13 Juli 2025

Die Juristin und die Menschenwürde - Frauke Brosius-Gersdorf: Eine unwählbare Kandidatin (Cicero)

Die Juristin und die Menschenwürde
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Frauke Brosius-Gersdorf: Eine unwählbare Kandidatin (Cicero)
Die Angriffe der Rechtswissenschaftlerin Frauke Brosius-Gersdorf auf die Menschenwürde stehen nicht nur im Widerspruch zu den Werten des Grundgesetzes. Ihre Argumente sind auch philosophisch und juristisch überaus dürftig. Schon deshalb ist sie als Verfassungsrichterin ungeeignet.
VON MATHIAS BRODKORB am 11. Juli 2025 12 min
Eigentlich sollte Frauke Brosius-Gersdorf auf Vorschlag der SPD heute zur Richterin am Bundesverfassungsgericht gewählt werden. Friedrich Merz erklärte in dieser Woche noch, er habe damit kein Problem. Aber nun wackeln die Mehrheiten doch. In den Unionsfraktionen wächst der Widerstand. Sie wollen die Wahl von der Tagesordnung des Bundestages nehmen lassen. Dafür gibt es gute Gründe.
Was wurde ihr im Vorfeld nicht alles vorgeworfen: Sie sei eine „linke Aktivistin“ und habe schon deshalb nichts im höchsten deutschen Gericht verloren. Der Plagiatsjäger Stefan Weber hält es inzwischen sogar für möglich, dass sie bei ihrer Doktorarbeit von ihrem eigenen Mann abgeschrieben habe (oder umgekehrt). Jedenfalls spricht er von „Verdachtsstellen“. Viel schwerwiegender aber war und ist etwas anderes.
Schon frühzeitig zirkulierte ein Zitat aus ihrem Aufsatz „Menschenwürdegarantie und Lebensrecht für das Ungeborene“ (2024) aus einer Festschrift für den Rechtsgelehrten Horst Dreier im Internet. Das Zitat lautet: „Die Annahme, dass die Menschenwürde überall gelte, wo menschliches Leben existiert, ist ein biologistisch-naturalistischer Fehlschluss. Menschenwürde- und Lebensschutz sind rechtlich entkoppelt.“ Die beiden Sätze sind nicht ohne weiteres verständlich. Wir werden daher etwas tiefer bohren, um der Sache auf den Grund zu gehen.
Insgesamt formuliert Brosius-Gersdorf in ihrem Aufsatz drei Argumente dafür, warum die Tötung eines menschlichen Fötus nicht zwangsläufig gegen die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes verstoße. Alle drei scheitern. Wir knöpfen sie uns nacheinander vor.
Der angebliche naturalistische Fehlschluss
Der „naturalistische Fehlschluss“ (naturalistic fallacy) ist ein Konzept aus der Philosophie. Vorbereitet wurde es von David Hume, aber ausgearbeitet Anfang des 20. Jahrhunderts von George Edward Moore in seiner „Principia Ethica“ (1903).

Keine Angst, wir nehmen gleich die Abkürzung: Moore meint damit, dass es schon aus logischen Gründen nicht möglich ist, vom Sein auf das Sollen zu schließen. Man kann sich aus der empirischen Gegebenheit der Welt also keinen Reim darauf machen, was aus ihr werden soll. Dieser Glaubenssatz gehört zum Einmaleins der zeitgenössischen Philosophie. Ich halte ihn zwar für falsch, möchte Sie mit den Gründen hierfür aber nicht behelligen. Das führte zu weit weg vom eigentlichen Thema.

Angewandt auf die zwei diskutierten Sätze von Brosius-Gersdorf heißt das ungefähr Folgendes: Nur weil ein Mensch lebt, kann man daraus nicht schlussfolgern, dass er auch ein unbedingtes Recht auf sein Leben hat. Das Leben selbst ist eine natürliche Tatsache (Sein), das Recht auf Leben aber eine moralische oder rechtliche Forderung (Sollen). Auch der Begriff der Menschenwürde kann dieses Dilemma angeblich nicht aus der Welt schaffen. Das ist ein Irrtum.

