09 Februar 2023

Nord Stream 2 - Und wenn es doch die USA waren? (Cicero+)

Nord Stream 2
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Und wenn es doch die USA waren?
Reporterlegende Seymour Hersh berichtet auf seinem Blog, wer nach seinen Recherchen wirklich hinter dem Anschlag auf die deutsch-russische Nord-Stream-Pipeline steht. Sein Text sorgt prompt für Widerspruch. Und scheint dennoch schlüssig zu sein.
VON RALF HANSELLE am 9. Februar 2023
Sy Hersh ist eine Legende. Was der mittlerweile 85-jährige Investigativjournalist und einstige Autor des Magazins New Yorker sagt oder – noch schlimmer – schreibt, das hat Gewicht. Auch heute noch. Man kann Hershs Rolle für die Selbstreinigungskräfte der amerikanischen Demokratie gar nicht hoch genug einschätzen. Vielleicht ist sie einzig noch vergleichbar mit der von Bob Woodward und Carl Bernstein, den einstigen Watergate-Aufklärern von 1972. 

Seymour Myron Hersh, so der volle Name des 1937 in Chicago geborenen Top-Journalisten, hat mit seinen Essays, Reportagen und Büchern, wie es dann immer so schön heißt, nicht nur Geschichte(n) geschrieben. Er ist selbst Geschichte geworden. Hersh hat zum israelischen Atomwaffenprogramm recherchiert und zum Golfkriegssyndrom geschrieben. Bis heute wirklich legendär aber sind seine Recherchen zum Massaker im vietnamesischen My Lai, die zusammen mit den unvergesslichen Fotos von Nick Ut den Anfang vom Ende des amerikanischen Abenteuers in Indochina markierten. Gegen diese Nachrichten konnte selbst ein harter Hund wie Richard Nixon damals nicht mehr anregieren. Und ebenso bahnbrechend wie auch erschütternd seine Artikelserie über das Foltergefängnis Abu Ghraib. 2003 verfasste er diese zunächst für den New Yorker. Ein Jahr später erschienen sie unter dem Titel „Chain of Command“ als Buch und wurden ein Bestseller. Kurz: Es gibt wohl kaum eine Schweinerei in der zweiten Hälfte des einst von Henry Luce so hoch gelobten „amerikanischen Jahrhunderts“, der Hersh nicht irgendwann auf die Schliche gekommen wäre.

Auf Bidens Befehl

Da lässt es aktuell besonders aufhorchen, wenn nun ausgerechnet dieser Sy Hersh am Mittwoch einen Text auf seinem eigenen Blog veröffentlicht, in dem er den USA – genauer gesagt, Tiefseetauchern der U.S. Navy – die unmittelbare Verantwortung für die Sprengung der deutsch-russischen Pipeline Nord Stream 2 zuschreibt: „Im vergangenen Juni platzierten Taucher der Marine, die unter dem Deckmantel einer breit publizierten Nato-Hochsommerübung namens BALTOPS 22 operierten, den ferngezündeten Sprengstoff, der drei Monate später drei der vier Nord-Stream-Pipelines zerstörte, so eine Quelle mit direkter Kenntnis der operativen Planung“, schreibt Hersh in einer anfangs noch sehr plastisch gehaltenen Reportage über die Hintergründe jenes Anschlags auf die deutsche Energieinfrastruktur, der bis heute zahlreiche Rätsel aufgibt. 

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Präsident Biden, der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan, Außenminister Tony Blinken und Victoria Nuland, Unterstaatssekretärin für Politik, hatten sich laut Hershs Recherchen zuvor immer wieder klar und deutlich gegen Nord Stream 1 wie Nord Stream 2 ausgesprochen. Beide verlaufen von zwei verschiedenen Häfen im Nordosten Russlands aus nahe der estnischen Grenze 750 Meilen unter der Ostsee in der Nähe der dänischen Insel Bornholm vorbei, bevor sie in Mecklenburg-Vorpommern schließlich wieder an die trockene Oberfläche kommen. 

