03 Oktober 2022

Polizeigewerkschaft schlägt Alarm - „Wir stecken schon mittendrin in der nächsten Flüchtlingskrise“ (Cicero+)

Polizeigewerkschaft schlägt Alarm
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„Wir stecken schon mittendrin in der nächsten Flüchtlingskrise“ (Cicero+)
Die Zahl der Migranten, die nach Deutschland kommen, steigt und steigt. Im Interview erklärt Heiko Teggatz, Bundesvorsitzender der Bundespolizeigewerkschaft und stellvertretender Vorsitzender der deutschen Polizeigewerkschaft, warum die nächste Flüchtlingskrise längst da ist – und formuliert deutliche Kritik an der Bundesregierung: Innenministerin Nancy Faeser wirft er vor, das Problem auszublenden. Und ihrem Ministerium, der Bundespolizei beim Thema illegale Einwanderung einen „Maulkorb“ zu verpassen.
INTERVIEW MIT HEIKO TEGGATZ am 30. September 2022
Heiko Teggatz ist seit 2019 Bundesvorsitzender der Bundespolizeigewerkschaft und seit 2021 stellvertretender Vorsitzender der deutschen Polizeigewerkschaft. 
Herr Teggatz, Anfang dieser Woche haben Sie der Bundesregierung ein „Strategiepapier Migration“ zukommen lassen. Gab es bereits Reaktionen? 
Nein, bis jetzt noch nicht. Ich hatte bereits vergangenes Jahr im Herbst, als sich die Lage an der deutsch-polnischen Grenze zuspitzte, ein Schreiben an Bundesinnenministerin Nancy Faeser geschickt. Da hat es, glaube ich, sechs oder acht Wochen gedauert, bis eine Antwort kam. Nach dem Motto: Das sei nur eine temporäre Geschichte und man werde versuchen, das Problem mit Lukaschenko diplomatisch zu lösen. Seitdem ist nichts passiert. Ich habe den Eindruck, dass diese Bundesregierung Migration gar nicht zum Thema haben möchte. 
Das könnte – zumindest bei SPD und Grünen – an der Wählerschaft liegen. 
Das spielt da sicherlich mit rein. Hinzu kommt die ideologische Einstellung unserer Ministerin, sich voll auf den „Kampf gegen Rechts“ zu versteifen. Mit der Folge, dass alles andere ausgeblendet wird. Dabei steht das Thema Migration doch in unmittelbarem Zusammenhang mit der Bekämpfung des Rechtsradikalismus. Je weniger das Thema in der Öffentlichkeit besprochen wird, je weniger es vom Bundesinnenministerium bearbeitet wird, desto mehr ist das Wasser auf die Mühlen dieser Leute. 
Bei jenem Strategiepapier, das Sie erwähnten, hatten Sie damals die Antwort bekommen: „temporäre Situation“. Ich nehme an, der Grund für ihr jüngstes „Strategiepapier Migration“ ist, dass es sich derzeit eben genau nicht um eine temporäre Situation handelt. Sondern, dass Sie gerade den Anfang einer Entwicklung sehen, die Ihnen Sorgen bereitet? 
Richtig. Es tun sich immer mehr Gefilde auf. Der Migrationsdruck über Weißrussland hält nach wie vor an. Die Zahl der Feststellungen unerlaubter Einreisen an der Grenze zu Polen hat sich im Vergleich zum Vorjahr um 240 Prozent gesteigert. Dann haben wir den schrecklichen Ukraine-Krieg. Wir separieren in der Statistik zwar die „normalen Migranten“ von den „Kriegsvertriebenen“ aus der Ukraine.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass sich unter die Ukraine-Flüchtlinge auch Migranten aus Ländern wie dem Irak oder Syrien mischen. Es wird zum Beispiel behauptet, man würde in der Ukraine studieren. Dabei sprechen diese Menschen kein Wort Englisch, kein Wort Russisch, sondern nur ihre Heimatsprache.
Währenddessen hat sich die sogenannte „Balkanroute“ wegen der verstärkten Kontrollen der Österreicher nur verschoben. Nun kommen die Menschen zum Beispiel über die Slowakei. Heute kam die Pressemitteilung, dass die Tschechen deshalb Grenzkontrollen zur Slowakei einführen. Das ist richtig, bringt uns aber nicht viel. Die Menschen, die wegen der Kontrollen jetzt in der Slowakei festgesetzt sind, werden sich neue Wege suchen: über Wien nach Prag und Deutschland. 
Am Wochenende hat Italien ein rechtsnationales Bündnis gewählt, wodurch sich die Situation der Migranten, die derzeit in Italien leben, verschärfen dürfte. Welchen Einfluss könnte das auf das Migrationsgeschehen haben? 
Mit ihrer Wahl haben sich die Italiener klar gegen die Migrationspolitik der Vorgängerregierung ausgesprochen. Meines Erachtens, und da mache ich auch kein Geheimnis draus, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich die ersten in Italien lebenden Migranten auf den Weg nach Deutschland machen, um einer eventuellen Abschiebung zu entgehen. Die Lage ist also hochdramatisch und das seit Jahren. Und die einzige Lösung, die ich sehe, sind temporäre Grenzkontrollen auch an der Grenze zu Tschechien einzuführen. Denn aktuell ist es so, dass die Bundespolizei Migranten dort gar nicht kontrollieren darf. 