In Sachen Lebensrecht wird nicht vom seienden auf das sollende Leben geschlussfolgert. Es liegt gar kein naturalistischer Fehlschluss vor. Das Lebensrecht des Menschen folgt vielmehr aus dem Gebot der Menschenwürde. Diese ist selbst ein Sollen – so wie das Recht auf das eigene Leben. Es wird also vom Sollen auf ein Sollen geschlossen. Das ist weder ein Widerspruch noch ein naturalistischer Fehlschluss. Das Lebensrecht lässt sich weder moralisch noch rechtlich von der Menschenwürde „entkoppeln“.

Die Objektformel

Für Brosius-Gersdorf ist das aber bloß die Ouvertüre. Selbst unter der Annahme, dass bereits ein Fötus über die volle Menschenwürde verfüge, sei die Menschenwürdegarantie durch einen Schwangerschaftsabbruch „nicht betroffen und mithin nicht verletzt“. Das Argument dafür ist für eine Juristin kurios, um es in der noch möglichen Freundlichkeit zu sagen. Eine Abtreibung würdige den Fötus nämlich nicht „zum Objekt staatlichen Handelns“ herab. Und daher handele es sich auch nicht um einen Angriff auf die Menschenwürde. Um zu verstehen, was sie damit meint, muss ich eine kleine Geschichte erzählen:

Keinem anderen verdankt die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes mehr als dem Philosophen Immanuel Kant. Als dieser im Jahre 1785 in seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ den weltberühmten Kategorischen Imperativ entwickelte, sprach er von der „Würde der Menschheit“, von „Achtung“, von „Erhabenheit“ und vom „absoluten Wert des Menschen“. Dabei taucht das Wort „Menschenwürde“ in seinem Buch gar nicht auf. Das hat seinen Grund.

Kant war es damals nicht um den Entwurf einer Sittenlehre für die Menschheit, sondern für alle vernunftbegabten Lebewesen zu tun – welche auch immer sie sein mochten. Ausdrücklich betonte er, man dürfe das oberste Prinzip der Moralität „nicht (…) aus der besondern Eigenschaft der menschlichen Natur ableiten“. Es müsse vielmehr „für alle vernünftige Wesen (…) gelten, und allein darum auch für allen menschlichen Willen ein Gesetz sein“. Wenn es zum Beispiel vernunftbegabte Außerirdische geben sollte, hätten sie nach Kant dieselbe Achtung verdient wie jeder Mensch.

Die Quelle der Würde des Menschen ist nach Kant nämlich gar nicht er selbst, sondern dessen Vernunftbegabung. Also die Fähigkeit, einen unparteiischen Standpunkt einzunehmen. Daher hat der Kategorische Imperativ auch seine Gestalt: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.

Die Einbeziehung des Anderen ist für Kant kein selbstloser, großherziger Akt, sondern eine Frage der Selbstachtung: „Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur Achtung fürs Gesetz“, also vor dem, was die Vernunft allen vernünftigen Lebewesen gebietet – auch einem selbst. Die Würde des Menschen wurzelt nach Kant in seiner Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung (Autonomie).

Kant entwickelte für den Kategorischen Imperativ mehrere Formeln. Im Zusammenhang mit der berühmtesten schrieb er:

„Gesetzt aber, es gäbe etwas, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat, was, als Zweck an sich selbst, ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm, und nur in ihm allein, der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d. i. praktischen Gesetzes, liegen.

Nun sage ich: der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muss in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.“

Da der Mensch als ein Vernunftwesen über Würde, Erhabenheit, eine regelrechte „Heiligkeit“ verfüge und einen absoluten Wert besitze, verstieße dessen Gebrauch als bloßes Mittel gegen das Erfordernis der ihm geschuldeten Achtung. Die Konsequenz hieraus war für Kant ganz klar: „Also kann ich über den Menschen in meiner Person nichts disponieren, ihn zu verstümmeln, zu verderben, oder zu töten.“

Diese Fassung des Kategorischen Imperativs hinterlässt in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bis heute ihre Spuren. Im Jahre 2006 zum Beispiel hatte das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungskonformität des Luftsicherheitsgesetzes zu befinden. Das war nach dem Angriff zweier Flugzeuge auf das World Trade Center im Jahr 2001 novelliert worden. Damals war geregelt worden, dass es erlaubt sein sollte, entführte Flugzeuge zur Abwendung eines größeren Schadens präventiv abzuschießen. Das Bundesverfassungsgericht erklärte dieses Gesetz für verfassungswidrig:

