02 Februar 2023

Pandemie-Politik „Die Deutschen haben einen zu hohen Preis bezahlt“ (WELT+)

Pandemie-Politik
„Die Deutschen haben einen zu hohen Preis bezahlt“ (WELT+)
, Verantwortliche Redakteurin, 11.01.2023
Alexander Kekulé geht hart ins Gericht mit der deutschen Pandemiepolitik: Unaufrichtige Politiker, unwissenschaftliche Wissenschaftler, monströse Geldverschwendung. Aber vor allem zu viele Tote bilanziert der Virologe. Er fordert einen Untersuchungsausschuss.

WELT: Herr Kekulé, ist die Pandemie wirklich überstanden? Vor wenigen Tagen warnte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach vor „neuen gefährlicheren Varianten“ aus China und den USA.

Alexander Kekulé: Die pandemische Notlage ist vorbei, auch wenn es immer wieder neue Omikron-Untervarianten geben wird. Interessant ist hier der Wochenbericht des Robert-Koch-Instituts von Anfang Dezember. Da steht, dass sich im stationären Bereich bereits seit Januar 2022 „keine erhöhte Krankheitslast durch schwere Atemwegsinfektionen“ mehr zeigte. Corona belastet also das Gesundheitssystem nicht mehr. Da es mit der Omikron-Variante auch keine Übersterblichkeit mehr gab, sind wir seit Frühjahr 2022 nicht mehr in einer pandemischen Notlage.

WELT: Trotzdem wird Deutschland von einer Infektionswelle überrollt, die Krankenhäuser beklagen Überlastung. Die Atemwegserkrankungen vor allem bei Kindern: hätte man die mitdenken müssen?

Kekulé: Dass es so kommen würde, war schon länger vorhersehbar. Nach drei infektionsbehüteten Corona-Jahren sehen wir jetzt Nachholeffekte bei Influenza und Erkältungskrankheiten. Maskenpflicht, Tests und Abstandsregeln in Innenräumen waren jedoch alternativlos. Im Gegensatz dazu wären die Lockdowns und Schulschließungen vermeidbar gewesen, wenn man am Anfang der Pandemie schneller reagiert hätte, statt die Gefahr kleinzureden und der Bevölkerung weiszumachen, wir wären auf diese Situation gut vorbereitet.

WELT: Die Bundesregierung hat sich damals auf ihren einflussreichsten Berater, den Virologen Christian Drosten verlassen. Drosten behauptet heute, ohne seine Weisungen hätte es eine Million Tote in Deutschland gegeben.

Kekulé: Angesichts der bislang 163.000 Toten sehe ich keinen Anlass für Selbstlob. Viele dieser Opfer hätten durch bessere und schnellere Maßnahmen vermieden werden können. Wir liegen damit international, auch im Vergleich zu viel ärmeren Ländern, nur im Mittelfeld. Ich kann die Rechnung auch nicht nachvollziehen. Bei 83 Millionen Einwohnern käme man nur dann auf eine Million Tote, wenn sich alle infizieren und 1,2 Prozent sterben. Auch ohne staatlich angeordnete Gegenmaßnahmen hätten sich jedoch bis zum Auftreten der hoch ansteckenden, aber harmloseren Omikron-Variante nicht mehr als 80 Prozent der Bevölkerung angesteckt. Vor Omikron lag die Todesrate für die deutsche Bevölkerung bei 0,5 Prozent. Das entspräche rund 330.000 Toten, von denen wir etwa die Hälfte vermieden haben. Welcher Anteil davon auf das persönliche Konto von Christian Drosten geht, kann ich nicht beurteilen.

WELT: Auch das Innenministerium ging im März 2020 von einer Million Corona-Toten aus, wenn nichts unternommen würde. Es hieß, man müsse eine „Schockwirkung“ erzielen, um harte Maßnahmen durchzusetzen.

