26 Oktober 2022

Arbeitsmoral im Sinkflug - Deutschland, das Land der Selbstverwirklicher und Faulenzer (Cicero+)

Arbeitsmoral im Sinkflug
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Deutschland, das Land der Selbstverwirklicher und Faulenzer (Cicero+)
Die Arbeitsmotivation nimmt bei vielen Deutschen in den letzten Jahren dramatisch ab. In Zeiten des Führungskräftemangels und der drohenden Wirtschaftskrise ist das Gift für den Standort Deutschland. Doch statt Klartext zu reden, packen die verantwortlichen Politiker das Wahlvolk lieber in Watte. Statt Führung zu zeigen, werden die Bürger eingelullt.
GASTBEITRAG VON HUBERT KOCH am 26. Oktober 2022
Im September dieses Jahres fand eine HDI-Studie große mediale Beachtung, in der über die Arbeitszeitwünsche deutscher Arbeitnehmer berichtet wurde. Die repräsentative Studie, durchgeführt im Juni und Juli 2022 vom Institut YouGov, ergab, dass fast jeder zweite Vollzeitbeschäftigte gerne in Teilzeit wechseln würde. Der Wunsch nach weniger Arbeit ist am stärksten bei Arbeitnehmern unter 40 Jahren ausgeprägt. Zudem würden drei Viertel aller Befragten die Einführung einer Viertagewoche begrüßen, zum Teil auch bei reduziertem Lohn. Besonders alarmierend für die Forscher war die Zahl von 56% der Befragten, die ganz mit der beruflichen Arbeit aufhören würden, wenn sie es sich finanziell leisten könnten.
Die Phänomene sind nicht neu. Eine Auswertungsstudie des IFO-Instituts im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung, die auf Umfragedaten aus dem „Sozio-ökonomischen Panel (SOEP)“ sowie dem „Panel Arbeitsmarkt und soziale Sicherung (PASS)“ basiert, ergab schon im März 2021, dass 50% der männlichen und 41% der weiblichen Beschäftigten gerne weniger arbeiten würden, als sie derzeit tun. Nach der Studie arbeiten Männer im Durchschnitt 41 Stunden und wünschen sich eine Reduzierung auf 37, Frauen arbeiten im Durchschnitt 32 Stunden und wünschen sich eine Reduzierung auf 30. Für diese Verkürzungen wären nach den Ergebnissen auch dieser Befragung sowohl Männer als auch Frauen bereit, ein geringeres Gehalt zu akzeptieren. Parallel zu diesen Tendenzen im Arbeitsmarkt sinkt das Eintrittsalter in den Ruhestand leicht ab, wie sich aus Zahlen der Deutschen Rentenversicherung ergibt.
Immer schwieriger, geeignete Kandidaten zu finden
Der Wunsch, weniger, anders und selbstbestimmter zu arbeiten, ist zwar bei jungen Arbeitnehmern stärker ausgeprägt als bei älteren. So antworteten befragte Mittzwanziger in einem Gespräch, über das Anne Claus im Spiegel im März dieses Jahres berichtete, auf die Frage, wo sie sich in zehn Jahren sähen, mehrheitlich: „Egal wo, aber in Teilzeit.“ Aber der grundsätzliche Trend ist in allen Altersgruppen gleich. Insofern greifen Analysen zu kurz, die veränderte Arbeitsmotivation und Auswirkungen auf die Produktivität der Gesellschaft nur bei der Generation Y oder der Generation Z verorten. Alltagsbeobachtungen in meinem Umfeld bestätigen die empirischen Daten. So berichten Handwerksunternehmer von steigenden Schwierigkeiten, Mitarbeiter für Arbeit am Samstag zu motivieren, obwohl Handwerksbetriebe hier im westlichen Münsterland traditionell samstags bis mittags arbeiten.
Aber nicht nur quantitativ verliert Arbeit an Bedeutung, auch qualitativ ist berufliches Engagement rückläufig, auch bei Hochqualifizierten. So berichtete das Deutsche Ärzteblatt schon 2017 über die steigende Schwierigkeit von Kliniken, freiwerdende Chefarztstellen zu besetzen. Nach einer Studie des Winterthur-Instituts für Gesundheitsökonomie im Auftrag der Personalberatung Rochus Mummert streben nur 14% der befragten Oberärzte die klassische Chefarztkarriere an. Als Gründe werden die Scheu vor der größeren Verantwortung und die höhere Präsenzpflicht genannt, neben zusätzlichem Verwaltungs- und Bürokratieaufwand.
Ein anderes Beispiel: Der Wunsch ausscheidender Vorstandsvorsitzender, nach der operativen Karriere den Vorsitz in einem Aufsichtsrat zu übernehmen, sinkt nach einem Bericht des Manager Magazins deutlich ab. Und auch der Unternehmergeist schwindet. Es gibt zu wenige junge Leute, die den Schritt (in die Selbstständigkeit) wagen, beklagt Sarna Röser, Vorsitzende des Verbandes junger Unternehmer. Im Bildungsbereich ist dieses Phänomen schon länger bekannt. Schulleiterstellen an Gymnasien, Real- und Grundschulen bleiben jahrelang unbesetzt, weil es keine Bewerber gibt. Und auch im Management sind die Veränderungen spürbar. Das bittere Fazit von Headhunter Heiner Thorborg lautet: „Noch nie war es so schwer, geeignete Kandidaten zu finden, die ganz nach oben wollen.“
Aktueller Trend der „inneren Kündigung“
Stellen die bisherigen Aussagen zur Arbeitsmotivation die Verantwortlichen für Personalentwicklung in Unternehmen schon vor gewaltige Herausforderungen, auch weil die klassischen Motivationsinstrumente wie Gehaltserhöhungen, Boni oder Incentives auf immer weniger Akzeptanz stoßen, erhöhen jüngste Entwicklungen diese noch einmal substantiell. Dies gilt besonders für den aktuellen Trend des „Quiet Quitting“. Das Wort meint, mehr als der alte Begriff der „inneren Kündigung“, den konsequenten Verzicht auf Überstunden, die Weigerung, in der Freizeit E-Mails zu checken, und generell nur das zu tun, wofür man auch bezahlt wird. Wie sich dies mit dem gleichzeitigen Wunsch nach freier Arbeitsplatzwahl, Home Office und mobilem Arbeiten verträgt, ist mir allerdings nicht klar.

