Wie verfassungsfeindlich wäre demnach die Union? (Cicero+)
„Massenmigration führt zu massenhaftem Analphabetismus, höheren Krankenkassenbeiträgen, verschärftem Lehrermangel, Wohnungsnotstand, höherer Kriminalität, mehr Morden & Vergewaltigungen, höheren Steuern. Massenabschiebungen führen ins Gegenteil.“
Der Verfassungsschutz ordnete diese Aussage wie folgt ein:
„In der Gesamtschau sind die Äußerungen des Bundesverbands der AfD und ihres Bundessschriftführers geeignet, Migrantinnen und Migranten als Hauptursache für Unsicherheit, Kriminalität und wirtschaftliche Nachteile darzustellen. Sie suggerieren, das Land werde sicherer und ökonomisch erfolgreicher, wenn Migrantinnen und Migranten massenweise in ihre Herkunftsländer abgeschoben würden, und zielen insofern darauf ab, Ablehnung gegenüber dieser Gruppe hervorzurufen und sie als Menschen zweiter Klasse abzuwerten.“
Das Wort „Gesamtschau“ ist hier entscheidend. Das meint in etwa: Eigentlich ist die zitierte Äußerung verfassungsschutzrechtlich unerheblich. Aber da sich die Zahl der verfassungsschutzrechtlich unerheblichen Äußerungen bei der AfD häuft, könne und müsse man sie nach einer „Gesamtschau“ dennoch als verfassungsfeindlich einstufen. Man nennt das in der Fachliteratur auch die „Mosaiktheorie“. Nicht die einzelnen Steinchen sind demnach das Problem, sondern das Gesamtbild, das sich aus ihnen ergibt.
Der Verfassungsschutzrechtler Dietrich Murswiek hat auf die methodische Haltlosigkeit dieser Argumentation schon vor Jahren hingewiesen – offenkundig erfolglos: „Logisch ist ausgeschlossen, aus einer Vielzahl für sich genommen inhaltlich unproblematischer (weil keine verfassungsfeindliche Zielsetzung zum Ausdruck bringender) Äußerungen in einer ‚Gesamtschau‘ eine inhaltlich verfassungsfeindliche Position zu entwickeln. Aus nichts folgt nichts.“
Wortwörtlich die VS-Argumentation
Genau diese Haltlosigkeit überträgt der „Gutachter“ der AfD nun auf die Unionsparteien. Dabei zitiert er zunächst mehrere Äußerungen verschiedener Unionspolitiker.
Horst Seehofer sagte zum Beispiel einmal auf einer Aschermittwochsveranstaltung:
„Wir werden uns gegen Zuwanderung in deutsche Sozialsysteme wehren – bis zur letzten Patrone.“
Und Markus Söder:
„Wir dürfen keine illegale und unkontrollierte Zuwanderung zulassen.“
Und dann erneut Horst Seehofer im Jahre 2018:
„Aber die Migrationsfrage ist die Mutter aller politischen Probleme in diesem Land. Das sage ich seit drei Jahren.“
In seiner „Gesamtschau“ kommt der „Gutachter“ der AfD dann zu folgendem Ergebnis – und übernimmt dabei großflächig wortwörtlich die Argumentation des Verfassungsschutzes im Fall Hohloch (hier kursiv):
„Die Aussage suggeriert, das Land werde sicherer und ökonomisch erfolgreicher, wenn Migrantinnen und Migranten nicht im Land wären und zielt insofern darauf ab, Ablehnung gegenüber dieser Gruppe hervorzurufen und sie als Menschen zweiter Klasse abzuwerten. Die Äußerung ist überdies geeignet, massive Ablehnung gegenüber Personen mit Migrationsgeschichte hervorzurufen, da sie als gewichtige, wenn nicht gar ausschließliche Ursache für Missstände empfunden werden sollen.“
Notabene: Natürlich stammt auch der zweite, hier nicht unterstrichene Satz aus dem AfD-Gutachten des Verfassungsschutzes. Es ging dabei um denselben Sachzusammenhang.
