17 Februar 2023

Twitter-Files „Könnten Sie uns helfen, unseren Biontech-Twitter-Account für zwei Tage zu verstecken?“ (WELT+)

Twitter-Files
„Könnten Sie uns helfen, unseren Biontech-Twitter-Account für zwei Tage zu verstecken?“ (WELT+)
Auch in Deutschland haben Regierung und Pharmakonzerne versucht, kritische Stimmen zur Corona-Politik stummzuschalten. Neue Dokumente aus den „Twitter Files“ zeigen, welche Rolle ein Bundesamt dabei spielte – und mit welchen Wünschen Biontech in die Debatte eingriff.

Vor mehr als drei Jahren wurde das neuartige Corona-Virus „Sars-CoV-2“ entdeckt. Seitdem ist viel passiert. Grundrechte wurden eingeschränkt, von der Gewerbefreiheit bis zum Versammlungsrecht, es gab eine bundesweit geltende Maskenpflicht, Lockdowns und Ausgangssperren, monatelange Schulschließungen und Distanzunterricht, Homeoffice für Arbeitnehmer, im Eilverfahren zugelassene Impfstoffe, ständig geänderte Test-Vorschriften, 3G, 2G und allgemeinen Kontaktbeschränkungen.

Viele dieser Entscheidungen wurden aus der Not heraus getroffen und lange verständnisvoll von einem Großteil der Bevölkerung getragen. Spätestens im Rückblick zeigt sich aber: Wir hätten vieles besser machen können. So bereute nicht zuletzt Gesundheitsminister Karl Lauterbach Entscheidungen und bedauerte die Fehler. Kürzlich twitterte er beispielsweise zum Thema Schulschließungen: „Um es klar zu sagen @c_drosten und ich haben damals in der Schulfrage die gleiche Position vertreten, die gleichen Studien gelesen und die gleichen Leute beraten. Trotzdem muss man Manöverkritik zulassen. Mit Wechselunterricht, Luftfiltern, Pool-PCR-Tests war mehr Schule möglich.“
An dieser Aussage wird eines der grundlegenden Probleme der letzten Jahre deutlich: Wenn alle die gleichen Studien lesen, bleibt nicht viel Raum für einen dialektischen Diskurs. Jene Kritik, die Lauterbach jetzt im Rückblick „zulassen“ will, war damals nicht erwünscht. Als das Thema Schulschließungen im Bundestag besprochen wurde, gab es zwar sehr wohl Gegenpositionen. Das Problem: Viele der teils auch wissenschaftlich fundierten Einwände wurden ignoriert oder gar diffamiert. Dies galt wohlgemerkt nicht nur für Deutschland und Europa, sondern für den größten Teil der Welt. Kritiker etwaiger Maßnahmen wurden hier schnell in die Ecke der „Corona-Leugner“ gestellt oder als „Verschwörungstheoretiker“ bezeichnet.

Wie sich mittlerweile zeigt, waren viele Maßnahmen nicht verhältnismäßig. Auch die Impfpflicht sorgte für hitzige Diskussionen, die bis in die engsten Bekannten- und Familienkreise reichten. Sollte eine pluralistische Gesellschaft nicht auch aushalten können, dass es kritische Meinungen zu den unter hohem Zeitdruck entwickelten Impfstoffen von Moderna und Pfizer gibt? Hätte man durch einen heterogeneren Diskurs Fehlentwicklungen schon früher verhindern können? In der Pandemie arbeiteten viele Menschen im Home-Office oder verbrachten wegen der staatlich verhängten Kontaktbeschränkungen die meiste Zeit zu Hause. So war ihre Kommunikation vor allem auf die sozialen Netzwerke beschränkt. Dass hier oft kein kritischer Austausch über die staatliche Corona-Politik möglich war, verdeutlichen auch die kürzlich erschienenen „Twitter Files“.