Auch wenn natürlich jedes Individuum das Recht und die Freiheit hat zu entscheiden, wie viel und was es arbeiten will, muss die beschriebene Entwicklung Sorgen machen. Der Trend, immer weniger zu arbeiten, muss schließlich gesellschaftlich zusammen gesehen werden mit der demographischen Entwicklung. Danach sinkt die Zahl der verfügbaren Arbeitskräfte in den nächsten Jahren substantiell, da die geburtenstarken Jahrgänge (die sogenannten Babyboomer) in den kommenden Jahren in großer Zahl in den Ruhestand wechseln werden. Bisher öffentlich wenig beachtet, aber mit Potenzial, die beschriebenen Engpässe zu verschärfen, ist der dauerhafte Wechsel von deutschen Arbeitnehmern ins Ausland. Darauf haben zuletzt Ralf Hanselle und Daniel Gräber unter der Überschrift „Nichts wie weg“ in Cicero hingewiesen, wobei besonders die Altersgruppe zwischen 28 und 40 Jahren zur Sorge Anlass gibt, stehen diese doch mitten im Berufsleben.

Weniger Arbeitskräfte, die auch noch weniger arbeiten, verringern automatisch die Leistung einer Volkswirtschaft. Und dabei ist Deutschland schon jetzt abgeschlagen, was die Arbeitsproduktivität, also das Bruttoinlandsprodukt je Beschäftigtem, betrifft. Der Wert betrug für das Jahr 2018, gemessen in Dollar, 87.900. Japan liegt mit 89.900 $ leicht, die Vereinigten Staaten von Amerika mit 113.800 $ deutlich höher und Schweden mit 115.600 $ noch einmal leicht darüber.

