17 Februar 2023

Twitter Files: Das ganze Ausmaß der Beeinflussung (WELT+)

Elon Musk, Hassobjekt der Linken
Twitter Files
Das ganze Ausmaß der Beeinflussung (WELT+)
Jahrelang haben Regierungen weltweit beeinflusst, welche Informationen wir zu sehen bekommen und welche nicht. Doch in Deutschland interessiert sich kaum jemand für die „Twitter Files“. Dabei muss man davon ausgehen, dass diese Praxis auch bei uns zum Einsatz kommt – auch heute noch.

Twitter, Meta – ehemals Facebook –, Google und Microsoft, um nur einige der Big Player in Sachen Social Media zu nennen, sind immer wieder mit intransparenter Einflussnahme auf den öffentlichen Diskurs aufgefallen. In der Vergangenheit tauchten eindeutige Indizien für fragwürdigen Machtmissbrauch im Rahmen der Content-Politik eben dieser Plattformen auf. So sind bestimmte Themen, vielleicht auch durch das Content-Management einiger Akteure, nie lange in den relevanten Timelines erhalten geblieben.

Was ist genau passiert? Hierfür sollten wir einen Schritt zurücktreten. Zum einen lässt sich eine Einflussnahme seitens verschiedener Regierungen nennen. Twitter soll sogenannte Hot Button-Inhalte, also brisante, gesellschaftlich polarisierende Themen, auf Wunsch verschiedener Regierungen von der Plattform entfernt haben.

2014, zur Zeit der Annexion der Krim, hat Twitter pro-ukrainische Accounts auf Anfrage des Kreml in Russland „geblacklisted“. Unter „Blacklisting“ oder „Shadowbanning“ versteht man das Verbergen bestimmter Accounts. Das bedeutet, dass User, Tweets oder andere Inhalte nicht auf der Plattform gefunden werden können. Diese Art der Content-Moderation hat Twitter bisher vehement geleugnet. Erst durch die nun veröffentlichten „Twitter Files“, eine Sammlung interner Dokumente, konnte aufgedeckt werden, dass eben diese Form der Einflussnahme durchaus praktiziert wurde.
Twitter sperrte im selben Jahr, auch das zeigen diese Dokumente, auch Nutzerkonten aus der Türkei, die Korruptionsvorwürfe gegen das Umfeld des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan verbreiteten. Im Februar 2021 wurden auf Druck der indischen Regierung etwa 250 Accounts blockiert, die die Regierungspartei (BJP) kritisiert hatten. Gegenstand der Debatte waren die Agrarpolitik der Regierung und die vorangegangenen friedlichen Bauernproteste. In Pakistan soll mit dem Wissen des damaligen Twitter-CEOs Jack Dorsey sogar die staatliche Blasphemie-Politik der Regierung mit in die Content-Politik eingeflossen sein. So konnten beispielsweise Bilder des islamischen Propheten Mohammed nicht angezeigt werden. Dies galt sogar für pakistanische User, die sich nicht in Pakistan aufhielten.

Das klingt zuerst einmal nach Zensur. Doch bei genauerem Hinsehen richtete sich Twitter nach den staatlichen Entscheidungsträgern und Gesetzen im jeweiligen Land, die diese Form der Einflussnahme formal durchaus legitimierten. Anzumerken ist, dass jedes große Techunternehmen, das sich mit Social-Media-Inhalten auseinandersetzt, mit solchen Prozessen zu kämpfen hat. Die Art und Weise der Moderation ist fast überall gleich. Hier unterscheidet sich lediglich, wie zentralisiert oder dezentralisiert die Vorgänge ablaufen. Twitter hat diese Entscheidungen in einem hohen Maß zentralisiert abgewickelt und gleichzeitig an falscher Stelle outgesourct, was zum Verhängnis des Unternehmens werden könnte.

Dies führt uns zum Kern der aktuellen Debatte rund um die Content-Moderation auf Twitter: die „Twitter Files“. Die Dokumente, die vom neuen Twitter-CEO Elon Musk bereitgestellt und von den Journalisten Matt Taibbi, Bari Weiss, Michael Shellenberger und Lee Fang in ellenlangen Twitter-Threads veröffentlicht wurden, werfen ein neues Licht auf die Situation.

Ich finde bemerkenswert, wie wenig Interesse für dieses Thema auch hierzulande besteht. Auch wenn es sich um „Cherrypicked Topics“ handelt, sind einige davon durchaus relevant. Die Veröffentlichungen wurden als reger „PR“-Trick oder als Ablenkungsmanöver des neuen CEO Elon Musk abgetan. Ja, auch das FBI stempelte die Journalisten rund um Taibbi und Weiss als „Verschwörungstheoretiker“ ab, die „Desinformation“ verbreiteten.

