger inhaltlich als methodisch: Er schaue mit «dem teilnahmslosen Blick eines Ameisenforschers» auf den Krieg.
Wunsch und Wirklichkeit
Gerade dies ist aber das Problem: Es fehlt zuweilen am Blick des Ameisenforschers. Der Wunsch, die Ukraine möge diesen Krieg gewinnen und die Invasoren vertreiben, ist mehr als begreiflich. Er zeigt sich an der Ukraine-Beflaggung in Zürich, und er durchdringt die Berichterstattung vieler Zeitungen. Meldungen, die eine Niederlage Russlands nahelegen, scheinen auch besonders gut gelesen zu werden.
Der Wunsch aber steht zuweilen der analytischen Schärfe und der ausgewogenen Darstellung der Lage in der Ukraine im Wege. «Wir sehen das, was wir sehen wollen: militärische Erfolge Kiews und eine von Hybris und Brutalität getriebene, schwächelnde Kriegsmaschine Moskaus», schrieben die Historiker Sönke Neitzel und Bastian Matteo Scianna vor wenigen Tagen in der NZZ. Wer nüchtern auf die Kriegslage zu blicken versucht, macht sich unter Umständen schon verdächtig. Als würde er damit die westlichen Werte oder den ukrainischen Abwehrwillen verraten. Anteilnahme ist jedoch kein Kriterium, um eine Situation möglichst exakt und schonungslos zu beschreiben. Oft ist sie sogar hinderlich.
Die Rede von den westlichen Werten
In der Berichterstattung vieler Medien zeigt sich, dass die ukrainische Propaganda höchst erfolgreich auf den Westen eingewirkt hat. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski wiederholt, wo er nur kann, dass sein Land die Werte der freien Welt verteidige. Damit involviert er den Westen geschickt in den Krieg: Es ist dann nicht mehr nur der Krieg der Ukrainer. Es ist unser Krieg. Dieses Framing ist nicht abwegig, immerhin kämpft hier eine Diktatur gegen eine Demokratie, und Putin testet auch den Zusammenhalt des Westens. Nüchtern betrachtet, verteidigen die Ukrainer aber ihre eigene Unabhängigkeit gegen eine Invasionsarmee: Das ist das Entscheidende – und eigentlich wäre es auch Grund genug, um die Ukraine mit aller Kraft zu unterstützen. Dass westliche Medien und Politiker die ukrainische Kommunikationsstrategie mittragen, ist nicht nötig.
Die Medienberichte zum Krieg in der Ukraine sind im Westen von dem Wunsch getragen, dass sich alles möglichst schnell wieder einrenken soll. Symptomatisch dafür steht die Politik der deutschen Sozialdemokraten. Nachdem Bundeskanzler Olaf Scholz grossspurig eine «Zeitenwende» verkündet und der Bundeswehr 100 Milliarden versprochen hat, ist er nur noch damit beschäftigt, zurückzurudern. In der Hoffnung, Deutschland liesse sich wieder verwalten wie eh und je. Während sich die Grünen der Kriegswirklichkeit stellen und ihre Politik anpassen, wünscht sich Scholz die alten Probleme zurück. Mit den neuen will er nichts zu tun haben.
Das aufgedunsene Putin-Gesicht
In die Kategorie des medialen Wunschdenkens gehören wohl auch die zahlreichen Artikel zu Putins angeblich miserabler Gesundheit. Sie erscheinen vor allem in Boulevardmedien. «Wie krank ist Putin wirklich?», titelte die deutsche «Bild»-Zeitung, oder «Zeigt dieses Video, dass Putin krank ist?». Experten für Körpersprache analysieren, wie Putin anscheinend unkontrolliert seine Füsse bewegt. Wie er sich beim Treffen mit General Schoigu krampfhaft an den Tisch klammert. Auch das aufgedunsene Putin-Gesicht wird genau studiert. Die Liste möglicher Krankheiten ist lang: Krebs, Parkinson, multiple Sklerose, Schilddrüsenerkrankung, Verlust des Augenlichts.
Die Zeiten des Oben-ohne-Jägers in der russischen Taiga scheinen tatsächlich etwas vorbei zu sein. Beweise für eine ernsthafte Erkrankung Putins wurden bisher aber nicht geliefert. Und so bleiben Voten wie die des früheren Chefs des britischen Geheimdiensts lediglich mediales Geraune. Sir Richard Dearlove sieht Putin im Jahr 2023 als permanenten Insassen eines Sanatoriums.
Blackbox ukrainische Armee
Dass die Medien über den schlechten Zustand der russischen Armee sehr viel besser informiert sind als über die ukrainische Armee, beflügelt die Phantasien über eine bevorstehende Niederlage der Russen zusätzlich. Die Datenlage zum ukrainischen Militär ist dünn. Aber auch da sterben Soldaten und geraten in Gefangenschaft. Die steten Meldungen über russische Verluste und Misserfolge scheinen dies aber etwas zu verschleiern.
Die Vorstellung, die Ukraine könne diesen Krieg gewinnen im Sinne einer Vertreibung der russischen Armee aus ihrem Land und einer kompletten Wiederherstellung des ukrainischen Territoriums, wirkt nicht realistisch. Putin braucht eine Kriegsbeute. Ausserdem scheint sich die russische Armee, obwohl sie stark geschwächt wurde, im Osten der Ukraine festzukrallen. Ein Machtwechsel zeichnet sich in Moskau nicht ab, die Opposition ist überschaubar und leise. Dass dieser Krieg ohne Gebietsabtretung an Russland enden könnte, ist schwer vorstellbar. So wenig man sich dieses Szenario wünscht.
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