Deutschland als Einwanderungsland kein Topkandidat

Quo vadis, Deutschland, kann man da nur fragen, bei jetzt schon aktuellem Mangel an Arbeitskräften auf allen Qualifikationsstufen und mehr als wei Millionen unbesetzten Stellen. Das scheinbare Patentrezept, Arbeitskräfte aus dem Ausland anzuwerben, hat, zumindest bisher, nicht funktioniert. Man denke an die vergeblichen Versuche von Jens Spahn in seiner Amtszeit als Bundesgesundheitsminister, Pflegekräfte in Mexiko oder in Thailand anzuwerben, oder an den rückblickend naiv wirkenden Ansatz, die vorhersehbaren, aber nicht vorhergesehenen Engpässe an deutschen Flughäfen in der Ferienzeit in diesem Sommer mit 5000 türkischen Kräften zu überbrücken. Auch müssen wir realistisch genug sein, uns einzugestehen, dass Deutschland als Einwanderungsland bei vielen Aussiedlungswilligen nicht Topkandidat ist, nicht nur, aber natürlich auch wegen der hohen Hürden, die die deutsche Bürokratie aufgebaut hat.

Das ganze Ausmaß der bestehenden und sich noch verstärkenden Probleme für den Arbeitsmarkt und die Volkswirtschaft wird noch deutlicher, wenn man die deutsche Volkswirtschaft im globalen Wettbewerb betrachtet. In anderen, aufstrebenden Volkswirtschaften jedenfalls herrscht eine andere Mentalität und eine andere Einstellung zur Arbeit. Der Ex-Chef von Opel, Michael Lohscheller, der ein halbes Jahr in Vietnam gearbeitet hat, verwies in einem Interview nach seiner Rückkehr auf die großen Ziele und das große Engagement der vielen jungen Arbeitnehmer in diesem Land. „Die sind sehr engagiert. Es wird dort sehr, sehr viel gearbeitet. Das Motto lautet: ‚Wir wollen vorwärts‘.“

Anders als dort scheint es in Deutschland nur noch darum zu gehen, das Erreichte zu verteidigen und den Wohlstand zu erhalten, allerdings ohne dafür noch etwas zu tun. Mit anderen Worten: Wir verlangen uns nichts mehr ab. Dies zieht sich durch die gesamte Gesellschaft. So wird, um ein Beispiel zu nennen, die Abiturnote 1,0 heute fünfmal so häufig vergeben wie vor 15 Jahren, trotz vielfältiger Warnungen des Philologenverbandes.

„Die Deutschen sind bequem geworden“

„Deutschland hat keinen Ehrgeiz mehr“, schrieb Ulrich Fichtner schon 2021 in seinem bemerkenswerten Aufsatz im Spiegel mit dem Titel: „Der Sound des Abstiegs“. Heinrich Weiss, Ex-Präsident des BDI, beklagt: „Wir sind ein Land, das erntet, aber nicht mehr sät“; und Frederike Haupt sekundiert in der FAZ im Oktober dieses Jahres: „Die Deutschen sind bequem geworden. Das hat mit ihrem Wohlstand zu tun.“

Auch wenn es absurd klingt, kann man sich über die neuesten Ergebnisse des Freizeitmonitor 2022 der Stiftung für Zukunftsfragen (BAT) nicht mehr wundern, wohl aber den Kopf schütteln. In der repräsentativen Studie gab nämlich mehr als ein Drittel der Befragten an, sich durch die eigene Lebensplanung gestresst zu fühlen. Noch mehr, nämlich die Hälfte, leiden unter Stress durch Zeitmangel für sich und andere. Damit ist der Abstieg Deutschlands als Volkswirtschaft, aber auch als Gesellschaft, programmiert; und der Abstieg ist selbstverschuldet.

Extrapoliert man die beiden aufgezeigten Hauptentwicklungen, nämlich sinkende Arbeitsbereitschaft der Beschäftigten und sinkende Zahl an Arbeitnehmern, erkennt man, dass hier eine Zeitbombe tickt, die den Wohlstand in Deutschland substantiell gefährdet. Das wirft die Frage auf, wie die verantwortlichen Politiker der Bundesregierung darauf reagieren, was ihre Konzepte sind, die Zukunft Deutschlands zu sichern.

Verantwortlichen Politiker packen das Volk in Watte

Schon ein flüchtiger Blick auf die Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung führt zu Ernüchterung. Nicht nur fordern die Grünen, Mitglied der Ampelkoalition, im Einklang mit der oppositionellen Linkspartei, gesetzliche Feiertage, die auf einen Sonntag fallen, in der jeweils nächsten Woche nachzuholen, auch sind Anstrengungen, die Bevölkerung zu mehr Arbeit zu motivieren, nicht erkennbar.