Warum nicht? 

Weil die Grenze der Tschechischen Republik eine Binnengrenze ist. Das Schengener Übereinkommen schließt Ersatzkontrollen ausdrücklich aus. Dadurch, dass der Status einer Grenze zu Tschechien weggefallen ist, ist die Bundespolizei dort nicht mehr Grenzbehörde. An der Grenze zu Österreich ist das zum Beispiel anders, weil die, vereinfacht ausgedrückt, derzeit den Status einer Außengrenze hat. Das Gleiche fordere ich auch für die Grenze zu Tschechien. Derzeit werden unsere Bundespolizisten an der tschechischen Grenze einfach verbrannt. Ihre Aufgabe besteht darin, ankommende Menschen in die Erstaufnahmeeinrichtungen zu transportieren. Da sage ich ganz deutlich: Dafür brauchen wir keine Polizei! Das können auch private Busunternehmen erledigen. 

Sie sprachen gerade Migranten aus Syrien oder dem Irak an, die sich unter die Kriegsvertriebenen aus der Ukraine mischen. Wenn doch offensichtlich ist, dass es sich um Trittbrettfahrer handelt, warum lässt man sie dann überhaupt einfach so über die Grenze nach Deutschland einreisen? 

Die Europäische Union hat eine Verordnung erlassen, eine Richtlinie für aus der Ukraine Vertriebene. Diese untersagt der Bundespolizei im Prinzip, überhaupt nach Hintergründen zu fragen. Mit Menschen, die aus Syrien kommen, aber behaupten, in der Ukraine Studenten zu sein, hat die Bundespolizei so zu verfahren als handle es sich um Kriegsvertriebene aus der Ukraine. 

Anders formuliert: Ich darf mir als Bundespolizist nicht einmal den Visa-Stempel zeigen lassen? 

Die haben meistens überhaupt keine Dokumente dabei. Als Nachweis reicht ein ukrainischer Geldschein. 

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Ich habe mir in Vorbereitung auf unser Gespräch die aktuellen Zahlen des Bundesamtes  für Migration und Flüchtlinge angesehen. Im Zeitraum Januar bis August 2022 wurden in Deutschland über 115.000 Erstanträge gestellt. Eine Steigerung von rund 35 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Was sind die Ursachen? 

Die Hauptursachen sind immer Krieg, Hunger und Vertreibung. In Syrien, im Irak und in Afghanistan sind die Zustände teils katastrophal. Deshalb habe ich auch großes Verständnis dafür, dass Menschen aus solchen Ländern fliehen. Hinzu kommt, wie erwähnt, der Ukraine-Krieg, der die Situation zusätzlich verschärft. Obendrauf kommt die Lebensmittelknappheit in Teilen Afrikas. Dann kommt erschwerend hinzu, dass der türkische Ministerpräsident Erdogan Syrer, die sich derzeit in der Türkei aufhalten, sukzessive zurückgedrängt in die Sicherheitszone, die zwischen der Türkei und Syrien eingerichtet wurde. Das ist ein militärisches Sperrgebiet. Da wollen diese Menschen natürlich nicht hin.

