Ende Dezember präsentierte Christian Drosten, der Chefvirologe der Berliner Charité, in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ eine neue Idee: Wissenschaftler, die ihre Aussagen nicht mit Fachliteratur, der Mehrheitsmeinung und der eigenen Berufserfahrung abgleichen, sollten bestraft werden. „Eine Sanktion aus dem professionellen Umfeld“ solle es geben, so der 50-Jährige. Es müsse künftig verhindert werden, dass „einige wenige, aber besonders lautstarke Wissenschaftler oder Ärzte wieder und wieder mit großer Vehemenz falsche Behauptungen, die Menschenleben kosten, in die Medien tragen“.
Bloß: Was war richtig und was falsch in der Pandemie? Wissenschaft lebt vom Diskurs, es gibt kein richtig und falsch – eine Erkenntnis gilt immer nur so lange, bis sie von einer besser begründeten Erkenntnis widerlegt wird. Und so waren drei Jahre geprägt vom Kampf unter Forschern um die Deutungshoheit über die richtige Politik. Aussagen Drostens wie jene im „Tagesspiegel“ zeigen, wie dieser geführt wurde: Über die Medien, in Interviews, Talkshows und per E-Mail begann eine Einteilung in gute und schlechte Wissenschaftler.
Von der Spitze der Deutschen Gesellschaft für Virologie herab diktierte der mittlerweile verstorbene Präsident Bernhard Fleckenstein, wie es zu laufen habe – das zeigen E-Mails, die WELT AM SONNTAG vorliegen. Am 22. April 2020 schickte er eine Nachricht an die deutschen C4-Professoren der Virologie, darunter Drosten, Alexander Kekulé und Hendrik Streeck.
Es gebe die „Befürchtung, dass die Virologie pauschal in Haft
genommen wird für die Kollateralschäden umstrittener
Präventionsmaßnahmen“, schrieb er. Man müsse so schnell wie möglich
gegensteuern. Was er meinte, wurde in einer zweiten Mail deutlich – an
den damaligen Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel. In Kopie:
die C4-Professoren.
Fleckenstein legte dem Politiker „die verantwortungsvolle Arbeit unseres Kollegen Christian Drosten“ ans Herz, der „international hohes wissenschaftliches Ansehen genießt und seine Worte aufs Sorgfältigste wählt“.
Unrühmlich dagegen habe sich ein Kollege an einer ostdeutschen Universität hervorgetan, der aber „nachweislich wissenschaftlich unbedeutend“ sei. In einer dritten E-Mail lobte Fleckenstein erneut Drosten, der ein „international hoch angesehener Wissenschaftler“ sei, anders als jener „peinliche Ausreißer“, der mit aufdringlichen Ratschlägen daher komme und die Virologie kompromittiere: „Bitte sehen Sie mir nach, wenn ich seinen Namen nicht aussprechen möchte.“ Mit dem ostdeutschen Uni-Professor konnte nur Kekulé gemeint sein.
„Querdenker“-Vorwurf gegen Streeck
Dabei drängten einige Wissenschaftler früh darauf, unterschiedliche
Meinungen zu hören. Zu ihnen gehört Georg Winterer, Mediziner und
Neurowissenschaftler an der Charité, der im Frühjahr 2020 die Leitung
für die „Corona-Bund-Studie“ übernahm. Ein interdisziplinäres Team
sollte herausfinden, welche Folgen die Pandemie hat. Für die Virologie
saß Christian Drosten im Team. Im September 2020 kam es dann zum Streit,
als Winterer auch Streeck aufnehmen wollte. Winterer warf Drosten vor,
Streeck diffamiert zu haben. In einer E-Mail an das Konsortium, die WELT
AM SONNTAG vorliegt, entgegnete Drosten: „Ich habe Hendrik Streeck
nicht diffamiert, wie Sie behaupten, sondern im Sinne des Konsortiums zu
bedenken gegeben, dass seine Äußerungen sich mit dem Gedankenspektrum
von ‚Querdenkern‘ überschneiden.“ Ein schwerer Vorwurf. „Wie sich
herausstellte, prallten Welten aufeinander“, sagt Winterer heute: „Ein
kontroverser Diskurs war fast unmöglich.“ Streeck blieb außen vor.
Auch öffentlich kämpfte Drosten um die Deutungshoheit, etwa als er
mit anderen Wissenschaftlern die These, wonach Covid im Labor entstand, im Februar 2020 im Fachmagazin „Lancet“
als „Verschwörungstheorie“ abtat. Und er diskreditierte
Forscherkollegen – so wie die Autoren der „Great Barrington
Declaration“, mit der sich Forscher gegen Lockdowns starkmachten. Der
Epidemiologe Martin Kulldorff, Professor an der Harvard Medical School,
gehörte genauso zu den Verfassern wie der Stanford-Mediziner Jay
Bhattacharay. Drosten kanzelte sie im NDR-Podcast als „Pseudo-Experten“
ab.
