05 Oktober 2022

Gewalt gegen iranische Frauen habe nichts mit Religion zu tun. Ein gefährlicher Irrtum (NZZ)

Gewalt gegen iranische Frauen habe nichts mit Religion zu tun. Ein gefährlicher Irrtum (NZZ)
Iranische Frauen kämpfen gegen das Mullah-Regime, Intellektuelle im arabischen Raum drängen auf eine Reformierung des Islam. Im Westen werden diese Debatten verhindert – auch weil führende Politikerinnen Zusammenhänge nicht sehen wollen.
Ahmad Mansour

Laut den französischen Publizistinnen und Feministinnen Caroline Fourest und Fiammetta Venner wurden in Iran schon direkt nach der Revolution von 1979 all jene Iranerinnen, die die strengen Bekleidungsregeln kritisierten, als «islamophob» bezeichnet. Dem iranischen Regime diente dieser Terminus als Kampfbegriff, um seine Gegner zu diffamieren. Das funktioniert auch heute, hier in Europa. Der Vorwurf der Islamophobie wird inzwischen so schnell erhoben, dass aus Angst davor, rassistisch zu sein, lieber gar keine Kritik am Islam geübt wird.

Polizisten suchen nach «unislamischem Verhalten»

Aus genau dieser Angst fällt die deutsche Aussenministerin mit ihrer Aussage vielen Frauen in den Rücken. Dies nicht nur in Iran, sondern auch in anderen muslimischen Ländern und in Europa. Sie verbreitet ungewollt islamistische Propaganda. Eine feministische Aussenpolitik, für die Annalena Baerbock offiziell eintritt, sollte anders aussehen. Die iranischen Frauen kämpfen gegen antiemanzipatorische Vorschriften, gegen ein System der Unterdrückung im Namen des Islams. Sie wollen sich ihre Freiheit vom Kopftuch erkämpfen, ohne dass sie von religiösen Autoritäten, Nachbarn, Freunden, Eltern oder Brüdern als unislamisch und unmoralisch bezeichnet werden.

Neben ihrer obsessiven Fixierung auf das Kopftuch sucht die iranische Sittenpolizei auch im privaten Raum nach «unislamischem» Verhalten. Sie geht gegen Jugendliche vor, die Untergrundpartys feiern, gegen unverheiratete Paare und gegen alles, was ihrer Meinung nach gegen islamische Regeln verstösst. Jeder kleine Fehltritt zieht hohe Strafen nach sich. Im Untergrund, etwa im Darknet, in den sozialen Netzwerken und geschützten Räumen von Universitäten, wird Kritik an diesem System seit Jahren klar und deutlich geäussert.

Das, was wir gerade in Iran erleben, ist nur eine Konsequenz aus diesem Unmut. Viele Menschen wollen kein Regime mehr finanzieren, das überall im Nahen Osten Terror verbreitet. Sie wollen nicht gezwungen werden, nach den Regeln der Mullahs zu leben, sie wollen keinen Staat, kein System, kein Religionsverständnis haben, das ihre Menschenrechte systematisch unterdrückt.

Unterschiedliche Strategien, ähnliche Ziele

Im Westen distanziert sich die grosse Mehrheit der Muslime deutlich vom iranischen Regime und zeigt sich solidarisch mit den Frauen in Iran. Das gilt auch für Politiker, Medien und Intellektuelle. Muslime und Nichtmuslime gehen auf die Strasse und protestieren für Freiheit und Emanzipation. Gleichzeitig werden viele Muslime nicht müde zu betonen, dass die Unterdrückung und der Zwang, die in Iran herrschen, mit dem Islam – mit ihrem Islam – nichts zu tun haben. Das ist gut und muss so sein. Aber reicht das aus?

Ich meine: nein. Seit dem 11. September 2001 diskutieren Medien, Politik und Wissenschaft über den Islam, wir Muslime aber drehen uns im Kreis. Wir geben uns damit zufrieden, eine Distanzhaltung einzunehmen: «Das hat mit dem Islam nichts zu tun.» Wer so spricht, traut sich nicht zu fragen, warum von muslimischen Kreisen derart viel Terror und Unterdrückung ausgeht. Der Islamische Staat, die Hamas, der saudische Wahhabismus, die Muslimbruderschaft, das iranische Regime, der türkische Präsident Erdoğan, die Terrororganisationen al-Shabab, Boko Haram, al-Kaida und die Taliban – es gibt eine Vielzahl von islamistischen Strömungen mit unterschiedlichen Ausprägungen, Intensitäten und Strategien.

