Deshalb hat das Grundgesetz das Verfassungsgericht erfunden. Es soll kontrollieren, ob alle Staatsorgane sich an die Verfassung halten. Als neutrale Kraft die Verfassung vor der Politik und dem Staat zu schützen, das ist seine Aufgabe. Karlsruhe hat sich selbst öfter als „Hüter der Verfassung“ bezeichnet. Auch wenn darin eine gewisse Selbstüberschätzung aufscheint, trifft das doch den Kern: Karlsruhe soll mit den Mitteln des Rechts sicherstellen, dass auch in hochpolitischen Konfliktfällen die Verfassung beachtet wird.
Dieses Modell funktioniert nur, wenn das Gericht parteipolitisch völlig neutral ist und unvoreingenommen an die Konfliktfälle herangeht. Es darf dem Gericht nicht darum gehen, bestimmte politische Ziele zu fördern. Seine Aufgabe ist, die Verfassung zu schützen. Es ist kein Ersatzgesetzgeber, der eine politische Agenda unter dem Deckmantel der Rechtsprechung vorantreiben darf.
Karlsruhe braucht Richter, keine Politiker
Vor
diesem Hintergrund ist die Jobbeschreibung für Verfassungsrichter klar:
Sie müssen Richter sein, keine verkappten Politiker oder Aktivisten.
Selbstverständlich dürfen sie politische Grundüberzeugungen und
Meinungen haben. Sie sind ja nicht nur Richter, sondern auch Bürger.
Wenn sie aber eine eigene politische Agenda haben, die sie in Karlsruhe
verfolgen wollen, sind sie dort falsch. In Karlsruhe geht es
ausschließlich um die Verfassung. Verfassungsrichter messen das
politische Verhalten anderer Institutionen des Staates am Maßstab der
Verfassung. Was darüber hinausgeht, ist Amtsanmaßung und
Rechtsmissbrauch. Wer Verfassungsrichter werden will, muss diese
Beschränkung akzeptieren, ja verinnerlichen. Nur dann sind
unvoreingenommene, parteipolitisch neutrale Entscheidungen möglich.
Ob Frauke Brosius-Gersdorf, die Kandidatin, die von der SPD vorgeschlagen wurde, diese Selbstbeschränkung schaffen würde? Das ist mehr als zweifelhaft. Zu dezidiert sind ihre politischen Ansichten, zu aktiv und vehement vertritt sie sie, zu wenig Kompromissbereitschaft ist zu sehen. Sie hat in einem Papier, das sie während der Corona-Pandemie veröffentlicht hat, den Gedanken vertreten, der Staat habe die Pflicht, eine Impfpflicht einzuführen. Pflicht zur Einführung einer Impfpflicht? Das war eine deutliche und kompromisslose Hardliner-Position.
Ähnlich extrem und kompromisslos ist ihre Position im Abtreibungsrecht. Sie ist für eine vollständige Liberalisierung. Das ist für sie kein Problem, denn sie sieht gute Gründe dafür, dass die Menschenwürde erst mit der Geburt des Menschen beginnt. Diese Auffassung ignoriert medizinische Forschung – und widerspricht der bisherigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichts. Ihr Bild ist das einer Kämpferin, die kompromisslos für ihre Ansichten streitet. Das ist durchaus sympathisch. Aber wie soll sie eine neutrale Richterin sein, die unvoreingenommen in politischen Konflikten Recht spricht?
Parteipolitisierung des Verfassungsgerichts
Wer
Richter in Karlsruhe wird, entscheidet die Politik. Ob das gut ist oder
nicht, darüber kann man streiten. Es ist aber die geltende Rechtslage.
Im Wechsel schicken Bundestag und Bundesrat ihre Kandidaten ans
Bundesverfassungsgericht. Schon immer spielten dabei parteipolitische
Überlegungen, Machtspiele und Kompromisspakete eine große Rolle. Das ist
natürlich kein Wunder: Politische Institutionen entscheiden nach
politischen Kriterien. Deshalb ist es seit langem üblich, dass Parteien
Persönlichkeiten für das Richteramt vorschlagen, die ihnen politisch
nahestehen. Wenig überraschend gab es auch oft Richter, die Mitglied
einer politischen Partei waren. Aber immerhin achteten die Parteien
grundsätzlich – nicht immer – darauf, keine aktiven und hervorragenden
Parteipolitiker vorzuschlagen.
Seit einigen Jahren hat sich das geändert. Die Parteien halten sich politisch immer weniger zurück. Der entscheidende Tabubruch war die Ernennung von Stefan Harbarth zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts. Bevor er 2018 nach Karlsruhe ging, war er Mitglied des Bundesvorstands der CDU und stellvertretender Vorsitzender der CDU-Bundestagsfraktion. Er galt als Vertrauter von Kanzlerin Merkel. Ein einflussreicher aktiver Politiker einer Regierungspartei wird zum Verfassungsrichter in Karlsruhe gemacht? Das war eine dreiste Aktion der damaligen Bundeskanzlerin, mit der sie das Gericht zum Spielball politischer Machtinteressen gemacht hat. Sie hat absolut kein Gespür für die Feinheiten der Gewaltenteilung im Grundgesetz gezeigt. Und schlimmer noch: Sie hatte – nicht zum ersten Mal – keinen Respekt vor dem Geist der Verfassung.
Politik, getarnt als Verfassungsrecht
Diese
respektlose Politik gegenüber dem Geist der Verfassung setzt sich fort.
Die SPD will ihre Kandidatinnen für Karlsruhe durchsetzen. Die CDU
scheint das mitmachen zu wollen. Sie hat wohl Angst, ihren (kleineren)
Koalitionspartner zu verärgern. Lieber beschädigt man das Gericht in
Karlsruhe weiter, als im Machtspiel nachzugeben. Das ist verhängnisvoll.
Je politisierter das Gericht wird, desto weniger Einfluss wird es
haben. Denn sein Einfluss und das Vertrauen der Bürger beruhen auf
seiner Rolle als unparteiischer, objektiver Hüter der Verfassung.
Inzwischen wird es zunehmend als politischer Player wahrgenommen, nicht
mehr als neutrale Instanz, die über der Politik schwebt. Ein
politisiertes Gericht spricht nicht mehr Recht. Es macht Politik,
getarnt als Recht.
Was sehen wir hier? Eine Politik, die keinen Respekt vor der Verfassung
hat, beschädigt rücksichtslos eine Instanz, die für das Funktionieren
des Verfassungsstaates unverzichtbar ist. Im dauernden Ringen zwischen
Macht und Recht wird das Recht zunehmend zum Verlierer. Man soll nicht
immer schwarzmalen, aber das wird langfristig schlimme Folgen haben –
für die Politik, für die Gesellschaft und für die Freiheit der Bürger.
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