Zu den Wissenschaftlern, die gegen die deutsche Politik
argumentierten, gehörte auch eine Gruppe um den Gesundheitsökonomen
Matthias Schrappe. Im Mai 2021 schrieb sie in einer Stellungnahme, dass
der Mangel an Intensivbetten künstlich herbeigeführt worden sei. Drosten
selbst, wie gerufen von der Politik, schaltete sich ein. In einer WELT
AM SONNTAG vorliegenden E-Mail an die Pflegeberaterin und Co-Autorin
Hedwig François-Kettner bemängelte er „falsche Argumente“ und eine
„Vielzahl von Denkfehlern“. Er kündigte an: „In diesen Tagen werden die
Medien dieses und auch frühere Machwerke Ihrer Gruppe analysieren.“
Was war falsch an den Äußerungen? Arbeitete er mit Journalisten an Texten über andersdenkende Wissenschaftler? Eine Charité-Sprecherin teilte WELT AM SONNTAG mit, Drosten habe „diesbezüglich zuvor keine Kontakte zu Medienquellen“ gehabt. Die Frage, was falsch gewesen sei, wurde nicht beantwortet. Es bestehe „kein Interesse an einer ausbreitenden Kommentierung von aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten und Äußerungen Dritter, um einen ‚Virologen-Streit‘ fortzusetzen“. Die Darstellung der Sachverhalte in der Anfrage sei „verkürzt“ und würde „weder den zeitlichen Abläufen noch den zutreffenden Äußerungen und Gegenäußerungen in ihrem Kontext gerecht“.
Mehrere Forscher erklärten, Drostens Äußerungen seien „wie 1000 Nadelstiche gewesen“. Kollegen seien aus der Gemeinschaft ausgeschlossen worden. Für sie sei es schwieriger geworden, Fördermittel zu bekommen. Kekulé, über den Drosten bei Twitter geschrieben hatte, er spiele „in unserer Community“ keine Rolle, sagte dieser Zeitung: „Christian Drosten hat eine neue Disziplin in der Forschungslandschaft eröffnet. Einander vorzuwerfen, kein richtiger Virologe zu sein. Dass es so persönlich wird, das kannten wir so vorher nicht.“ Dazu schrieb eine Charité-Sprecherin schlicht, Drosten habe Kekulé nicht vorgeworfen, kein richtiger Virologe zu sein.“
Wackelige Kinder-Studie mit Folgen
Dabei lag auch Drosten naturgemäß mal daneben. Seine Vermutung etwa, wonach Kinder „wahrscheinlich genauso infektiös sind wie Erwachsene“, stützte sich auf eine Studie vom April 2020, die von Anfang an umstritten war. Dennoch berief sich die Politik auf Drostens Behauptung. Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) sagte: „Christian Drosten hat uns die Schließung der Schulen empfohlen.“ Eine Entscheidung, die inzwischen selbst Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) für einen Fehler hält. Auch Drostens Theorie von der Chance auf Herdenimmunität durch Impfung hielt sich lange als unumstößliche Erkenntnis der Wissenschaft. Doch sie war falsch.
Aus Kreisen der alten Bundesregierung heißt es gegenüber WELT AM SONNTAG: „Im Nachhinein wäre es besser gewesen, früher einen institutionalisierten Beraterkreis zu bilden. Das hätte dem Eindruck entgegengewirkt, dass einige Experten bevorzugt gehört wurden.“ Holger Wormer, Professor für Wissenschaftsjournalismus an der TU Dortmund, sagte, er habe sich schon gewundert, „wie brav sonst kritische Journalisten“ manche Interviews geführt hätten. An der Expertise von Drosten habe er zwar keine Zweifel: „Das bedeutet aber nicht, dass er sich nicht auch irren kann. Und es bedeutet erst recht nicht, dass man als Journalist weniger kritisch nachfragen muss.“
Im Gedächtnis bleiben wird etwa jenes Interview mit Drosten im Januar 2021 im „Spiegel“. „Einen größeren Schaden als Corona-Leugner haben wohl Experten angerichtet, die immer wieder gegen wissenschaftlich begründete Maßnahmen argumentiert haben“, behaupteten die Reporter da und nannten explizit Jonas Schmidt-Chanasit und Streeck. Diese hätten behauptet, man könne Risikogruppen bei hohen Fallzahlen schützen. Dabei sei doch klar, dass das nicht gehe. Dann folgte die Frage an den Charité-Mann: „Wann platzt Ihnen der Kragen?“
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