Laut Hersh soll Bidens Entscheidung, die Pipelines zu sprengen, nach mehr als neun Monaten hochgeheimer Debatten darüber, wie dieses Ziel am besten zu erreichen sei, getroffen worden sein. Dabei soll es gar nicht so sehr um das „Ob“, als um das „Wie“ der späteren Operation gegangen sein. Denn die US-Administration fürchtete laut Hersh von Anfang an, dass Deutschland wie der Rest Europas zunehmend vom billigen russischen Erdgas abhängig werden könnte – während die Abhängigkeit von Amerika abnehmen würde.

Die Zweifel liegen offen zutage

Dieser Artikel schlug ein wie eine Bombe. Und das nicht, weil die Schuldrochade von Russland in Richtung USA publizistisch sonderlich neu gewesen wäre. Bereits im letzten Dezember war ein aufschlussreicher Artikel in der Washington Post erschienen, der unzählige Hinweise darauf gab, warum es vermutlich nicht die Russen waren, die die Röhren gesprengt hatten. Und selbst die Bundesanwaltschaft hat erst in der letzten Woche erklärt, dass sie keinen Hinweis auf eine russische Täterschaft habe. Nein, was am gestrigen Artikel wirklich für Aufsehen sorgte, das war einzig und allein der Autor selbst: Seymour Myron Hersh. Wußte er wieder mal mehr als die anderen?

In Deutschland scheint das kaum vorstellbar zu sein. Und so überschlagen sich zahlreiche Medien seit gestern auffällig in dem Bemühen, offizielle Stimmen aus den USA zu publizieren, die Zweifel an Hershs Version der Geschichte schüren: Das Weiße Haus, so kann man nun vom Bayerischen Rundfunk über Die Welt bis hin zum Deutschlandfunk hören, habe den Bericht des Investigativreporters zurückgewiesen. Das sei „völlig falsch und eine vollkommene Erfindung", wird eine Adrienne Watson, Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrates, in verschiedenen Zeitungen und Online-Medien prominent zitiert. Was aussieht, als schriebe hier einer vom anderen ab, ist in Wahrheit aber nur ein Satz aus Hersh eigenem Text. Der nämlich macht überhaupt kein Hehl daraus, dass er als guter Journalist auch das Weiße Haus in einer E-Mail um Stellungnahme gebeten und hernach die oben angeführte Antwort erhalten hat.

Es braucht gute Journalisten

Was er indes auch publiziert: Seine Recherchen stützen sich nur auf eine einzige Quelle. Das könnte in der Tat für die Wahrheitsfindung ein bisschen dünn sein. Und gewiss: Der Weisheit letzter Schluss ist der Text mit dem nüchternen Titel „How America Took Out The Nord Stream Pipeline“ ganz sicher noch nicht, auch wenn Insider aus dem Umfeld des Nationalen Sicherheitsrates der USA die von Hersh geschilderte Personenkonstellation für absolut denkbar halten und besonders in Victoria Nuland seit langem eine Treiberin aggressiver Maßnahmen sehen. Und noch etwas spricht für Hershs Geschichte: Sein Bericht fügt sich ideal in eine von der einen Seite etwas überstrapazierte, von der anderen gerne vergessene Sentenz von US-Präsident Joe Biden aus dem Februar 2021. Kurz vor der russischen Invasion in die Ukraine sagte der nämlich damals, dass es „kein Nord Stream 2 mehr geben“ werde, sollte Putin in die Ukraine einmarschieren. „Wir werden dem ein Ende bereiten.“

Ob dieses gedachte Ende tatsächlich identisch ist mit dem von Sy Hersh nun beschriebenen? Es ist zunächst nur eine These. Weitere Recherchen werden hoffentlich zeigen, ob sie falsch oder richtig ist. Von deutschen Medien aber, das scheint jetzt auch klar, werden diese Recherchen wohl eher nicht zu erwarten sein. 

Dazu:
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