Der Auftritt der staatlichen hessischen Meldestelle ist ähnlich gestaltet wie der von den zahlreichen NGO-Meldestellen. Auf einer Website kann jedermann Vorfälle melden, auch anonym. „Nach Bewertung, ob die jeweilige Meldung eine Relevanz für Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden aufweise, erfolgt die Weiterleitung an zuständige Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden“, teilt die Ministeriums-Sprecherin mit.
Auf Anfrage legt das Ministerium auch offen, wie viele Meldungen „Hessen gegen Hetze“ seit seinem Bestehen an Strafverfolger weitergeleitet hat. Im ersten Jahr, 2020, waren das noch überschaubare 659 und im Jahr darauf mit 723 nicht viel mehr. Im Jahr 2022 explodierte die Zahl auf 3644, im Jahr 2023 stieg sie rasant weiter auf 5675. Vergangenes Jahr 2024 waren es dann schon 15.162 Meldungen. Der Trend nach oben scheint sich 2025 fortzusetzen. Allein von Januar bis Mai zeigte „Hessen gegen Hetze“ in 7862 Fällen Bürger bei Strafverfolgern an.
Den privilegierten Status als „Trusted Flagger“, den die von dem grünen Politiker Klaus Müller geführte Bundesnetzagentur an inzwischen vier NGO-Meldestellen vergeben hat, besitzt „Hessen gegen Hetze“ nicht, scheint ihn als staatliche Institution aber auch nicht zu benötigen. Die Meldestelle arbeite „eng mit dem Hessischen Landeskriminalamt, der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main, dem Bundeskriminalamt und dem Landesamt für Verfassungsschutz Hessen zusammen“, teilt die Sprecherin mit.
Die Frage nach der gesetzlichen Grundlage für eine hessische Landesbehörde, Meinungsäußerungen in anderen Bundesländern zu verfolgen, beantwortet sie nur ausweichend. „Für die örtliche Zuständigkeit ergeben sich im Rahmen der Erstbefassung durch die Meldestelle lediglich nicht verifizierte Anhaltspunkte, die erst im Zuge der weiteren Ermittlungen erhoben werden“. Sprich: Es wird einfach alles eingesammelt und angezeigt und später geschaut, woher es stammt und wer zuständig sein könnte. Als „Hessen gegen Hetze“ 2020 anfing, da spielten 30 Prozent der Fälle noch in Hessen. Mit der zunehmenden Gesamtzahl schrumpfte der heimisch-hessische Anteil radikal auf nur noch vier Prozent in den Jahren ab 2023 und bis heute.
Mehrheitsmeinung unserer Gesellschaft
Besonders aufschlussreich – und verstörend – sind die Kriterien, nach denen „Hessen gegen Hetze“ vorgeht. Auf ihrer Website heißt es: „Immer mehr Menschen sind von Hass im Internet betroffen und ziehen sich lieber zurück, anstatt sich zur Wehr zu setzen. Dieser Entwicklung gilt es entgegenzuwirken, um zu verdeutlichen, dass hasserfüllte und extremistische Inhalte nicht die Mehrheitsmeinung unserer Gesellschaft abbilden.“
Wer also eine Meinung vertritt, die „nicht die Mehrheitsmeinung unserer Gesellschaft abbildet“, muss demnach mit Strafverfolgung rechnen? Die Antwort des Ministeriums auf die von WELT gestellte Frage, inwieweit eine staatliche Exekutivbehörde gegen Meinungen abseits der Mehrheit vorzugehen habe und welche rechtliche Grundlage es dafür gebe, sollte dann spätestens die Alarmglocken schrillen lassen.
Die Sprecherin schreibt dazu nämlich: „Am 2.
Juni 2019 wurde Walter Lübcke von einem Rechtsextremisten getötet. Der
Täter hat zuvor im Internet massiv Hass und Hetze verbreitet. Der
erschreckende Mord hat gezeigt, dass aus Worten Taten werden können. Die
Meldestelle ‚HessenGegenHetze‘ wurde unter anderem als Reaktion auf den
Mord durch einen Rechtsextremisten an Walter Lübcke gegründet.“
Wohlgemerkt: Das ist die Antwort auf die Frage nach der gesetzlichen Grundlage für die Arbeit des Ministeriums und der Meldestelle. Statt eine gesetzliche Ermächtigung zu benennen, instrumentalisiert das Ministerium den Mord an Walter Lübcke. Folgt man seiner Argumentation, sagt das hessische Innenministerium damit, dass jedes kritische Wort als möglicher Auftakt zu politischem Mord zu verstehen und daher zu verbieten sei. Dass die meisten bösen Worte keineswegs zu bösen Taten führen, scheint sich in Wiesbaden niemand auch nur vorstellen zu können, auch nicht, dass es in einer freiheitlichen Demokratie sinnvoll sein könnte, gerade mit einem offenen Debattenklima dazu beizutragen, dass Konflikte ausgetragen werden können und es bei Worten bleibt.
Damit ist dann auch der Kern der Affäre „Schwachkopf“ beschrieben. Eine staatliche Exekutivbehörde hat eine harmlose und legitime Meinungsäußerung zur Staatsaffäre aufgeblasen und tut so, als verhindere sie den nächsten politisch motivierten Mord, wenn sie jemanden wie den Rentner Stefan Niehoff vor Gericht zerrt. Das kann so nicht weitergehen.
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