Und zu allem Überfluss sendet die jetzige Bundesregierung mit ihrer Novelle des Zuwanderungsgesetzes auch noch Signale in die Welt, wonach die Leute nur herkommen und fünf Jahre durchhalten müssen, auch, wenn sie geduldet sind, und dann ein dauerhaftes Bleiberecht bekommen. Da habe ich die Ministerin auch schon darauf hingewiesen, ob sie sich denn bewusst ist, was es bedeutet, einem geduldeten Ausländer ein dauerhaftes Bleiberecht einzuräumen. 

Nämlich? 

Ausländer, die geduldet sind in Deutschland, sind durch das rechtsstaatliche Verfahren durch. Mit dem Ergebnis, dass kein Grund für Asyl vorliegt. Das einzige, was nicht passieren kann – aus  unterschiedlichsten Gründen – ist, die Abschiebung zu vollziehen. Das heißt, eine Duldung ist eine Aussetzung der Abschiebung. Man muss sich zum Beispiel ernsthaft die Frage stellen: Wie fühlen sich die Richter bei unseren Verwaltungsgerichten, die in jedem Einzelfall ganz individuell prüfen, ob ein Asylgrund vorliegt oder nicht, und zu dem Ergebnis kommen, dass kein Asylgrund vorliegt – die Ausländerbehörden aber die Abschiebungen nicht vollziehen können, also eine Duldung erteilen. Stellen Sie sich den Richter vor, der weiß, egal, welches Urteil er fällt: Es ist eigentlich für die Katz‘. Und noch ein Punkt. 

Bitte. 

Ich habe auch großes Verständnis für Staaten, die an ihren Außengrenzen eine gravierende Situation haben – Griechenland und Italien etwa – und entsprechend alles andere als begeistert sind, wenn Deutschland oder andere Länder solche Signale senden. Denn dadurch treiben sie die Ankünfte an den Außengrenzen künstlich nach oben. Wenn die Bundesregierung so weitermacht, wird sich Deutschland immer mehr isolieren in der Europäischen Union. Wir müssen endlich eine konsequente rechtsstaatliche Linie im Umgang mit Asyl fahren. 

Wir sprachen gerade über Erstanträge. Wie hoch ist denn die Dunkelziffer, also die Zahl der Menschen, die über die Grenze kommen, aber nicht erfasst werden? 

Die Dunkelziffer schätze ich als relativ gering ein. Das hat damit zu tun, dass Deutschland erklärtes Zielland ist. Und wer nach Deutschland will, muss eigentlich nur aufpassen, dass er nicht in einem anderen Land registriert wird. Denn dann wäre ja der Staat, in dem die Registrierung erfolgt ist, zuständig. 

Theoretisch jedenfalls. De facto zeigt sich immer wieder, dass es in der Realität anders läuft. Wie dem auch sei: CDU-Chef Friedrich Merz hat gerade einen ordentlichen Shitstorm bekommen. Er hat nämlich von einem „Sozialtourismus“ durch ukrainische Flüchtlinge gesprochen. Wie bewerten Sie diese Aussage? 

In Einzelfällen hat er sicherlich Recht. Die Sache aber zu pauschalisieren, halte ich nicht für besonders klug. Ich hätte mir gewünscht, dass Herr Merz stattdessen auf den Sozialbetrug ausreisepflichtiger Ausländer in Deutschland eingeht. Denn davon haben wir mehrere 100.000 Menschen im Land. Ich rede von Migranten, bei denen es faktisch keinen Grund für eine Abschiebeaussetzung gibt. Jene Bundesländer, die für Rückführungen zuständig sind, vollziehen aber die Abschiebung nicht. Ich habe Verständnis für diese Menschen, aber letztlich würde hier der Begriff „Sozialbetrüger“ passen. Die Bundesländer Berlin und Brandenburg sind in der Sache übrigens Vorreiter. 

Was sind denn die zentralen Gründe, warum eine Abschiebung nicht durchgeführt wird? 