Kekulé: Es hat in der deutschen Pandemiepolitik verschiedene Phasen gegeben. Obwohl vielen Fachleuten die drohende Katastrophe von Anfang an vor Augen stand, nahmen andere diese „leichte Grippe“ nicht ernst. Ich bin damals öffentlichen Angriffen meiner Kollegen ausgesetzt gewesen, weil ich das Thema Masken aufgebracht und eine Kampagne dazu initiiert hatte. Auch mein Vorschlag, das Virus mit einem kurzen Wellenbrecher-Lockdown Anfang 2020 auszubremsen, blieb links liegen. Als die Politik einige Wochen später die Dimension des Problems erkannte, war ein harter Lockdown unumgänglich.

WELT: Wie sind wir durch die Pandemie gekommen? Haben die Deutschen einen zu hohen Preis bezahlt?

Kekulé: Ja, das muss man leider im Nachhinein feststellen. Wir haben zum einen sehr viel Geld ausgegeben. Die Exekutive hat die Wirtschaft heruntergefahren und auch die Grundrechte der Bürger massiv beschnitten. Dabei wurde teilweise sogar gegen das Grundgesetz verstoßen, wie die Gerichte im Nachhinein feststellten. Angesichts dieses enormen Aufwands haben wir relativ wenig erreicht. Mit einem der besten Gesundheitssysteme der Welt stehen wir zwar etwas besser da als einige unserer Nachbarstaaten. Aber vom Ergebnis her sind 163.000 Tote nicht akzeptabel. Es gab andere Länder, die mehr auf die Vernunft des Einzelnen setzten und mit weniger Einschränkungen vergleichbare oder bessere Resultate erzielten.

WELT: Sie meinen Schweden?

Kekulé: Japan und auch Schweden gehören dazu. In Japan gab es keine Lockdowns und dennoch viel weniger Tote als bei uns, trotz einer ebenfalls überalterten Bevölkerung. In Schweden hat man sich anfangs verkalkuliert, weil die Alten nicht konsequent geschützt wurden. Aber der Grundansatz, sich auf den Selbstschutz der Bürger zu verlassen, statt die Wirtschaft zu strangulieren und die Schulen zu schließen, ist offenbar aufgegangen. Wir unterscheiden uns in der Bilanz der Toten nicht wesentlich von Schweden, aber unser Preis lag nicht nur finanziell viel höher. Die Hauptleidtragenden waren die Kinder, sie haben am meisten unter den Gegenmaßnahmen gelitten. Dann kommen die Alten und Kranken, die in den Heimen isoliert wurden und in den Kliniken alleine sterben mussten. Die „Bazooka“, die unser damaliger Vizekanzler ausgepackt hatte, werden noch unsere Urenkel abbezahlen müssen.

WELT: Sie fordern einen Untersuchungsausschuss. Warum?

Kekulé: Nicht, um mit Personen oder Parteien abzurechnen. Sondern, weil wir für künftige Krisen lernen müssen. Viele Tote und ein erheblicher Teil des sozialen und wirtschaftlichen Kollateralschadens wären vermeidbar gewesen. Es geht hier ja um zwei konkurrierende Grundrechte, das auf körperliche Unversehrtheit und die persönliche Freiheit. Neben dem unzulänglichen Gesundheitsschutz hat der Staat auch die Freiheitsrechte verletzt, ohne dass dies wissenschaftlich begründet oder verhältnismäßig war. Ich erinnere an die 15-Kilometer-Leine, das Maskentragen im Park, die allgemeine Ausgangssperre. Das waren Dinge, die keine wissenschaftliche Basis hatten. Bemerkenswerterweise haben viele Länder der Erde ähnliche Fehler gemacht, sie sind wie die Lemminge falschen Vorstellungen hinterhergelaufen. Aus meiner Sicht handelt es sich hier um das bisher größte kollektive Staatsversagen der Geschichte.

WELT: In Deutschland hieß es schon früh: „follow the science“. Also haben auch Wissenschaftler Fehler gemacht.