Angeblich „irreführend“

Die „Twitter Files“ sind Veröffentlichungen der internen Kommunikation von Unternehmens-Mitarbeitern, die vom neuen CEO Elon Musk freigegeben wurden. Ihre Inhalte werden seit Dezember 2022 fortlaufend durch ausgewählte Journalisten wie Matt Taibbi, Bari Weiss (die auch als WELT-Autorin arbeitet) und Michael Shellenberger in langen Twitter-Threads offengelegt. Die Dokumente zeichnen das Bild korrumpierter und überforderter „Content-Moderatoren“, die im Herzen von Twitter unerwünschte Meinungen aussortieren. Auch der interne Umgang mit Informationen und Beiträgen rund um Corona ist Teil der Veröffentlichungen.
Herausgeben wurden die Corona-Teile der „Twitter Files“ von David Zweig (Autor und Journalist, der unter anderem für „The Atlantic“, „Wired“ und die „New York Times“ geschrieben hat) und Alex Berenson (ebenfalls ehemaliger „New York Times“-Journalist) sowie Lee Fang, der für „The Intercept“ schreibt. Die „Files“ zeigen auf, dass die marktrelevantesten Social-Media-Unternehmen wie Meta, Alphabet, Microsoft und Twitter auf Druck von Regierungen und Unternehmen wie Pfizer starken Einfluss auf den Diskurs rund um Covid-19 hatten. So wurden beispielsweise Tweets von Martin Kulldorf, Epidemiologe der Harvard Medical School, als „misleading“, also irreführend bezeichnet. Kulldorf hatte die Position vertreten, dass Impfungen vor allem für ältere Angehörige der Hochrisikogruppen und deren Pfleger sinnvoll wären, weniger für Menschen, die bereits eine Corona-Infektion durchlaufen haben, oder Kinder.
Doch ist ein Tweet einmal als „misleading“ gekennzeichnet, kann man ihn weder kommentieren noch teilen oder liken. Ähnlich erging es dem Atemschutz-Experten Matthew Knight: Dieser wurde von Twitter verbannt, weil er sich für bessere Belüftungen in Bars und Restaurants eingesetzt hatte, die aufgrund der verhängten Kontaktbeschränkungen geschlossen waren. Vielen Gewerbebetreiber drohte die Insolvenz. Ursache für die Sperrung von Knight war die damalige Annahme, dass Corona über Tröpfchen und nicht über Aerosole verbreitet werde. Erst nach monatelangen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen konnte bewiesen werden, dass Knight mit seiner These Recht hatte. Twitter reaktivierte seinen Account.

Umstrittene, aber für den Diskurs nicht weniger relevante Akteure wie der mittlerweile verstorbene Arzt Vladimir Zelenko oder der Virologe und mRNA-Forscher Robert Malone wurden ebenfalls von diversen Social-Media-Plattformen ausgeschlossen. Zelenko war bekannt für seine frühen Studien über Corona und die Behandlung durch Hydroxychloroquin, ein Medikament, das überwiegend gegen Malaria eingesetzt wird. Laut „Israel National News“ wurde er von Twitter für einen Tweet, der die Impfnotwendigkeit für Kinder infrage stellte, verbannt.

Grund für Malones Sperrung war das Teilen eines Videos, welches das allgemeine Forschungsdesign der Pfizer-Impfstoff-Studien als unzureichend darstellte. Auch Tweets von Nutzern, die die Auslegbarkeit bestimmter Forschungsergebnisse kritisierten, ereilte das gleiche Schicksal. Selbst eine Koryphäe wie Jay Bhattacharya, Professor in der Stanford School of Medicine und Mitinitiator der „Great Barrington Declaration“, wurde wegen seiner Kritik an Zwangsmaßnahmen wie den Schulschließungen auf die schwarze Liste gesetzt, im Fachjargon: „shadowbanned“. Das bedeutet, seine Äußerungen wurden in der Reichweite und Auffindbarkeit auf der Plattform stark begrenzt. Oft waren hier Bots am Werk, die die Content-Policy des Unternehmens automatisch umsetzten. Doch es gab auch menschliche Moderatoren, beispielsweise bei direkten Anfragen von regierungsnahen Organisationen. Aus den „Files“ geht außerdem hervor, dass Twitter einige dieser Aufträge ins Ausland „outgesourct“ hat, wie etwa in die Philippinen. Hier wurde mit simplen Fragebögen gearbeitet, die Inhalte anhand vereinfachter Gütekriterien als „vertrauenswürdig“ oder „Desinformation“ klassifizierten.

Das Weiße Haus macht Druck

Wie schon erwähnt, stand Twitter nicht alleine da. Auch Facebook musste sich den fortwährend veränderten Anforderungen der Corona-Politik und den Auflagen der Behörden beugen. Dies wird unter anderem durch den E-Mail-Verkehr zwischen Facebook und Rob Flaherty deutlich, dem Deputy Assistant des US-Präsidenten und Direktor der digitalen Strategie des Weißen Hauses. Die E-Mails sind Gegenstand der Ermittlungen des Prozesses „Missouri gegen Biden“, die von den Generalstaatsanwälten von Missouri und Louisiana und vier von der „New Civil Liberties Alliance“ vertretenen Privatklägern vorgebracht wurden, darunter Kulldorf und Bhattacharya.