Doch was ist dran an den „Twitter Files“? Hierfür muss man die unterschiedlichen Sachverhalte einzeln betrachten, manche sind brisanter als andere. Die Hunter-Biden-Story: Die Geschichte um die vermeintlich gehackten Materialien zum Laptop von Hunter Biden, der dubiose Geschäfte in der Ukraine machte und dabei seinen einflussreichen Vater Joe Biden nutzte, ist immer wieder Gegenstand der „Twitter Files“. Die meisten Social-Media-Unternehmen standen 2020 unter enormen Druck, auf mögliche russische Einflussnahme während der US-Wahl zu achten. Bis kurz vor der Veröffentlichung durch die „New York Post“ gab es für viele dieser Unternehmen regelmäßige Briefings durch das FBI und andere Regierungsorganisationen wie die CIA. „Nur damit Sie es wissen, Sie sollten in höchster Alarmbereitschaft sein, wir dachten, dass es eine Menge russischer Propaganda bei der Wahl 2016 gab. Wir haben bemerkt, dass es eine Art Dump geben wird, der dem ähnlich ist. Seien Sie also einfach wachsam“, zitierte Mark Zuckerberg den Wortlaut des FBI-Briefings, das kurz vor dem Release des „New York Post“-Artikels stattfand.

Twitter hatte anders als Meta in seine Content Policy erst einen neuen Paragrafen zu „Hacked Materials“ eingeführt, was unweigerlich zu dem schon bekannten Fehltritt geführt haben wird. Denn im Gegensatz zu Meta hat sich Twitter, so kann man es auch aus der internen Kommunikation der Twitter-Mitarbeiter entnehmen, entschieden, den Artikel der „New York Post“ als „Hacked Material“ zu klassifizieren und somit die Verbreitung auf der Plattform zu unterbinden. Accounts, die den Artikel teilten, wurden kurzerhand „suspendiert“.

Alles war echt

Kurz darauf stellte sich heraus: Die Materialien über Hunter Biden waren echt, es lag kein Hack vor. Aus den Files lässt sich nicht entnehmen, dass das FBI ausdrücklich auf die Hunter-Biden-Story hingewiesen hat. Auch Anfragen aus dem Wahlkampfteam von Joe Biden deuten nicht auf ein First-Amendment-Issue hin – also einen politischen Verstoß gegen den Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung, der die Rede- und Pressefreiheit schützt. Die Entscheidung, Inhalte zu löschen oder zurückzuhalten, lag immer zu hundert Prozent bei Twitter.

Dennoch scheinen das Timing und die immer wiederkehrenden Briefings seitens des FBI zumindest auf der psychologischen Ebene bei den Content-Moderatoren – übrigens zum größten Teil Demokraten – eine entscheidende Hebelfunktion besessen zu haben. Als der „New York Post“-Artikel erschien, sagte Yoel Roth, Twitters damaliger Chief of Security: „Das hat alle meine fein abgestimmten APT28-Hack-and-Leap-Kampagnen-Alarmglocken ausgelöst.“ ATP28 ist eine bekannte Hackergruppe aus Russland, die immer wieder Gegenstand der FBI-Briefings gewesen sein soll. Auch im Nachgang wurde von den Twitter-Mitarbeitern keine nennenswerte Einflussnahme festgestellt.

Auch die Suspendierung von Donald Trump wirft einige Fragen auf. Aus den Dokumenten kann man klar entnehmen, dass Twitter-Mitarbeiter abgewogen haben, wann und wie man Donald Trump von der Plattform verbannen könnte. Als schlussendlich „letzter Strike“ galt der Tweet, mit dem Donald Trump 75.000.000 Amerikaner lobte, für ihn gestimmt zu haben. Dass dieser Tweet auch die Kapitol-Stürmer eingeschlossen haben soll, lässt sich nur zwischen den Zeilen lesen, aber für Yoel Roth galt er als durch die Blume gesprochene „Glorification of Violence“, als Gewaltverherrlichung, die zur Sperrung von Trump führte.

Inwiefern Trumps Social-Media-Verhalten zur Radikalisierung der Massen beigetragen hat, möchte ich hier nicht erörtern. Die Frage, die man sich eher stellen sollte, ist: Inwiefern sollten Mitarbeiter eines Big-Tech-Unternehmens darüber entscheiden, amtierende Regierungsträger bzw. andere politische Figuren des öffentlichen Diskurses von der digitalen Bildfläche verschwinden zu lassen? Wie viel Macht will man Silicon-Valley-Aktivisten zugestehen? Und warum traf es dann nicht andere, die ein ähnliches Verhalten an den Tag legten?

Auch Desinformationskampagnen des US-Militärs wurden mithilfe von Twitter und Meta, wissentlich oder unwissentlich, in den vergangenen Jahren unterstützt. So deckte ein im Sommer 2022 erschienener Report des Cyber Policy Centers aus Stanford auf, dass das US-Militär groß angelegte Kampagnen in Russland, China und im Iran über ehemalige Regierungsaccounts durchführte (gewhitelistete Accounts, die höhere Reichweite hatten und weniger Kontrollen unterlagen), um ein pro-US-amerikanisches Bild in den Territorien zu erzeugen. Eine Einflussnahme, vor der die US-Regierung im eigenen Land ja immer warnte.