Kekulé: Viele meiner Kollegen sagen heute: Wir haben richtig beraten, die Politik ist schuld an den Fehlern. Das sehe ich etwas anders. Es gab Ratschläge aus der etablierten Wissenschaft, die nicht gut waren. Manche hat die Politik glücklicherweise nicht befolgt, wie etwa die geforderte No-Covid-Strategie. Auch die vollkommen überzogenen Warnungen vor Omikron wurden glücklicherweise überhört.

WELT: Viele Länder kommen auf fast denselben Verlauf der Infektionswellen, obwohl die Maßnahmen völlig verschieden waren. Haben Sie eine Erklärung?

Kekulé: Der entscheidende Erfolgsfaktor ist das individuelle, auf die jeweilige Risikosituation angepasste Verhalten. Wenn die Bürger gut und ehrlich informiert werden, entsteht ein Phänomen, das ich als „Schwarmresilienz“ bezeichne. Sie ist auch der Grund, warum Infektionswellen bereits zurückgingen, bevor die Lockdowns angeordnet wurden. Die Leute sahen im Fernsehen die Bilder von den Intensivstationen und fingen aus freien Stücken an, ihre Kontakte zu beschränken. Letztlich haben die freien Demokratien in dieser Pandemie aber keine optimale Linie zwischen staatlichen Eingriffen und der Verantwortung des Einzelnen gefunden. Hier gibt es einen Wettbewerb mit autoritären Systemen wie China, die anfangs erfolgreicher zu sein schienen. Wenn die chinesischen Impfstoffe funktioniert hätten, wäre das wohl bis zum Schluss so geblieben. Dass unsere Vakzine besser waren und wir deshalb ungestraft öffnen konnten, ist ja kein Verdienst der demokratischen Staatsform. Die Pandemie war insofern eine Generalprobe für andere Herausforderungen, etwa die Bewältigung der Umweltkrise. Wir brauchen einen Untersuchungsausschuss auch deshalb, weil wir uns in diesem Wettbewerb der Systeme verbessern und behaupten müssen.

WELT: Angela Merkel hat die Systemfrage früh beantwortet. Sie sagte, in China gebe es keine Querdenker-Demonstrationen und dort trügen Menschen auch konsequenter die Masken.

Kekulé: Das hatte die Kanzlerin, die ja einen autoritären Staat hautnah erleben musste, wohl eher ironisch gemeint. Epidemiologen sind da viel eher versucht, neidisch zu werden. Wer einmal in Afrika bei einem Ebola-Ausbruch dabei war, der fordert schnell eine harte Hand mit militärischer Unterstützung, um ein todbringendes Virus wirksam zu bekämpfen. Doch Leben ist eben mehr als die Vermeidung von Tod und Krankheit. Deshalb plädiere ich auch bei existenziellen Bedrohungen für eine demokratische Antwort. Diese beginnt damit, die Menschen umfassend und ehrlich über die Gefahr aufzuklären. Das hat bei uns nicht immer funktioniert.

WELT: Etwa bei der Behauptung, Geimpfte könnten nicht ansteckend sein. Eine klare Falschinformation.

Kekulé: Letztlich wollte man Werbung für die Impfung machen. Aus demselben Grund wurden die Nebenwirkungen des Impfstoffes von AstraZeneca anfangs kleingeredet. Diese Unehrlichkeiten haben sich gerächt, weil viel Vertrauen in Wissenschaft und Politik verloren gegangen ist.

WELT: Wie sehen Sie heute das 2G-Gebot, also den Zutritt zu Hotels, Geschäften oder Restaurants nur für Geimpfte und Genesene?

Kekulé: Ich war immer dagegen und habe meine Beurteilung nicht geändert. Die Idee, dass die Geimpften bevorzugt werden sollten, war eines der gefährlichsten Manöver in dieser Pandemie. Der Unsinn, Geimpfte trügen kaum zum Pandemiegeschehen bei, stand ja sogar auf der Website des RKI und wurde so zur Grundlage falscher Gerichtsentscheidungen. Die 2G-Regelung hat die Herbstwelle 2021 mitbefeuert und viele vermeidbare Todesfälle verursacht.