„Ausgehend von der Vorstellung des Grundgesetzgebers, dass es zum Wesen des Menschen gehört, (…), in der Gemeinschaft grundsätzlich als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt zu werden (…), schließt es die Verpflichtung zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde (…) generell aus, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen (…). Schlechthin verboten ist damit jede Behandlung des Menschen durch die öffentliche Gewalt, die dessen Subjektqualität, seinen Status als Rechtssubjekt, grundsätzlich in Frage stellt (…), indem sie die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen, kraft seines Personseins, zukommt (…).“

Das Bundesverfassungsgericht war damals überzeugt davon, dass der Abschuss eines Flugzeugs dessen entführte Passagiere zu bloßen Objekten staatlicher Gewalt herabwürdige. Die höchsten deutschen Richter wählten zwar etwas andere Formulierungen als Immanuel Kant. Aber die Logik ihres Urteils entstammte seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“.

Im heutigen juristischen Fachdiskurs ist, wenn es um die Behandlung von Bürgern durch den Staat als bloße Objekte geht, von der „Objektformel“ die Rede. Gemeint ist in Wahrheit aber der Kategorische Imperativ, gleichwohl man sich von der Vernunftbindung der Menschenwürde längst verabschiedet hat. Und um die Herabwürdigung von Bürgern zu bloßen Objekten durch den Staat geht es beim zweiten Argument von Brosius-Gersdorf.

Die Erlaubnis zur Tötung eines Fötus sei deshalb keine die Menschenwürde verletzende Handlung, weil nicht der Staat selbst die Tötung anordne. Das verkennt den Status der Grundrechte, insbesondere der Menschenwürde.

Der Hintergrund der Argumentation ist die Tatsache, dass die Grundrechte der Verfassung in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat sind. Nicht der Staat ist der Inhaber der Grundrechte, sondern der Bürger. Darauf stützt sich die Argumentation mit der Objektformel. Nur: Die Grundrechte sind nicht nur Abwehrrechte der Bürger, sondern lösen zugleich eine Schutzpflicht des Staates aus.

Soll heißen: Gerade weil der Staat der Wahrer der Grundrechte ist, ist es zugleich seine Pflicht, menschenwürdewidriges Verhalten unter seinen Bürgern zu unterbinden. Das gesetzliche Tötungsverbot dient mithin nicht nur der Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung. Es ist zugleich ein unmittelbarer Ausfluss aus der Menschenwürde. Menschenwürdewidriges Verhalten wird nicht dadurch inexistent, dass es nicht vom Staat ausgeht. Schon deshalb stürzt Brosius-Gersdorfs Argumentation in sich zusammen.

Ein wirklicher naturalistischer Fehlschluss

Aber auch dieses zweite Argument der Verfassungsrichterin in Lauerstellung ist nur ein Vorgeplänkel. Ihr eigentliches Argument sieht noch anders aus. Sie legitimiert grundsätzlich die Tötung von Föten rechtlich wie moralisch damit, dass diese nicht über dasselbe Ausmaß an Menschenwürde verfügten wie geborene Menschen. Das wundersame „Argument“ hierfür lautet:

„Ein geringerer Lebensschutz des Embryos/Fetus ist (…) widerspruchsfrei zum umfassenden Lebensrecht des geborenen Menschen, bei dem sich wegen der formalen Gleichwertigkeit aller Menschen jede Schutzabstufung verbietet. Denn beim geborenen Menschen existiert keine vergleichbare existenzielle Abhängigkeit vom Körper eines anderen wie beim Embryo/Fetus.“

Da staunt der Fachmann und der Laie wundert sich. Das, was wir „Menschenwürde“ nennen, uns moralisch daran wärmen und das Fundament unserer gesamten Verfassungsordnung sein soll, gilt in vollem Umfang also nur für Menschen, die nicht existenziell von anderen Menschen abhängig sind.

Daraus folgt zwangsläufig, dass Menschen, die von anderen Menschen existenziell abhängig sind, entweder über gar keine oder eine geringere Menschenwürde verfügen als jene, von denen sie abhängig sind. In Pflegeheimen und Krankenhäusern ließen sich nun regelrechte Gruselgeschichten ausmalen.