Aus den internen Dokumenten geht hervor, dass auch Facebook unter enormen Druck stand, den Wünschen und Anforderungen des Weißen Hauses zu entsprechen. Flaherty sah vor allem ein Problem in „sensationellen“ Inhalten oder Beiträgen, die „Skepsis“ gegenüber Impfungen auslösen könnten. Er schlug vor, dass Inhalte von geimpften Nutzern in den Timelines priorisiert werden oder dass man den Nutzern direkt die „guten“ Informationen aufzeigen solle. Um den Anforderungen des Weißen Hauses zu entsprechen, passte Facebook in regelmäßigen Abständen seine „Content Moderation Policy“ an.

Jenin Younes und Aaron Kheriaty kommentierten im „Wall Street Journal“: „Diese E-Mails zeigen ein klares Muster: Herr Flaherty, der das Weiße Haus vertritt, drückt seine Wut über das Versäumnis der Unternehmen aus, Covid bezogene Inhalte zu seiner Zufriedenheit zu zensieren. Die Unternehmen ändern ihre Richtlinien, um seinen Forderungen nachzukommen. Infolgedessen wurden Tausende von Amerikanern zum Schweigen gebracht, weil sie die von der Regierung genehmigten Covid-Erzählungen infrage gestellt hatten.“ Grundsätzlich ging es in der Moderation nicht darum, welche Beiträge „wahr“ oder „unwahr“ sind, sondern ob sie „Schaden anrichten“ können.

Doch nicht nur Regierungen hatten ein großes Interesse daran, den Diskurs so homogen wie möglich zu halten. Denn sie befürchteten mögliche kollektive Paniken – ausgelöst durch Versorgungsunsicherheiten, den Verlust von Deutungshoheit oder den Wegfall systemrelevanter Infrastruktur. Auch einigen Unternehmen war daran gelegen, kritische Stimmen aus dem gesellschaftlichen Diskurs auszuklammern. Dazu gehörten die größten Profiteure der Pandemie: Pharmaunternehmen wie Pfizer und Moderna. Aus den von Alex Berenson veröffentlichten „Twitter Files“ #13 geht hervor, dass Pfizer-Direktor Scott Gottlieb „zersetzende“ Tweets von der Plattformen entfernen lassen wollte. Im dargelegten Mailverkehr zwischen Gottlieb und Todd O‘ Boyle, Senior Manager für Public Policy bei Twitter, geht es insbesondere um einen Tweet von Brett P. Grior, Kinderarzt und ehemaliger US Assistant Secretary für Gesundheit.

Grior twitterte über eine israelische Studie, die darlegte, dass die Immunität gegen das Virus nach einer Corona-Infektion wirksamer als nach einer Impfung sei. Er führte weiter aus, dass man sich impfen lassen solle, falls man nicht bereits eine Covid-Infektion durchlaufen hätte. Der Pfizer-Direktor befürchtete, dass eben dieser Tweet „viral“ gehen könnte und schrieb Twitter in einer Email: „Das ist die Art von Zeug, die zersetzend ist. Hier zieht er (Brett P. Grior) eine umfassende Schlussfolgerung aus einer einzigen retrospektiven Studie in Israel, die noch keinem Peer-Review unterzogen wurde. Aber dieser Tweet wird am Ende viral gehen und die Berichterstattung vorantreiben.“ Der Tweet wurde als „misleading“ gekennzeichnet und verschwand dadurch aus den Twitter-Feeds der meisten Nutzer.

Außerdem wurde Twitter im Dezember 2020 vom deutschen Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) und Pfizer-Biontech gewarnt, dass großangelegte Kampagnen geplant seien, die das Management des Impfstoffherstellers negativ darstellen wollten. Gemeint waren internationalen Initiativen, die sich für eine Freigabe der Patente für die Corona-Impfstoffe eingesetzt hatten. Damals war die Versorgungssicherheit mit Impfstoffen vor allem für ärmere Länder nicht gewährleistet. Eine Patent-Freigabe hätte es Ländern überall auf der Welt ermöglicht, eigene generische Impfstoffe oder andere Therapeutika zu entwickeln.

