24 Oktober 2022

Es wäre fahrlässig, nur auf Klimawissenschafter zu hören (NZZ)

Es wäre fahrlässig, nur auf Klimawissenschafter zu hören (NZZ)
In der Debatte um die Klimaerwärmung gibt es ein starkes Ungleichgewicht: Klimawissenschafter und Aktivisten kommen häufig zu Wort. Stimmen von anderen Naturwissenschaftern, Ökonomen und Sozialwissenschaftern werden oft nicht gehört. Das muss sich dringend ändern.
Frank Scheffold

Die Auswahl der Referenten und des Veranstaltungsortes (im Pavillon des Botanischen Gartens) lässt vermuten, dass es den Organisatoren vor allem um die Vernetzung und Rekrutierung neuer Aktivisten aus dem akademischen Milieu ging. Die Gruppe, welche hinter dem Symposium steht, nennt sich Scientist Rebellion und ist eng mit Renovate Switzerland verbunden.
Stimmen anderer Wissenschaften
Diese fragwürdige Mischung aus Aktivismus und universitärer Veranstaltung zeigt einmal mehr, dass die Klimadebatte auch im akademischen Umfeld auf eine breitere Basis gestellt werden muss. Universitäten und ihre Wissenschafter dürfen das Thema nicht einer kleinen Gruppe von Personen überlassen. Wie in der Corona-Krise, wo die Meinung einiger weniger Experten grosses Gewicht hatte, gibt es auch in der Klimadebatte ein starkes Ungleichgewicht. Klimawissenschafter und Aktivisten kommen ständig zu Wort, aber die Stimmen von anderen Naturwissenschaftern, Ökonomen und Sozialwissenschaftern werden oft nicht gehört oder nur am Rande erwähnt.
Dabei ist zu bedenken, dass gewisse Disziplinen durch einen massiven Zuwachs an Forschungsgeldern, Aufmerksamkeit und Anerkennung von der Klimakrise profitieren. Es ist daher fahrlässig, zu glauben, dass Klimaexperten die Situation in der politischen Debatte immer objektiv einschätzen werden. So werden ausgewogene Positionen aus den Fachberichten, zum Beispiel jene des Weltklimarats IPCC, oft verzerrt und dramatisiert wiedergegeben; insbesondere von Wissenschaftern und Aktivisten, die in der Öffentlichkeit stehen. Die Folgen des Klimawandels und der Kollateralschäden der Gegenmassnahmen müssen jedoch von der gesamten Gesellschaft getragen werden.
Ruf nach «Klimarevolution»
Die Blockade der Hardbrücke sowie ähnliche Proteste – in der Schweiz und in unseren Nachbarländern – lässt vermuten, dass die Häufigkeit solcher Aktionen weiter zunehmen wird. Allein in der letzten Woche hat die Organisation Renovate Switzerland mehrmals den Verkehr auf einer Hauptverkehrsstrasse des Landes unterbrochen. Auf der Website rufen die beteiligten, meist jungen Wissenschafter sogar zu einer «Klimarevolution» auf.
Wie Terrorismusexperten in Deutschland warnen, besteht die Gefahr, dass sich Splittergruppen bilden, denen gewaltfreier Widerstand nicht mehr ausreicht. Um dieser Gefahr vorzubeugen, ist eine ehrliche Debatte über den Klimawandel und die dagegen zu ergreifenden Massnahmen unerlässlich. Insbesondere müssen die Gefahren für die Schweiz und die Welt realistisch dargestellt werden, und die zu diskutierenden Gegenmassnahmen dürfen sich nicht allein auf die Reduktion von Klimagasen beschränken.
Das CO2-Gesetz wurde unlängst vom Stimmvolk abgelehnt. Das Netto-Null-Ziel der Energiestrategie 2050 ist ohne neue Kernkraftwerke ohnehin kaum oder nur unter Inkaufnahme von exorbitant hohen Kosten zu erreichen. Unerreichbare Ziele in den Raum zu stellen und dort zu belassen, ist nicht nur sinnlos, sondern auch gefährlich.
Wenn Politik und Gesellschaft eine offene und ehrliche Diskussion weiter hinauszögern, werden sowohl die wirtschaftlichen Kollateralschäden als auch das Frustrationspotenzial bei den Aktivisten zunehmen – beides mit unabsehbaren Folgen.
Frank Scheffold ist Professor für Physik an der Universität Freiburg und ehemaliges Mitglied des Nationalen Forschungsrats beim Schweizerischen Nationalfonds.

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