Der Rechtswissenschaftler Christian Hillgruber hat zu derartigen Überlegungen längst das Nötige gesagt: „Diesem Konzept, das kontraintuitiv dem schutzbedürftigsten menschliche Leben den schwächsten Schutz gewährt, hat das Bundesverfassungsgericht bereits zu Recht eine klare Absage erteilt.“ Ausgerechnet die Menschenwürde, die die Schwachen schützen soll, wird von Brosius-Gersdorf in ihr Gegenteil verkehrt. Hillgruber hält die Kandidatin vor allem deshalb für „unwählbar“.

Gegen dieses Argument könnte die Rechtsprofessorin nur einen einzigen Einwand formulieren: Der Unterschied zu komatösen Patienten in Krankenhäusern oder schwer behinderten Pflegebedürftigen in Pflegeheimen sei eben jener, dass sich die Föten im Mutterleib befänden und die anderen nicht. Das allerdings würde der Groteske die Spitze aufsetzen. Das Einfahren der vollen Menschenwürde in den menschlichen Leib würde dann durch einen bloßen Ortswechsel herbeigeführt und die Menschenwürde zu einer Frage der Geografie

Brosius-Gersdorf könnte diese ganze Argumentation übrigens nicht aufrechterhalten, wenn sie sich an ihre eigenen Standards hielte. Haben Sie es schon bemerkt? Sie schließt in Sachen leiblicher Abhängigkeit des Fötus von dessen Mutter von einer natürlichen Tatsache auf eine moralische oder rechtliche Norm. Sie schließt vom Sein aufs Sollen. Sie begeht tatsächlich einen naturalistischen Fehlschluss.

Nicht nur für Konservative unwählbar

Eigentlich zählt es zum guten Ton des parlamentarischen Betriebs, in Gewissensfragen auf Abgeordnete keinen Druck auszuüben, sondern sie frei entscheiden zu lassen. Dort, wo die innersten Überzeugungen eines Menschen berührt sind, sind Kompromisse zwangsläufig die eigene Selbstachtung zerstörende Vorgänge.

Nichts kann mehr die Sphäre des eigenen Gewissens berühren als Debatten um die Menschenwürde und das Lebensrecht. Sie betreffen das Fundament unserer gesamten Verfassung. Auch bei der Wahl von Verfassungsrichtern wurde von der Gewissensfreiheit schon Gebrauch gemacht, zum Beispiel im Jahr 2008. Damals sollte der angesehene Rechtsgelehrte Horst Dreier in das Bundesverfassungsgericht gewählt werden, wiederum auf Vorschlag der SPD.

Der Vorgang scheiterte damals an den Unionsparteien. Auch hier der Grund: die Menschenwürde. Horst Dreier ist übrigens der Doktorvater von Brosius-Gersdorf. Dreier wollte zumindest nicht völlig ausschließen, dass in absoluten Notfällen Folter eine legitime staatliche Praxis sein könne. Für die Unionsparteien war damit die rote Linie der Menschenwürde überschritten – und sie zogen die Reißleine.

Das aktuelle CDU-Grundsatzprogramm ist eindeutig. Von der „unantastbaren Würde des Menschen und Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens“ ist darin die Rede. Und weiter: „Der Schutz des Lebens in allen Lebenslagen hat für uns Christdemokraten eine überragende Bedeutung. Das ungeborene Leben bedarf unseres besonderen Schutzes.“ Dazu passt es nicht, eine Verfassungsrichterin mitzutragen, die die Unverfügbarkeit menschlichen Lebens attackiert.

Damit man mich nicht missverstehe: Positionen, wie sie Brosius-Gersdorf vertritt, müssen in der Wissenschaft ihren Platz haben. Es gehört sowohl zur Idee der Freiheit der Wissenschaft wie einer freiheitlichen Gesellschaft, dass sie andere Meinungen aushalten können muss – auch und gerade solche, die sich gegen die Überzeugungen der Mehrheitsströmung richten.

Es kommt dann immer auf die Qualität der Argumente an. Im Falle Brosius-Gersdorf aber sind die Argumente nicht nur schwach, sondern überaus dürftig. Das ist neben ihrem Angriff auf die Menschenwürde ein weiteres Argument dafür, sie nicht in das Bundesverfassungsgericht zu wählen. Diese Kandidatin ist unwählbar.

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