Die Wutschreie über die angeblich ohne inneren Kompass agierende Union lassen vergessen, dass von der Fraktionslinie abweichende Abgeordnete gemeinhin als Helden dargestellt werden. Der langjährige CDU-Abgeordnete Wolfgang Bosbach wurde zu einem Medienstar, weil er sich häufig nicht so verhielt, wie „Mutti“ Merkel das eigentlich erwartet hätte. Bosbach wurde dafür von der Langzeitkanzlerin entsprechend bestraft: In ihren Kabinetten war für einen Widerspenstigen wie ihn selbstverständlich kein Platz frei.
Davon geht die Welt nicht gleich unter
Richtig
ist: Die Union hatte sich mit der SPD darauf verständigt, wer die drei
zu besetzenden Richterstellen in Karlsruhe einnehmen soll. Aber
Bundeskanzler Friedrich Merz gelang es ebenso wenig wie seinem
Fraktionschef Jens Spahn, die 208 Fraktionsmitglieder geschlossen von
diesem Deal mit dem Koalitionspartner zu überzeugen. Angeblich hatten 50
bis 60 Parlamentarier signalisiert, im Plenum nicht zuzustimmen. So
etwas kommt nicht alle Tage vor. Aber davon geht die Welt nicht gleich
unter.
Der Vorgang offenbart ein grundsätzliches Dilemma. Den meisten Abgeordneten – bei CDU/CSU wie in der SPD – fehlt der Mut, in Fraktionssitzungen offen Front gegen die eigene Führung zu machen. Dahinter steckt die Angst, sich durch Aufmüpfigkeit um weitere Karrierechancen zu bringen, auch um die Möglichkeit, in wichtigen Debatten ans Mikrofon zu dürfen. Da schweigt dann mancher und stimmt mit der Faust in der Tasche zu. Zur Glaubwürdigkeit des parlamentarischen Prozesses trägt das sicher nicht bei.
Im Zweifel sind Abweichler bessere Demokraten als die willigen Gefolgsleute
Die Erregung über die angebliche „Vollkatastrophe“ wirkt aufgesetzt. Erst im Januar folgte ein gutes Dutzend Unionsabgeordnete Friedrich Merz nicht, als der seine Forderungen zur Begrenzung der Zuwanderung unter Inkaufnahme von AfD-Stimmen durchs Parlament bringen wollte. Damals wurden die Abweichler mit Lob überhäuft – von den linken Parteien wie von den meisten Medien. Jetzt wird fehlende Fraktionsdisziplin zum unverzeihlichen Makel.
Man braucht da nicht lange herumzureden: Merz und Spahn haben mehr als unglücklich agiert. Der Vorgang belastet zweifellos die Zusammenarbeit in der schwarz-roten Koalition. Allerdings offenbart es ein seltsames Demokratieverständnis, wenn beklagt wird, dass selbstbewusste Abgeordnete nicht stets blind ihrer Führung folgen.
Natürlich
müssen ein Kanzler und sein Fraktionsvorsitzender sich darauf verlassen
können, dass die eigene „Truppe“ auch dann steht, wenn nicht alle mit
jedem Vorschlag hundertprozentig einverstanden sind. Aber wenn das Thema
Abtreibung in der CDU/CSU keine Gewissenfrage sein darf, was denn dann?
Im Zweifelsfall sind Abweichler bessere Demokraten als die willigen
Gefolgsleute der Fraktionsführung.
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