WELT: Ganz zu Beginn der Pandemie gab es eine nationale Einheit in dem Gefühl: Hier sitzen wir alle in einem Boot. Später dann gingen viele von Bord. Es wurde feindselig. Wäre das vermeidbar gewesen?

Kekulé: Die Pandemiepläne sahen als erste Maßnahme die Einberufung einer interdisziplinären, nationalen Pandemiekommission vor. Stattdessen haben die verantwortlichen Politiker jedoch den Rat einzelner Virologen gesucht und die Gespräche fanden in Hinterzimmern statt. Dass „die Virologen“ das Land durch die Pandemie führen könnten, weil der Krankheitserreger in diesem Fall ein Virus ist, war ein weitverbreiteter Irrglaube. Virologen sind in der Regel Grundlagenforscher, die sich mit ganz bestimmten molekularbiologischen Eigenschaften ganz bestimmter Viren sehr gut auskennen. So jemanden braucht man, um einen neuen Impfstoff oder ein neues Medikament gegen ein Virus wie SARS-CoV-2 zu entwickeln. Für die Beurteilung antipandemischer Maßnahmen gibt es andere Experten, und nicht selten kann auch ein nicht auf Coronaviren spezialisierter Virologe wichtiges beitragen, weil ja sowohl der Erreger als auch die Krisenlage neu sind.

Ich habe deshalb nicht verstanden, warum Christian Drosten Kollegen wie Hendrik Streeck oder Jonas Schmidt-Chanasit persönlich angegriffen hat. Von einem Fachmann erwarte ich, dass er seine besondere Qualifikation durch fachliche Argumente unter Beweis stellt. Die Presse ist aber auf die diversen „Virologen-Streits“ angesprungen, als handelte es sich um die britische Königsfamilie. Das hat leider eine ungute Polarisierung in die Debatten gebracht. Auch Drostens aktuell im „Tagesspiegel“ aufgestellte Forderung nach Sanktionen für Wissenschaftler, die nicht die richtige Meinung äußern, unterstütze ich nicht. Wissenschaftlicher Fortschritt lebt vom Diskurs, und nicht selten sind die Abweichler von heute die Meinungsführer von morgen. Das ist bei uns etwas anders als in der katholischen Kirche.

WELT: …wo Häretiker vom Abendmahl ausgeschlossen sind. In Deutschland sahen sich kritische Wissenschaftler aus Gremien und Ethik-Kommissionen geworfen.

Kekulé: Beim Kampf um die wissenschaftliche Deutungshoheit haben sich Forscher in dieser Pandemie leider Methoden aus der Politik abgeschaut. Es ging dabei nicht nur um Eitelkeiten, sondern auch um handfeste Vorteile bei der Vergabe von Forschungsmitteln. Da kann es auch einmal von Vorteil sein, die Karriere eines unbequemen Kollegen zu torpedieren. So wurde per Telefon und über E-Mails viel mit Dreck geworfen. Schlimm für den Rest der Bevölkerung ist, dass sich mit dieser Methode nicht immer die besten Konzepte durchgesetzt haben. In der Schlammschlacht erfolgreiche Wissenschaftler verbreiteten anfangs sogar die Mär, das Virus sei weniger gefährlich als die Grippe und werde ohnehin nicht nach Europa kommen. Auch die berühmte Behauptung, dass Kinder genauso ansteckend wie Erwachsene wären, erwies sich als folgenschwerer Irrtum. Leider halfen auch Wissenschaftsjournalisten renommierter Zeitungen mit, die Irrtümer zu perpetuieren.

Die häufig zu lesende Darstellung, es gäbe in Sachen Pandemie nur „eine Wissenschaft“, zu deren Vertretung nur bestimmte Wissenschaftler qualifiziert wären, ist falsch. Die Pandemie war für alle etwas Neues, da gab es keine etablierte und methodisch sauber geprüfte Position der Wissenschaft. Die angeblich „richtige“ Wissenschaft entsteht hier allenfalls durch Konformitätsdruck, sie ist dann eine Frage der Gesinnung. Statt zu diskutieren, üben sich Forscher im Moralisieren und in persönlichen Angriffen.

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