15 Juli 2025

The Pioneer - Lars Klingbeil: Feminist wider Willen

Business Class Edition

Lars Klingbeil: Feminist wider Willen
Guten Morgen,
die SPD lebt nicht nur. Sie ist putzmunter – und frech ist sie auch.
Für Deutschlands älteste Partei werden in den aktuellen Prognosen nur 15 Prozent gemessen. Aber das hat die Genossen nicht demütig, sondern tollkühn gemacht.
Als Zeichen des Widerstandes lud man ein Bild auf Instagram hoch, das die Geschlossenheit der Fraktion symbolisiert. Demonstrativ provokant posierten alle 120 SPD-Bundestagsabgeordneten (inklusive Olaf Scholz) zu folgender Bildunterschrift:
"Frau Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf ist eine herausragende Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht mit einwandfreiem Werdegang und bester Qualifikation. Die SPD-Fraktion steht hinter ihr".
Geradezu lustvoll nimmt die SPD-Bundestagsfraktion die Machtprobe um die Berufung der Juristin Frauke Brosius-Gersdorf zum Anlass, die CDU vorzuführen und dem Kanzler und seinem Fraktionschef einen gefährlichen Schlag zu verpassen.
Im Adenauer-Haus ist man nicht besorgt, sondern entrüstet. Und ratlos ist man auch: Woher nimmt die SPD diesen Mut? Was macht den Juniorpartner so stark, dass er sich diesen Affront zutraut?
Die Antwort lautet: Es sind fünf Zutaten, die in ihrer Addition wie ein Aufputsch-Cocktail auf die SPD wirken:
Zutat #1: Die Brandmauer wirkt – und zwar gegen die CDU
Die feierliche Festlegung der CDU, niemals mit der AfD gemeinsame Sache zu machen, engt die Christdemokraten ein. Sie darf jetzt nicht mal mehr mit der AfD drohen, um nicht die Medien und Angela Merkel auf den Plan zu rufen. „Merkel heißt jetzt Merz“, scherzt die NZZ.
Damit liegt das Machtzentrum der Koalition bei der SPD, die hinter sich einen Linksblock aus Grünen und der Linkspartei weiß, der es im Bundestag auf 36,8 Prozent der Stimmen und damit 269 Abgeordnete bringt.
Rechnet man ehrlich, also ohne die AfD-Abgeordneten (mit denen ja keiner koalieren oder paktieren will und darf), dann bringt es Rot-Rot-Grün sogar auf 56 Prozent der Sitze im Parlament. Merz hat die Wahl gewonnen, aber verfügt über keine eigene Mehrheit.
Zutat #2: Klingbeil – der Feminist wider Willen
Der Parteichef hätte gern Ruhe im Karton, auch um die Achse mit Merz und Spahn nicht gleich in der zehnten Woche nach Regierungsantritt zu beschädigen. Aber das schwache Parteitagsergebnis von nur 65 Prozent – zweitschlechtestes Ergebnis jemals – der Delegiertenstimmen bedeutet spürbare Souveränitätsverluste.

Die Tatsache, dass er eben erst seine Co-Vorsitzende Saskia Esken kühl abserviert hat, zwingt ihn jetzt zum Stillhalten. Er ist ein Feminist wider Willen. Er darf alles tun, nur nicht in den Verdacht geraten, erneut eine aussichtsreiche Frauenkarriere zu beenden. Fällt sie, wackelt er.

Zutat #3: Die SPD hat ein Identitätsthema gesucht und gefunden

Nach dem Machtverlust und dem schlechtesten Ergebnis ihrer Geschichte bei der Bundestagswahl am 23. Februar war der Markenkern erodiert. Bei den Genossen und Genossinnen ging es nicht mehr um Frieden, Respektlohn und Umverteilung, sondern um Postenpoker zwecks Machterhalt.

Da kommt das Identitätsthema Feminismus den Sozis gerade gelegen. Das Thema strahlt weit über die eigenen Reihen hinaus und reicht bis tief in die Frauenrechtsbewegung hinein. Es reicht vom Selbstbestimmungsrecht der Frau („Mein Bauch gehört mir“) bis zur Gleichberechtigung im Beruf. Frauke Brosius-Gersdorf wäre überhaupt erst die 23. Verfassungsrichterin (im Vergleich zu 97 männlichen Richtern), was ihrer Zurückweisung auch eine emanzipatorische Note gibt.

Zutat #4: Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung

Die SPD weiß bei dem Thema Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Wie Forsa erhoben hat, würden 74 Prozent der Befragten Abbrüche innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen ohne Einschränkungen erlauben. Selbst innerhalb der Union und unter den Katholiken sind jeweils 62 Prozent dafür.

Die Sozialdemokraten wissen Volkes Stimme im Rücken, während die Union einen Zweifronten-Meinungskampf führen muss. In den eigenen Reihen und in der Gesellschaft.

Zutat #5: Der handwerkliche Fehler liegt bei der CDU

Die SPD kann sich jederzeit darauf berufen – und tut es auch –, dass der Fehler nicht bei ihr lag. Die Sozialdemokratie hat fair gespielt und mit der Union eine Einigung erzielt. Diese wurde im Wahlausschuss vier Tage vor dem Wahldebakel im Bundestag per Drucksache bestätigt.

Durch den Aufstand in der Unionsfraktion wurde diese Verabredung zwar in Zweifel gestellt, aber nicht aufgekündigt.

Pacta sunt servanda: Die SPD braucht nichts mehr durchsetzen, da sie sich ja bereits durchgesetzt hat. Der Rückzug, den die CDU sich nun erhofft, kann und wird auf der Grundlage der Freiwilligkeit nicht erfolgen. Die CDU als konservative Partei, die sich gern auf Recht und Ordnung beruft, hält daher den schwarzen Peter in der Hand.

Fazit: Die SPD hat unverhofft einen propagandistischen und machtpolitischen Erfolg zu verzeichnen, der Friedrich Merz und Jens Spahn wie Schulbuben aussehen lässt. Die Spitze der CDU lernt, was der britische Premier Harold Macmillan (1957–1963) einst als Schlussfolgerung seiner Regierungszeit so formuliert hat: Nicht Abmachungen, sondern Ereignisse prägen die Politik: „Events, dear boy, events.“

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