Die christlich geprägte Leitkultur
Besonders ulkig wird dieses Verfahren, wenn es um die auch christlich geprägte „Leitkultur“ geht. So zitiert der Verfassungsschutz in seinem Gutachten aus dem Wahlprogramm der AfD Hessens des Jahres 2023:
„Deutsche Leitkultur statt Multikulturalismus - (…) Der immer weiter ausartende Multikulturalismus bedroht unsere kulturellen Eigenschaften (z. B. Aufklärung, Gleichberechtigung von Mann und Frau, freie Religionsausübung). (…) Die AfD Hessen setzt sich gemeinsam mit der Bevölkerung für den Erhalt der deutschen kulturellen Identität als Leitkultur ein. (…) Deutschland ist unsere Heimat und hat eine eigene, gewachsene Kultur, auf die wir stolz sind. Ihr Vorrang ist von Zuwanderern anzuerkennen. Eine soziokulturelle Kernschmelze mit und durch Parallel- und Gegengesellschaften in unserem Land ist zu verhindern. (…) Es gibt bei Migranten Unterschiede in der Fähigkeit und/oder in der Bereitschaft zur Integration oder gar zur Assimilation je nach Herkunft bzw. kultureller Prägung.“
Der Verfassungsschutz kommt daraufhin zu folgendem Ergebnis:
„Die Forderung nach einer ‚Leitkultur’ stellt für sich genommen keinen Anhaltspunkt für verfassungsfeindliche Bestrebungen dar, da der Begriff bereits seinem Wortlaut nach und entsprechend der gesamtgesellschaftlichen Verwendung nur auf einen allgemeingültigen Wertekonsens abstellt. Jedoch wird hier deutlich, dass eben nicht nur eine solche generelle Orientierung an kulturellen Kernelementen gemeint ist, sondern eine vollständige Assimilation von Zuwanderern bezweckt wird. Gleichzeitig wird in dem Wahlprogramm pauschal bestimmten Bevölkerungsgruppen die Fähigkeit hierzu abgesprochen und eine multikulturelle Gesellschaft gänzlich abgelehnt. Die in Bezug genommene deutsche Kultur soll demnach nicht bloß ein Leitbild, sondern die einzige akzeptierte Kultur sein.“
Nun könnte man an dieser Schlussfolgerung Vieles diskutieren. Zum Beispiel wird damit behauptet, die Ablehnung einer multikulturellen Gesellschaft sei verfassungsfeindlich. Dazu allerdings müsste das Gebot zur Multikulturalität in der Verfassung selbst enthalten sein oder unmittelbar aus ihrem Kern folgen: Weder das eine noch das andere ist der Fall. Aber konzentrieren wir uns auf die Übertragung dieser „Argumentation“ auf die Unionsparteien. Der „Gutachter“ der AfD zitiert zu diesem Zweck das Grundsatzprogramm der CDU wie folgt (hier ausnahmsweise mit Kürzungen gegenüber dem „Gutachten“):
„Mut zur Leitkultur! Wir wollen eine Gesellschaft, die zusammenhält. Alle, die hier leben wollen, müssen unsere Leitkultur ohne Wenn und Aber anerkennen. (…) Nur wer sich zu unserer Leitkultur und damit auch zu unseren Werten bekennt, kann sich integrieren und deutscher Staatsbürger werden. (…) Je vielfältiger und pluraler eine Gesellschaft ist, desto mehr bedarf sie eines einigenden Bandes, das diejenigen miteinander verbindet, die in ein und demselben Land leben. (...) Unsere Leitkultur umfasst mehr als das Grundgesetz. Sie umfasst auch das gemeinsame Bewusstsein von Heimat und Zugehörigkeit, das durch Gesetze nicht erzwungen werden kann, aber eine unverzichtbare Voraussetzung für Zusammenhalt ist. Eine deutsche Leitkultur kann nicht ohne Verständnis unserer Traditionen und Bräuche, des ehrenamtlichen Engagements und Vereinslebens, der deutschen Kultur und Sprache sowie unserer Geschichte und der daraus resultierenden Verantwortung gelingen. (...) Wer diese Leitkultur lebt und die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten möchte, den laden wir ein. Wir erwarten ein ausdrückliches Bekenntnis zu unseren Werten, Grundsätzen und Regeln. (...) Wir sind stolz auf Deutschland. Deutschland ist unsere Heimat, die uns Zugehörigkeit und Orientierung, Vertrautheit und Geborgenheit gibt. Wir sind stolz auf unsere vielfältige Kultur und unser kulturelles Erbe, die abwechslungsreiche Natur- und Kulturlandschaft, unsere christlichen Traditionen und das lebendige Brauchtum.“
Der „Gutachter“ der AfD ordnet diese Aussagen der CDU unter Nutzung des VS-Gutachtens wie folgt ein (hier übernommene Stellen im Falle der AfD Hessens wieder kursiv, aber gegenüber dem Original ohne Kürzung):
„Die Forderung nach einer ‚Leitkultur‘ stellt für sich genommen keinen Anhaltspunkt für verfassungsfeindliche Bestrebungen dar, da der Begriff bereits seinem Wortlaut nach und entsprechend der gesamtgesellschaftlichen Verwendung nur auf einen allgemeingültigen Wertekonsens abstellt. Jedoch wird hier deutlich, dass eben nicht nur eine solche generelle Orientierung an kulturellen Kernelementen gemeint ist, sondern eine vollständige Assimilation von Zuwandernden bezweckt wird. Die in Bezug genommene deutsche Kultur soll demnach nicht bloß ein Leitbild, sondern die einzige akzeptierte Kultur sein.