Der Großteil der ausgesetzten Abschiebungen erfolgt aufgrund der Tatsache, dass es Krieg in den Ländern gibt, wo die Menschen herkommen. Ein weiterer Grund ist, dass es schwierig ist, an Papiere für diese Menschen zu kommen. Das hat aber auch mit den Zuständigkeiten zu tun. Für die Beschaffung von Papieren ist derzeit das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zuständig, kurz BAMF. Die machen einen guten Job, aber stoßen auf dem ganz normalen bürokratischen Weg oft an Grenzen. Hier könnte die Bundespolizei helfen. 

Inwiefern? 

Wir pflegen sehr gute internationale polizeiliche und diplomatische Beziehungen und könnten oft einfacher an Papiere für diese Menschen kommen. Daher war auch vorgesehen, dass der Bundespolizei im neuen Bundespolizeigesetz entsprechende Zuständigkeiten und weitere eingeräumt werden. Das ist vergangenes Jahr aber leider nicht durch den Bundesrat gekommen. Daher geht es erstmal weiter wie bisher: Wenn meine Kolleginnen und Kollegen, um ein Beispiel zu nennen, eine Person wegen Ladendiebstahls am Hamburger Hauptbahnhof aufgreifen, und sich bei der polizeilichen Überprüfung herausstellt, dass diese Person zur Festnahme und Abschiebung ausgeschrieben ist, ist die Landespolizei zuständig. Die wiederum setzt sich mit der Ausländerbehörde in Verbindung. Und die sagt dann: „Tut uns leid, wir können nicht abschieben.“ Zwei Stunden später treffen meine Kolleginnen und Kollegen die gleiche Person erneut am Hauptbahnhof an. 

Bleiben wir kurz beim Thema Bundespolizeigesetz. Was fordern Sie also konkret? Was soll da drinstehen? 

Da muss konkret die Befugnis zur Onlinedurchsuchung drinstehen sowie die Befugnis zur Quellen- und Telekommunikationsüberwachung. Außerdem die Zuständigkeit, auch im Landesinneren als Behörde tätig zu werden. Wir wollen für unsere Kolleginnen und Kollegen zudem eine Regelung im Gesetz zum unmittelbaren Zwang, also beispielsweise, dass Taser eingeführt werden. Wir wollen eine sogenannte Zuständigkeit haben im Gesetz, dass wir bei Menschenhandel, Schleusungen, Prostitution, Geldwäsche, Drogenkriminalität, Waffenschmuggel – das sind so typische grenzüberschreitende Phänomene der Kriminalität – dass wir dort gebündelt die Zuständigkeit bei einer einzigen Ermittlungsbehörde haben. Das und mehr sind so Dinge, die ein modernes Bundespolizeigesetz ausmachen würden. 

Derzeit arbeiten wir aber noch in den Zuständigkeiten von 1994. Da können Sie 2022 nicht mehr wirklich viel mit anfangen. Ein Beispiel: Wenn ein Fahrkartenautomat der Deutschen Bahn gesprengt wird, ist die Landespolizei zuständig. Wenn der gleiche Automat aber nicht gesprengt, sondern mit einem Brecheisen aufgebrochen wird, ist die Bundespolizei zuständig. Das ist doch völliger Irrsinn. Deshalb braucht es ein neues Gesetz. Da sperren sich aber leider die Länder, weil sie Angst haben, dass die Bundespolizei dann „zu mächtig“ wird und in Kompetenzen der Länder eingreift. Eine Sorge, die ich für absolut unbegründet halte.
Kurzes Zwischenfazit: Im Prinzip sagen Sie, dass die Polizei beziehungsweise die Bundespolizei das Land und damit den Bürger derzeit nicht in ausreichendem Maße schützen kann, weil die Rahmenbedingungen dafür nicht gegeben sind. 

Das kommt darauf an. Die Rahmenbedingungen bei der Grenzpolizei sind hervorragend. Man muss sie nur anwenden. Man muss nur dafür sorgen, dass die Bundespolizei an einer Grenze tätig werden darf. Dafür muss die Grenze „modifiziert“ werden, was nicht mehr bedeutet, als diese Grenze beim Europäischen Rat anzumelden beziehungsweise dass dort Grenzkontrollen durchgeführt werden. Man muss sich das nicht mal genehmigen lassen, nur anmelden. Und dann kann die Bundespolizei endlich ihren Job machen. 