Aber ihre Ziele und Visionen gleichen sich: Sie verstehen ihre Religion nicht nur als spirituelle Angelegenheit, sondern als umfassende Ideologie. Der Islam regelt demnach religiöse Rituale genauso wie den politischen Alltag, die Persönlichkeitsrechte, den Umgang mit Minderheiten, mit Frauen und mit der Familie. Er regelt Krieg und Frieden und umfasst jeden Bereich des Lebens. Auf diese Art herrschte bereits der Prophet Mohammed vor 1400 Jahren. Und daraus ziehen Islamisten von heute die Legitimation, es ihm gleichzutun.

Gemeinsame Feindbilder

Imame, auch solche, die in Europa praktizieren, stellen Muslime in Predigten als Opfer dar. Man pflegt Feindbilder, predigt gegen den bösen Westen, die Demokratie, die Nichtmuslime, die nicht praktizierenden Muslime, die Islamkritiker. «Gut» sind in dieser Weltsicht nur die eigenen Anhänger, die der reinen Lehre des Islams in all seinen Geboten folgen. Die beiden, der Imam von nebenan und der Ayatollah in Iran, teilen viele Werte, Ängste, Tabus, Abwehrstrategien, Ideale. Ihre Haltung zum Umgang mit «Ungläubigen» oder zur Rolle von Mann und Frau unterscheidet sich nur graduell, nicht prinzipiell. Die Basis ist die gleiche. Es sind diese veralteten Inhalte, die mit der aufgeklärten Moderne derart in Kollision geraten, dass aus der Reibung Islamismus entstehen kann. Gefährlich sind die radikalen Strömungen nicht etwa, weil sie so anders sind als der vom «Mustafa»-Normalbürger gelebte Islam – es ist vielmehr die Ähnlichkeit mit diesem Islam, der sie gefährlich macht.

Mit der Behauptung, die absolute und einzige Wahrheit zu besitzen – die auch von evangelikalen Fundamentalisten zu hören ist –, geht das Verbot einher, Aussagen zu hinterfragen und kritisch zu denken. Neue, zeitgemässe Deutungen des Korans und wissenschaftliche Erkenntnisse zur Geschichte des Islams dürfen weder gelesen noch diskutiert werden. Hinzu kommt die Unterdrückung und Tabuisierung der Sexualität, die sich auch in Kopftuchvorschriften manifestieren kann. All dies ist Teil einer einschüchternden Pädagogik, die Hand in Hand geht mit der Angst vor der Hölle und einer gleichzeitigen Heroisierung des Todes.

Nur eine offene Debatte hilft dem Islam

Diese Aspekte werden von vielen Muslimen in Iran, aber auch in Saudiarabien, in Jordanien oder in Ägypten diskutiert. Die Kritik wird lauter, vor allem in sozialen Netzwerken. Mehr und mehr Menschen trauen sich, öffentlich ihre Zweifel zu äussern, deutliche Worte zu finden und die heiligen Texte zu kritisieren. Sie tun es, anders als in Europa, unter Lebensgefahr. Umso dringender braucht es genau jetzt Vorbilder: demokratische und liberale Muslime, die vorleben, dass der Islam auch ohne traditionelle Doktrin möglich ist. Die ihre Religion ohne Wenn und Aber mit Demokratie und Menschenrechten vereinbaren und in der Religion für sich Stärke, Identität und eine Bewältigungsstrategie finden – und die vom Westen darin unterstützt werden.

Doch statt eine innerislamische Debatte in Europa zu fordern, verlieren sich die meisten Muslime im innereuropäischen Kampf zwischen links und rechts. Die einen wollen Muslime und ihre Religion kollektiv verteufeln, die anderen wollen sie kollektiv als (Rassismus-)Opfer beschützen. Doch Muslime werden nicht dadurch geschützt, dass bitter notwendige Debatten verhindert werden und ihnen die Eigenverantwortung genommen wird.

Wer also «den Islam» schützen will, sollte sich fragen: wovor? Vor der Reform, die er so dringend braucht? Je offener die Debatte werden darf, desto mehr wird für den Islam getan. Und dazu gehört auch die Erkenntnis, dass Reformen, Kritik, Hinterfragen und Zweifeln nicht länger ignoriert werden dürfen. Weghören und wie Annalena Baerbock religiöse Hintergründe ausblenden, schützt den Islam so wenig, wie die Islamisten mit ihren Regimen den Islam schützen. Es ist Zeit, endlich das zusammenhängende Bild zu erkennen.

Ahmad Mansour ist Diplom-Psychologe und Autor aus Berlin. Er arbeitet in der Extremismusprävention und im Integrationsbereich. Im Verlag S. Fischer ist gerade sein neues Buch erschienen, «Operation Allah. Wie der politische Islam unsere Demokratie unterwandern will».

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