13 Juli 2025

Verfassungsrichterwahl- Aufmüpfige Abgeordnete sind bessere Demokraten als willige Ja-Sager (Cicero)

Verfassungsrichterwahl-
Aufmüpfige Abgeordnete sind bessere Demokraten als willige Ja-Sager (Cicero)
Es kommt selten vor, dass eine Fraktion dem eigenen Kanzler und dem eigenen Fraktionschef die Gefolgschaft verweigert. Aber das ist keineswegs gleichbedeutend mit dem Untergang der Demokratie. 
VON HUGO MÜLLER-VOGG am 12. Juli 2025, 4 min
Die Empörung im medialen Mainstream ist unüberhörbar. „Ein besonderer Morgengruß gilt hier Fraktionschef Jens Spahn, am Tag eins nach seiner politischen Vollkatastrophe“, ätzt Spiegel online am Samstag. Die Kontrolle über die eigene Fraktion verloren (…) und dem eigenen Kanzler die erste Bilanz verhagelt.“ Man ahnt, wie groß die Häme in der Spiegel-Redaktion ist.
Ganz ähnlich urteilt die Süddeutsche Zeitung. Sie wirft der Union „Hasenfüßigkeit“ vor: „Von einer Minute auf die andere entziehen sie einer respektablen Rechtswissenschaftlerin das Vertrauen und liefern sie so dem Gejohle auf der Plattform X sowie der AfD aus. Fehlte es ihnen an Urteilskraft? (…) Schon seit Tagen erweckte die Union den Eindruck, ohne inneren Kompass unterwegs zu sein“.
Die Frankfurter Rundschau spricht gar von einem „Schwarzen Freitag im Bundestag“, der zeige, „dass es um die Demokratie in Deutschland schlechter bestellt ist als bisher gedacht. Der rechte Kulturkampf beschädigt nun auch die Organe des Staates und seiner Rechtsprechung.“
Der unabhängige Abgeordnete soll plötzlich eine Gefahr für die Demokratie sein?
Wieso ist es eigentlich um die Demokratie schlecht bestellt, wenn eine größere Zahl von Abgeordneten ihrer Führung klar macht, nicht so abzustimmen, wie das „von oben“ gewünscht und erwartet wird? Der unabhängige, Weisungen nicht unterworfene Abgeordnete soll plötzlich eine Gefahr für die parlamentarische Demokratie sein?Nun gut: Es geht denen, die jetzt die CDU/CSU so scharf kritisieren, in Wirklichkeit nicht um den Parlamentarismus. Sie finden es einfach schlimm, dass eine linksgrün einzuordnende Kandidatin für das Bundeserfassungsgericht nicht einfach durchgewinkt wurde. Dass viele Unionsabgeordnete dagegen sind, den Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Woche freizugeben, wie die Rechtsprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf das für richtig hält, ist aus Sicht von Abtreibungsbefürwortern ein Skandal. Offenbar soll das Gewissen nur im Sinn politisch korrekter, also linksgrüner Positionen als Maßstab zulässig sein.

Die Wutschreie über die angeblich ohne inneren Kompass agierende Union lassen vergessen, dass von der Fraktionslinie abweichende Abgeordnete gemeinhin als Helden dargestellt werden. Der langjährige CDU-Abgeordnete Wolfgang Bosbach wurde zu einem Medienstar, weil er sich häufig nicht so verhielt, wie „Mutti“ Merkel das eigentlich erwartet hätte. Bosbach wurde dafür von der Langzeitkanzlerin entsprechend bestraft: In ihren Kabinetten war für einen Widerspenstigen wie ihn selbstverständlich kein Platz frei.

Davon geht die Welt nicht gleich unter

Richtig ist: Die Union hatte sich mit der SPD darauf verständigt, wer die drei zu besetzenden Richterstellen in Karlsruhe einnehmen soll. Aber Bundeskanzler Friedrich Merz gelang es ebenso wenig wie seinem Fraktionschef Jens Spahn, die 208 Fraktionsmitglieder geschlossen von diesem Deal mit dem Koalitionspartner zu überzeugen. Angeblich hatten 50 bis 60 Parlamentarier signalisiert, im Plenum nicht zuzustimmen. So etwas kommt nicht alle Tage vor. Aber davon geht die Welt nicht gleich unter.

Der Vorgang offenbart ein grundsätzliches Dilemma. Den meisten Abgeordneten – bei CDU/CSU wie in der SPD – fehlt der Mut, in Fraktionssitzungen offen Front gegen die eigene Führung zu machen. Dahinter steckt die Angst, sich durch Aufmüpfigkeit um weitere Karrierechancen zu bringen, auch um die Möglichkeit, in wichtigen Debatten ans Mikrofon zu dürfen. Da schweigt dann mancher und stimmt mit der Faust in der Tasche zu. Zur Glaubwürdigkeit des parlamentarischen Prozesses trägt das sicher nicht bei.

Im Zweifel sind Abweichler bessere Demokraten als die willigen Gefolgsleute 

Die Erregung über die angebliche „Vollkatastrophe“ wirkt aufgesetzt. Erst im Januar folgte ein gutes Dutzend Unionsabgeordnete Friedrich Merz nicht, als der seine Forderungen zur Begrenzung der Zuwanderung unter Inkaufnahme von AfD-Stimmen durchs Parlament bringen wollte. Damals wurden die Abweichler mit Lob überhäuft – von den linken Parteien wie von den meisten Medien. Jetzt wird fehlende Fraktionsdisziplin zum unverzeihlichen Makel.

Man braucht da nicht lange herumzureden: Merz und Spahn haben mehr als unglücklich agiert. Der Vorgang belastet zweifellos die Zusammenarbeit in der schwarz-roten Koalition. Allerdings offenbart es ein seltsames Demokratieverständnis, wenn beklagt wird, dass selbstbewusste Abgeordnete nicht stets blind ihrer Führung folgen.

Natürlich müssen ein Kanzler und sein Fraktionsvorsitzender sich darauf verlassen können, dass die eigene „Truppe“ auch dann steht, wenn nicht alle mit jedem Vorschlag hundertprozentig einverstanden sind. Aber wenn das Thema Abtreibung in der CDU/CSU keine Gewissenfrage sein darf, was denn dann? Im Zweifelsfall sind Abweichler bessere Demokraten als die willigen Gefolgsleute der Fraktionsführung.

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