Wenn die Probleme dem Innenministerium bekannt sind und man solche Grenzkontrollen ohne großen Papierkram einfach anmelden kann: Dann klingt das für mich ein bisschen nach Arbeitsverweigerung, wenn das die Bundesregierung nicht macht. 

Von Verweigerung würde ich nicht sprechen wollen. Denn Europa lebt natürlich auch von den grenzenlosen Reisen. Das ist ein hohes Gut. Das habe ich in meinem Strategiepapier auch ausdrücklich so erwähnt. Und das allerletzte Mittel, dieses hohe Gut in irgendeiner Art und Weise einzuschränken, sollten temporäre Grenzkontrollen sein. Aber wenn die Sicherheitslage ist, wie sie seit sechs Monaten und eigentlich schon seit Jahren ist, dann sollte Europa insgesamt auch Verständnis dafür haben, wenn ein Nationalstaat zu dieser Möglichkeit greift. Und wie gesagt: An der österreichischen Grenze wird ja bereits kontrolliert. Und die Kollegen machen dort einen hervorragenden Job. Die wissen genau, welches Auto schauen sie sich an, welches nicht. Das ist polizeilicher Spürsinn. 

Steuern wir gerade auf eine zweite Flüchtlingskrise zu? 

Wir sind schon mittendrin. Mit dem Unterschied zu 2015, dass es keine hohen Peaks gibt, also, dass sich nicht wirklich sichtbare Menschenmassen auf den Weg machen, die man dann eigentlich nicht mehr aufhalten kann. Warum sind wir meiner Auffassung nach trotzdem schon mittendrin? Die Situation 2015 war deshalb so dramatisch, weil Deutschland innerhalb kürzester Zeit hunderttausende Menschen irgendwie unterbringen, versorgen und ins Verfahren bringen musste. Da wir seit 2015 aber nicht konsequent zurückgeführt haben, sind die Unterbringungskapazitäten immer knapper geworden. Jetzt kam der Ukrainekonflikt dazu und die Millionen von Menschen, die irgendwo in Europa aufgenommen werden mussten. Ich glaube, Deutschland hat knapp 1 Million Menschen aus der Ukraine aufgenommen. Dann sind die Kapazitäten voll bei den Ländern. 

Mit welchen Konsequenzen? 

Wir haben schlichtweg bald keine Möglichkeit mehr, irgendjemand ein Dach überm Kopf zu bieten. Und deshalb sage ich: Wir stecken mittendrin. Dafür braucht es längst keine Massen an den Grenzen mehr. Es reichen diese Tröpfchen, die jetzt von überall durchtropfen. Das wird uns wirklich über die Grenze des Leistbaren hinausbringen.

Zum Rechts- und Linksradikalismus gesellen sich mittlerweile auch Ökoextremisten. Außerdem steigt angesichts von Inflation und Energiekrise der Unmut in der Bevölkerung. Verantwortliche warnen bereits vor Ausschreitungen in den kalten Monaten. Wenn jetzt noch die nächste Flüchtlingskrise hinzukommt, klingt das für mich nach einer explosiven Mischung.  

Das ist eine sehr explosive Mischung. Und die Bundesregierung zündelt mit. Neben den Aufgaben, die die Bundespolizei an den Grenzen, an den Flughäfen und Bahnhöfen zu verrichten hat, gibt es auch eine Bundesbereitschaftspolizei, die die Länder zum Beispiel bei Demonstrationen unterstützt. Das kann sie aber nur, wenn genug Personal da ist. Aufgrund der Flüchtlingssituation sind die meisten Kräfte allerdings gebunden und verstärken derzeit die Sicherheitskräfte an der österreichischen und an der tschechischen Grenze. Das heißt, wenn es – wie zuletzt in Leipzig – wieder zu Montagsdemonstrationen kommt und die Proteste im Herbst und Winter insgesamt zunehmen, dann kann die Bundesbereitschaftspolizei die Länder nicht mehr unterstützen.