Es kommt zum Ausdruck, dass deutscher Staatsbürger nur sein könne, wer sich zur von der CDU bestimmten ‚Leitkultur‘ als ‚einigendes Band‘ bekennt. Man müsse dafür ‚ohne Wenn und Aber‘ das Bewusstsein von Heimat und Zugehörigkeit anerkennen, wozu auch das Verständnis deutscher Traditionen und Bräuche, Kultur und Sprache gehöre. Die CDU geht somit grundsätzlich von der Existenz einer weitgehend homogenen Gesellschaft (‚unsere Werte, Grundsätze und Regeln‘, ‚unsere Traditionen [...] deutsche Kultur‘ etc. als ‚einigendes Band‘) aus und benennt die Möglichkeit, dass Menschen aus anderen Kulturen sich diesem durch Assimilation anschließen können. Durch die kumulative Aufzählung verdeutlicht die CDU, dass eine gelungene Integration für sie nicht ausreicht, um als Migrantin beziehungsweise Migrant die deutsche Staatsbürgerschaft zu verdienen, sondern in ihren Au- gen vielmehr eine vollständige Assimilierung erforderlich ist.“
Und wieder notabene: Natürlich stammen auch in diesem Fall die nicht kursiven Sätze ebenfalls aus dem AfD-Gutachten des Verfassungsschutzes – wiederum aus sachidentischen Zusammenhängen.
Satire und Realität
Auch
in seinem Fazit schreibt der „Gutachter“ natürlich beim
Verfassungsschutz ab. Es sei durch seine Darlegungen bewiesen, dass sich
in der Union „seit mehreren Jahren zur Gewissheit verdichtete
Anhaltspunkte für Bestrebungen“ gegen die Verfassungsordnung ergäben.
Insbesondere durch einen ethnisch-abstammungsmäßigen Volksbegriff,
Angriffe auf die Menschenwürde und eine Herabwürdigung von Muslimen sei
dies eindeutig bewiesen. Aber wie gesagt: Der Autor meint das alles am
Ende gar nicht ernst.
Auch rechtlich ist das Dokument für die aktuellen gerichtlichen Auseinandersetzungen irrelevant. Denn vor Gericht geht es nicht um die Unionsparteien, sondern allein um die AfD. Man wird dieses Dokument daher mit Fug und Recht als ein Propagandainstrument der AfD einstufen können. Und genau das ist zugleich das Problem, denn das „Gutachten“ argumentiert leider stringenter, als man es sich wünschen kann. Jeden überzeugten Anhänger der Rechtsstaatsidee muss es regelrecht beklemmen, wenn eine Satire der Realität so nahe kommt, dass sie von ihr kaum noch zu unterscheiden ist.
Dolchstoß wider Willen
Wahrscheinlich befindet sich der Verfassungsschutz daher inzwischen in der größten Krise in seiner eigenen Geschichte. Einst angetreten als Schild und Schwert des demokratischen Rechtsstaates bröckelt sein öffentliches Ansehen inzwischen im Sekundentakt. Man kann das mit Hilfe eines historischen Vergleichs sichtbar machen: Vor ungefähr dreißig Jahren stufte der Verfassungsschutz auch Die Republikaner als extremistisch ein – rechtswidrig, wie später ein Gericht feststellte. Der Abschreckungseffekt beim Volk war damals dennoch so groß, dass die Partei immer mehr Wähler verlor und schließlich in der Bedeutungslosigkeit verschwand.
Diese Zeiten sind längst vorbei: Je mehr vom Staat und insbesondere vom Verfassungsschutz in Sachen AfD die Daumenschrauben angezogen werden, um so stärker wird die Partei. Das ist nicht nur eine beängstigende Erosion des Vertrauenskapitals des Verfassungsschutzes, sondern des ihn tragenden Staates. Die Verantwortlichen scheinen diese offen zutage liegende, für die Demokratie grundstürzende Dynamik bis heute nicht verstanden zu haben oder nicht wahrhaben zu wollen. Sie machen unbeirrt einfach immer weiter. Man blickt auf die Entschlossenheit der Verzweifelten.
Wahrscheinlich wird Nancy Faeser daher nicht nur als entschlossene „Kämpferin gegen rechts“ in die bundesdeutschen Geschichtsbücher eingehen, sondern auch als jene Politikerin, die dem Ansehen des Verfassungsschutzes den größtmöglichen Schaden zugefügt hat. Hierzu trug in erster Linie gar nicht ihre ausdrücklich ungeprüfte Hochstufung der AfD zur „gesichert extremistischen Bestrebung“ bei, sondern ihre Weigerung, die Argumente dafür von selbst offenzulegen. Das machte die kritische Öffentlichkeit erst recht bösgläubig. Von diesem Dolchstoß wider Willen wird sich der deutsche Inlandsgeheimdienst wahrscheinlich nie wieder erholen.
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