Das überrascht nicht. Interessant ist, dass Accounts aus dem Stanford Report auch in den Datensätzen der „Twitter Files“ auftauchten, die der Journalist Lee Fang über „The Intercept“ veröffentlicht hat. Die militärischen „PsyOps“, Operationen der psychologischen Kriegsführung, sind dafür bekannt, mithilfe fragwürdiger Methoden politische Stimmungen in Ländern erzeugen zu wollen, die im Interesse der US-amerikanischen Außenpolitik sind. Dass unter anderem Twitter kaum intervenierte, wirkt absurd, da dort immer wieder betont wurde, dass Twitter keine staatliche Einflussnahme in Form solcher Kampagnen dulde.

Einfluss auf den Corona-Diskurs

Die Einflussnahme auf Inhalte im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie ist ein weiterer Punkt in der Content Agenda von Twitter. So wurden renommierte Wissenschaftler wie Jay Bhattacharya, Professor in der School of Medicine in Stanford, auf Twitter geblacklistet. Er und viele andere Akteure, die sich in der „Great Barrington Deklaration“ gegen Schulschließungen ausgesprochen haben, wurden so vom gesellschaftlichen Diskurs unwissentlich ausgeschlossen.

Auch die neuesten Veröffentlichungen von David Zweig, der unter anderem für „The Atlantic“, „Wired“ und die „New York Times“ schreibt, bestätigen die Vermutung einer staatlich gesteuerten Informationspolitik im Kontext von Corona. Dies passierte unter Trumps und Bidens Präsidentschaft. Und auch hier musste nicht nur Twitter, sondern auch Google, Meta, Microsoft und andere Unternehmen den Anforderungen der Regierungsbehörde CDC (Center of Disease Control) entsprechen.

So wurden Tweets des Epidemiologen der Harvard School of Medicine, Martin Kulldorf, als „irreführend“ klassifiziert, weil er die Frage stellte, ob Impfungen für jede Altersgruppe notwendig seien. Selbst Accounts, die offizielle Statistiken des CDC teilten und diese vorsichtig anzweifelten, wurden gekennzeichnet. Ich wage zu vermuten, dass diese Form der Content-Politik auch hierzulande und im europäischen Kontext durchaus praktiziert worden ist beziehungsweise immer noch praktiziert wird.

Doch was heißt das alles? Die verantwortlichen Akteure haben auf Grundlage der ihnen vorliegenden Fakten gehandelt. Auch wenn das politische Ungleichgewicht innerhalb des Unternehmens durchaus zu kognitiven Verzerrungseffekten in den Entscheidungen geführt haben wird. Wer sich einmal mit der schieren Datenflut und den Inhalten auseinandergesetzt hat und den staatlichen Vorgaben, die solche Tech-Unternehmen erfüllen müssen, erkennt relativ schnell: Es ist ein Hochseilakt auf Zahnseide. Twitter macht auch unter seiner neuen Führung durch den CEO Elon Musk, was das angeht, keinen „besseren“ Job – aber zumindest wird in bestimmten Aspekten des Unternehmens für die lang erhoffte Transparenz gesorgt.
Und genau darum geht es: Transparenz. Die Glaubwürdigkeit verliert sich in der Verschleierung. User, die nicht wissen, ob und warum sie „geblacklistet“ wurden, oder der Ausschluss von Wissenschaftlern aus der Diskussion über global relevante Themen sind durchaus als demokratiegefährdend zu betrachten. Hier sollten aber vor allem auch regierungsnahe Organisationen dafür zur Rechenschaft gezogen werden, eine so stringente Content-Politik einzufordern. Nicht zuletzt hat die Europäische Kommission Elon Musk mit harten Sanktionen gedroht, falls dieser nicht härter gegen „Desinformationen“ im Kontext der Corona-Pandemie vorgeht. Doch wer bestimmt hier eigentlich, was Desinformation ist und was nicht?

Wir sollten hellhörig werden, wenn Big-Tech-Unternehmen auf Druck von Regierungsapparaten ihre Content-Politik anpassen müssen – vor allem, wenn die Grenzen des ethisch Vertretbaren immer weiter ausgereizt werden. Jack Dorsey und der NSA-Whistleblower Edward Snowden schlagen hierfür eine dezentralisierte Lösung vor, die fernab von jeglichen Regierungseinflüssen ist und die Entscheidungen darüber, welcher Content sichtbar ist, zurück in die Hände der User gibt.

Freedom of Speech, but not of reach, wie Musk es ausdrückt, Meinungsfreiheit, nicht Freiheit der Reichweite: Ich bin dafür.

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