12 Juni 2025

Jahresbericht des Verfassungsschutzes - Seismograph für eine hysterisch gewordene Gesellschaft (Cicero+)

Auch eine KI-generierte Analyse kommt zu folgendem Ergebnis:
"Zusammenfassend lässt sich festhalten: Propagandadelikte machen einen sehr hohen Anteil der extremistischen Straftaten aus, insbesondere im rechtsextremen Bereich. Im Falle von NRW waren es 78% der rechtsextremistischen Straftaten".

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ahresbericht des Verfassungsschutzes
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Seismograph für eine hysterisch gewordene Gesellschaft (Cicero+)
Der neue Verfassungsschutzbericht spricht von einem Anstieg des Rechtsextremismus und rechter Straftaten. Doch wenn man sich ansieht, wie die Zahlen zustandekommen, zeigt sich: Die Lage ist keinesfalls schlimmer geworden. Die Zunahme ergibt sich allein aus dem Bereich der Meinungsdelikte.
VON MATHIAS BRODKORB am 11. Juni 2025 7 min
Der Monat Juni gehört zuverlässig dem Inlandsgeheimdienst. Jahr für Jahr wird der Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt der Verfassungsschutzbericht für das Vorjahr präsentiert: herausgegeben vom Bundesministerium des Innern. Und seit Jahren werden die immer gleichen Botschaften präsentiert: Es gebe mehr Extremisten und noch mehr Straftaten als im Jahr zuvor.
So war es auch gestern. Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) scheint dabei vom ehemaligen Wirtschaftsminister Robert Habeck gelernt zu haben. Als dieser vor ein paar Jahren zu seiner ersten großen Pressekonferenz zur Klimabilanz der Republik eingeladen hatte, hielt er große Tafeln mit Diagrammen in die Kameras. Das sollte seinen Statements empirisches Gewicht verleihen. Alexander Dobrindt machte es ihm gestern nach.
Und tatsächlich. Seit dem Jahr 2019 hat sich die Zahl der Rechtsextremisten in Deutschland um sage und schreibe 54 Prozent auf 51.500 Personen erhöht. Die entscheidende Frage ist allerdings, wie diese Zahlen überhaupt zustande kommen.
Es handelt sich nicht um exakte Zählungen, wie man meinen könnte, sondern lediglich um grobe Schätzungen. Werden dabei Jahr für Jahr dieselben Methodiken angewandt, kann man im Zeitverlauf trotzdem ein Gefühl dafür bekommen, wie sich die Dinge entwickeln. Nur: Dazu dürfte man nicht arbiträr in die Datensätze eingreifen.
Unterteilt man die Daten in zwei Gruppen – in jene der als Rechtsextremisten geltenden AfD-Mitglieder und jene Rechtsextremisten ohne AfD-Mitgliedschaft – ergibt sich ein aufschlussreiches Bild. Dann nämlich wäre die Zahl der Rechtsextremisten seit 2019 nicht um 54 Prozent gestiegen, sondern sogar um 6 Prozent gefallen.
Man hat die Zahl der AfD-Rechtsextremisten für das Jahr 2024 pauschal auf 20.000 Personen erhöht
Besonders deutlich wäre der Rückgang vom Jahr 2021 auf das Jahr 2022 ausgefallen: Binnen nur eines Jahres wäre dann die Zahl der Rechtsextremisten von 35.300 auf 29.800 Personen und damit um 16 Prozent gesunken. Aber dazu kam es nicht. Es hätte auch nicht zur Kernthese der damaligen Innenministerin Faeser gepasst, dass vom Rechtsextremismus die größte Gefahr für die Demokratie ausgehe.
Der Verfassungsschutz machte damals einfach folgendes, um ein statistisches Kleinerwerden dieser Gefahr abzuwenden: Erstmals wurden dem amtlich erfassten rechtsextremistischen Personenpotenzial auch Mitglieder der AfD zugeschlagen – und zwar pauschal 10.000 Männer und Frauen.

Begründet wurde das damals damit, dass man so auch den rechtsextremistischen „Flügel“ unter Führung Björn Höckes abbilden wolle. Der Flügel ist zwar inzwischen aufgelöst, aber die statistischen Daten wurden nicht korrigiert. Stattdessen hat man die Zahl der AfD-Rechtsextremisten für das Jahr 2024 pauschal auf 20.000 Personen erhöht. Nur durch diese Maßnahme gibt es heute statistisch mehr Rechtsextremisten als im Jahre 2019.

Und man darf auch eine Prognose wagen: Der Verfassungsschutz wird nun Jahr für Jahr die Zahl der Rechtsextremisten aus der AfD in seiner Statistik anheben. Das hat nicht nur den Vorteil, dass man so weiterhin eine immer größer werdende Gefahr beschwören kann. Alles andere wäre auch unlogisch, da sich der Verfassungsschutz dazu entschlossen hat, die AfD als Gesamtpartei für gesichert extremistisch zu halten. Inzwischen hat die Partei mehr als 50.000 Mitglieder. Es ist noch reichlich statistische Luft nach oben.

