Das Gleiche gilt für den Kanzler. Vom Regierungschef kann natürlich niemand erwarten, dass er Talkshow-Auftritte und Aufsätze von Anwärterinnen fürs Verfassungsgericht studiert. Aber als Merz am Mittwoch erklärte, dass er es mit seinem Gewissen vereinbaren könne, Frauke Brosius-Gersdorf zu wählen, hätte er es besser wissen müssen. Da war die Debatte längst heissgelaufen.
Der deutsche Kanzler mag als Aussenpolitiker vieles richtig machen, und sein Ton ist oft erfrischend klar. Aber aus der Parole «Links ist vorbei», die er kurz vor der Bundestagswahl ins Land gerufen hat, ist zwei Monate nach seinem Amtsbeginn wenig übrig geblieben. Merz und Spahn wanken als politische Weichspüler in die parlamentarische Sommerpause.
Die SPD wird die abgeblasene Richterwahl unterdessen nicht vergessen. Wenn der Bundestag im September wieder zusammenkommt, wird ihre Fraktion nach Möglichkeiten suchen, die Union einen politischen Preis zahlen zu lassen. Das wiederum dürfte ihr leichtfallen. Ungelöste Konflikte gibt es in der Koalition viele, von der Rente bis zur Migrationspolitik, deren zaghafte Korrekturen vielen Sozialdemokraten schon heute viel zu weit gehen.
Die Juristin im Entrüstungssturm
Beschädigt ist auch Frauke Brosius-Gersdorf. Die Staatsrechtlerin fand sich im Auge eines Entrüstungssturms wieder, dem sie nichts entgegensetzen konnte. Man kann die Überzeugungen der 54-Jährigen ablehnen und den Umgang mit ihr dennoch fatal finden. Die Juristin wurde als Linksextremistin beschimpft, sie soll Morddrohungen erhalten haben. Solche Erfahrungen wünscht man niemandem. Gleichwohl ist es richtig, dass sie nicht nach Karlsruhe geht.
Weltanschaulich neutrale Richter gibt es nicht. Aber die deutschen Bürger dürfen erwarten, dass jene Juristen, die in den berühmten roten Roben über die Einhaltung des Grundgesetzes wachen, moderate politische Positionen vertreten. Alles andere gefährdet das Vertrauen der Bürger in die Rechtsprechung und damit die Demokratie als Ganzes.
Frauke Brosius-Gersdorf mag fachlich ohne Tadel sein. Aber sie hat Überzeugungen, die in der Summe nicht auf eine moderate, sondern eine eher stramm linke Gesinnung schliessen lassen: für ein «gendergerecht» umformuliertes Grundgesetz, für Frauenquoten in Parlamenten, für muslimische Kopftücher im Staatsdienst, für eine Relativierung der Menschenwürde ungeborenen Lebens, für ein AfD-Verbots-Verfahren oder für drakonische Grundrechtseinschränkungen in der Corona-Pandemie.
Das alles sind legitime Überzeugungen. Aber sie haben an einem höchsten Gericht nichts verloren. Gleiches gälte für einen radikal rechten Juristen, der erkämpfte Frauenrechte wieder abschaffen oder Muslime vom Staatsdienst ausschliessen wollte.
Wer an diesem Freitag nicht beschädigt wurde, ist das Bundesverfassungsgericht, auch wenn dies von linker und grüner Seite nun lautstark behauptet wird. Das Gegenteil ist richtig: Karlsruhe wurde von einem massiven Vertrauensverlust bewahrt. Der Dank dafür gebührt nicht dem konfliktscheuen Kanzler und seinem taktierenden Fraktionschef, sondern den Hinterbänklern von CDU und CSU. Sie haben den Kulturkampf, den die Linke bei jedem Thema und jeder Personalie betreibt, gerade noch rechtzeitig angenommen, angetrieben von empörten Wählern und Parteimitgliedern. Man kann der Führung der Union nur wünschen, dass sie künftig häufiger auf die Basis hört.
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