Biontech will sich verstecken

Am 12. Dezember 2020 schrieb die Biontech-Sprecherin Jasmina Alatovic eine Email an die Twitter-Mitarbeiterin Nina Morschhäuser, in der sie das Unternehmen bat, den Biontech-Account für die Dauer von zwei Tagen zu „verstecken“ und das Unternehmen so vor kritischen Kommentaren der Twitter-Nutzer zu schützen: „Das BSI hat am Freitagabend, 11.12.2020 einen Hinweis über eine Online-Kampagne gegen Impfstoffhersteller erhalten“, schrieb Alatovic: „Für Montag, 14.12.2020 rufen Aktivisten im Namen einer ‚gerechten’ COVID-19 Impfstoffverteilung zu Online-Kampagnen auf. Im Rahmen der Online-Kampagnen wird etwa dazu aufgerufen, BioNTech und unsere Geschäftsführer über soziale Medien zu kontaktieren. Könnten Sie uns helfen, unseren BioNTech Twitter Account am Sonntag für zwei Tage zu ‚verstecken‘, sodass Kommentare nicht mehr möglich sind?“ Ob Twitter diesem Wunsch auch entsprochen hat, geht nicht aus den Dokumenten hervor.

Eine weitere Einflussgröße ist die Kampagne „Stronger“ des Public Good Projects, einer gemeinnützigen Organisation im Bereich der öffentlichen Gesundheit. Die Organisation arbeitete in engem Kontakt mit Twitter an der Entwicklung von Bots, die Fehlinformationen zu Impfstoffen zensieren sollten. Wie Lee Fang in „The Intercept“ dargelegt hat, wurde die Kampagne vollständig von der Biotechnology Innovation Organization finanziert, einer Lobbygruppe der Pharmaindustrie. „Viele der von Stronger markierten Tweets“, so Fang, „enthielten Unwahrheiten; darunter die Behauptung, Impfstoffe enthielten Mikrochips und seien dazu bestimmt, Menschen absichtlich zu töten. Andere wiederum betrafen eine Grauzone in der Impfpolitik, wie etwa kritische Inhalte zu Impfpässen oder staatlichen Impfpflichten.“

Auch deutsche Twitter-Mitarbeiter markierten Tweets, die möglicherweise gegen Twitters „Content Policy“ verstoßen haben könnten. So identifizierte Holger Kersting, Twitter-Sprecher in Deutschland, in einer Korrespondenz einzelne Tweets, die sich für eine „#PeoplesVaccine“ – also patentfreie Impfstoffe – einsetzten, darunter der Tweet eines pensionierten Maurers aus einer Kleinstadt bei Liverpool: Der Nutzer namens Terry Brough sorgte sich darin um „arme Länder“ und forderte die Impfstoffhersteller dazu auf, sich darum zu kümmern, „dass jeder sicher sein kann“.

In welchem Umfang deutsche und europäische Twitter-Mitarbeiter Einfluss auf die Debatte rund um Covid-19 nahmen, geht leider aus den verfügbaren Dokumenten nicht hervor. Da in Europa relativ strenge Desinformations-Regularien gelten, darf man aber mutmaßen, dass ein ähnliches Vorgehen auch in Deutschland praktiziert wurde.

Grundlegend galt in den letzten Jahren: Covid war auch ein Brennglas auf Umstände, die der Veränderung bedürfen. Ob es nun um die Würdigung von systemrelevanter Arbeit geht, klügere Schulpolitik, den Ausbau von digitaler Infrastruktur – all das muss sich deutlich verbessern. Doch auch die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen und unsere Ideen teilen, sollte geistesoffener und unideologischer werden. Man sollte sich fragen, ob es überhaupt möglich ist, in einem so komplexen wissenschaftlichen Feld voreilig Studien und Theorien als „falsch“ oder „unwahr“ abzustempeln.

Ein evidenzbasierter Austausch braucht Zeit, bis er „falsifiziert“ oder „verifiziert“ werden kann. Daten können erst durch den Faktor Zeit wirklich evaluiert werden. Daher ist es erstaunlich, wie schnell Social-Media-Unternehmen und Regierungen diese Urteile fällen konnten. Hier geht es nicht um die offensichtlichen Extreme, sondern um die Grauzone eines zu stark regulierten Diskurses. Denn gerade in dieser Zone findet ein Austausch von Ideen statt, die im Widerspruch stehen. Ein pluralistischer Diskurs heißt eben auch, diese Widersprüche zuzulassen und sich auf Meinungen, Ideen und Konzepte einzulassen, ohne voreilige Werturteile auszusprechen. Das ist das Wesen der Dialektik und des wissenschaftlichen Diskurses.

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