Nicht viel anders verhält es sich mit dem zweiten Aufregerthema des Verfassungsschutzberichtes, der politisch motivierten Kriminalität. Allein von 2023 auf 2024 nahm die Zahl der Straftaten mit rechtsextremistisch motiviertem Hintergrund um 47 Prozent zu und jene mit linksextremistischem Hintergrund immerhin um 38 Prozent. Wenn das immer so weitergeht, wird die Republik wohl irgendwann im Chaos versinken.

Lange Zeit wurden antisemitische Straftaten, deren Urheber nicht bekannt waren, einfach der PMK-rechts zugeordnet

Aber auch bei dieser Statistik kommt alles auf die Details an. Unter den 37.835 Straftaten von rechts finden sich zu mehr als 90 Prozent Propagandadelikte sowie Vergehen wie Volksverhetzung und Beleidigung. Wenn man bedenkt, wie sehr sich in den letzten Jahren die Beurteilungsmaßstäbe dafür verschoben haben, was als Beleidigung oder Volksverhetzung gilt, darf man den rapiden Anstieg der Statistik zu erheblichen Teilen für ein Artefakt halten. Mehr als die Hälfte aller Straftaten von rechts entfällt auf das Phänomen „Propagandadelikte“, und allein dieses Segment verzeichnete binnen eines Jahres einen Zuwachs von über 60 Prozent. Schon dies erklärt fast vollständig die regelrechte Explosion der Straftaten von rechts insgesamt.

Das liegt schon an der Art und Weise, wie die Statistik für politisch motivierte Kriminalität (PMK) entsteht. Vermerkt werden dort nicht etwa von Gerichten festgestellte Straftaten. Die PMK ist vielmehr eine sogenannte „Eingangsstatistik“: „Das heißt, dass die PMK alle bei den Polizeibehörden eingegangenen Anzeigen erfasst, bei denen man zum Zeitpunkt des Eingangs der Anzeige von einer politisch motivierten Straftat ausgeht.“

Es steht also gar nicht fest, dass es hinter den in die Statistik eingehenden Daten tatsächlich Straftaten stecken. Die PMK gibt nur wieder, was der jeweilige Beamte vermutet. Das betrifft auch jene Frage, welchem politischen Spektrum eine mögliche Straftat zuzuordnen sei. Lange Zeit wurden zum Beispiel antisemitische Straftaten, deren Urheber nicht bekannt waren, einfach der PMK-rechts zugeordnet. Als könnten nicht auch Islamisten Antisemiten sein.
Führt man sich all diese Unsicherheiten vor Augen, entpuppt sich die PMK als eine Vermutungsstatistik. Zumindest im Bereich der „weichen Delikte“ kann sie daher auch als Seismograph für eine hysterisch gewordene Gesellschaft interpretiert werden. Auszuschließen ist das methodisch jedenfalls nicht. Nur knapp drei Prozent aller Straftaten von rechts werden in der Kriminalstatistik als Gewaltdelikte geführt. Sie nahmen gegenüber 2023 von 1148 auf 1281 Fälle zu.

Botschaft: Man wird die Sicherheitsbehörden noch weiter ausbauen müssen

Im linksextremistischen Spektrum wurden für das Jahr 2024 insgesamt „nur“ 5857 Straftaten registriert – also etwa nur ein Sechstel des Wertes von rechts. Die Gründe hierfür sind schnell ausgemacht. Von rechts wurden im Jahr 2024 24.177 Propagandadelikte registriert, von links 140. Von rechts wurden 10.036 Delikte wie Volksverhetzung und Beleidigung registriert, von links 1877. Konzentriert man sich beim Vergleich der Daten auf die Gewalttaten, schrumpft der Abstand zwischen links und rechts zusammen: auf 532 Taten von links (Tendenz stark fallend) zu 1281 Fällen von rechts (Tendenz leicht steigend).

Unter Einschluss auch der religiös motivierten extremistischen Gewalttaten ergibt sich für Deutschland damit ein eindeutiges Bild: Die Lage ist keinesfalls schlimmer geworden, sondern ziemlich stabil. Die Dynamik des Geschehens, die Innenminister Dobrindt auf der gestrigen Pressekonferenz mit so eindrucksvollen Diagrammen untermalte, ergibt sich allein aus dem Bereich verbaler bzw. Meinungsdelikte.

Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass die eigentlichen Probleme dieses Landes politisch zu lösen wären. Schlechte Politik erzeugt Unmut, und Menschen schlagen dann mitunter auch verbal über die Stränge. Das ist nicht immer schön, aber auch keine Überraschung. Innenminister Dobrindt kündigte stattdessen an, die Bekämpfung des Extremismus – wieder einmal – durch Aufstockung von Personal und Finanzen in den Sicherheitsbehörden intensivieren zu wollen.  

Im Juni des Jahres 2026 wird der staunenden Öffentlichkeit der nächste Verfassungsschutzbericht präsentiert werden. Man darf schon heute prognostizieren, was dessen Hauptbotschaft sein wird: noch mehr Extremisten, noch mehr Straftaten. Und deshalb wird man die Sicherheitsbehörden noch weiter ausbauen müssen.

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