Wie bei der Energiekrise, unter anderem als Folge des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine, scheuen sich der zuständige Bundesarbeitsminister Hubertus Heil ebenso wie Bundeskanzler Olaf Scholz, die Probleme des kommenden Arbeitskräftemangels klar zu benennen. Appelle an die Bevölkerung, wonach wir uns alle mehr anstrengen müssen, sind nicht zu vernehmen und auch nicht zu erwarten. Nicht nur verweigert Bundeskanzler Olaf Scholz gemeinsam mit seinen Ministern die nötige klare Kommunikation, die Ampelkoalition verzichtet auch darauf, die nötigen politischen Entscheidungen zu treffen.

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Dazu gehört die Erhöhung des Renteneintrittsalters, um mehr Menschen im Erwerbsleben zu halten und eine drohende Pleite der deutschen Rentenversicherung abzuwenden ebenso wie das Schaffen der Voraussetzungen für die Erhöhung der Erwerbsarbeit von Frauen, etwa durch verbesserte Ganztagsangebote in Kindergärten und Schulen. Aber auch ein ernsthafter Abbau von Bürokratie und die dringende Reform des verkrusteten Föderalismus durch eine Föderalismusreform III wären nötig, sind aber in dieser Legislaturperiode schon wieder nicht mehr zu erwarten.

Statt Klartext zu reden, packen die verantwortlichen Politiker das (Wahl-)Volk in Watte, statt Führung zu zeigen, werden die Bürger eingelullt. Und da, wo die Regierung handelt, tut sie genau das Gegenteil von dem, was nötig wäre. Mit der Einführung des „Bürgergeldes“, mit dem die (insbesondere in der SPD) ungeliebten Hartz-IV-Reformen abgeschafft bzw. zurückgedreht werden, werden die Anforderungen an Nichterwerbstätige, sich um eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt zu bemühen, drastisch gesenkt. Die massive Kritik des Bundesrechnungshofes an den geplanten Regelungen findet in der Bundesregierung kein Gehör.

„Der Sound des Abstiegs“

In völliger Umkehrung des Naheliegenden wird, statt die Botschaft zu vermitteln, dass uns nichts geschenkt wird, sondern „wir uns selber anstrengen müssen, nicht einmal, nicht zweimal, sondern immer wieder“ (Gabor Steingart), der Vermittlungsvorrang für die Arbeitsagenturen abgeschafft. Auch wird die Weigerung, angebotene Arbeit abzulehnen, nicht mehr sanktioniert, versäumte Termine bei den Arbeitsagenturen haben keine Konsequenzen. Stattdessen werden Prämien für Fitnesskurse bezahlt, um sich (für eine kommende Tätigkeit) fit zu halten wohlgemerkt, während man gleichzeitig angebotene Jobs ablehnen darf. Eine Politik in Absurdistan, könnte man meinen, leider aber die Realität in Deutschland.

Alle Proteste und der laute Aufschrei von Unternehmer- und Arbeitgeberverbänden, aber auch der Kommunen, die die SPD in Sonntagsreden stärken will, im Vorfeld der Verabschiedung haben nichts genützt. So beklagt Reinhard Sager, Präsident des Deutschen Landkreistages, der Entwurf setze deutliche Fehlanreize, wenn er bei Lockerung der Sanktionspraxis gleichzeitig den Regelsatz erhöht. Die beschriebenen Probleme addieren sich zu den bekannten Problemen Deutschlands wie überbordende Bürokratie, dysfunktionaler Föderalismus (Corona-Pandemie, Flutschäden im Ahrtal), nicht funktionierender Katastrophenschutz, marode Infrastruktur, Schwächen bei der Digitalisierung, zurückgehende Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen, rückläufige Investitionstätigkeit.

Während wir schon unsere eigenen Probleme nicht mehr lösen können, fragt sich, wie wir den großen globalen Krisen im Verbund mit anderen Ländern noch entgegentreten und die Klimakrise, die Energiekrise, die Lieferkettenprobleme mit Aussicht auf Erfolg angehen wollen. Über allem klingt, um noch einmal Ulrich Fichtner zu zitieren, „der Sound des Abstiegs“.

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