Wir haben deshalb für den Haushalt der Bundespolizei zehn zusätzliche Einsatzhundertschaften gefordert und das Parlament gebeten, im Haushalt 2022 entsprechend zusätzliche Planstellen zu schaffen, um eben auch weiterhin die Länder unterstützen zu können. Bekommen haben wir 1000 neue Planstellen. Davon brauchen wir 500 unter anderem für die Flughäfen. Und aus den restlichen 500 können wir gerade einmal vier Hundertschaften generieren, denn eine Hundertschaft entspricht 124 Beamten. Hinzu kommt, dass Bundesfinanzminister Christian Lindner beim Haushalt der Bundespolizei für das Jahr 2023 eine Streichung von 500 Millionen Euro vorgenommen hat. Meine Vermutung ist: Wir werden ab Mitte 2023 keinen Hubschrauber mehr in die Luft bringen, kein Schiff mehr fahren lassen können und die Kolleginnen und Kollegen im Einsatz nicht mehr angemessen verpflegen können. 

Und das während einer Gemengelage, in der ein Funken dazu führen könnte, dass Leute ausrasten und randalierend durch die Straßen ziehen. 

So ist es. Schauen Sie, wenn ich Rechtsradikalismus in Deutschland verhindern möchte, dann kann ich nicht Sportvereinen verbieten, aufgrund der Energiekrise Turnhallen zu benutzen, um diese Turnhallen dann als Unterkünfte für in Deutschland ankommenden Migranten zu verwenden und dauerhaft zu heizen. Das bekämpft Rechtsradikalismus nicht. Das schürt ihn.

Wie bewerten Sie denn die Gefahren aus der linksextremen Ecke? 

Für die Linken ist der Konflikt um die Migrationsfrage ein gefundenes Fressen. Die schmeißen sich jetzt auf die Seite der in Deutschland ankommenden Migranten und beschimpfen meine Kollegen bei den Kontrollen in Dresden am Hauptbahnhof als Rassisten. Sie behaupten, da würde „Racial Profiling“ betrieben, weil wir einen aus Prag ankommenden Zug auf unerlaubte Einreisen kontrollieren. Das Menschen, die mitteleuropäisch aussehen, dabei nicht oder kaum kontrolliert werden, ist völlig normal.  Aber das ist dann halt wiederum Wasser auf die Mühlen der Linken. Was meinen Sie, wie sich meine Kolleginnen und Kollegen dabei fühlen? Die werden von Ratzeburg nach Dresden geschickt, um unerlaubten Einreisen entgegenzuwirken, und müssen sich dann sogar von irgendwelchen Landtags- und Bundestagsabgeordneten der Linken und der Grünen beschimpfen lassen. Einfach nur, weil sie ihren gesetzlichen Auftrag wahrnehmen. Das ist katastrophal. 

Außerdem haben die Übergriffe – das zeigt die Statistik – auf Polizeibeamte massiv zugenommen haben. 

Richtig. Und auch da kann ich Ihnen sagen: Wenn es im heißen Herbst noch heißer wird, weil die großen Bahnhöfe in Deutschland im Winter immer Zufluchtsorte sind für viele Menschen, die auf der Straße leben; wenn diese großen beheizten Bahnhofshallen dann auch noch genutzt werden, um schlichtweg ein bisschen Wärme im Bahnhof zu haben, als unter Umständen im eigenen Wohnzimmer zu frieren, dann schürt das reihenweise Konflikte.

Der Bundesregierung ist der Ernst der Lage also nicht bewusst. 

Ganz offensichtlich nicht. Und ich gehe noch einen Schritt weiter: Die derzeitigen Probleme werden von den politisch Verantwortlichen vertuscht und verheimlicht. Zahlen zur Migration sind selbst für mich als Bundespolizisten unglaublich schwer zu bekommen. Also valide Zahlen. Und warum? Weil das Bundespolizeipräsidium vom Bundesinnenministerium beim Thema illegale Migration einen Maulkorb verpasst bekommen hat. 

Was meinen Sie? 

Ich nenne Ihnen ein Beispiel, das ich als „ministeriellen Sozialismus“ bezeichne. Die Bundespolizei hat anlässlich der Corona-Lage letztes Jahr und der dadurch durchgeführten Mehrkontrollen im Südwesten der Republik eine Technik selbst beschafft, die es unseren Einsatzkräften möglich macht, ad hoc Kontrollstellen einzurichten, inklusive Gewahrsamsräumen, Arbeitsräumen, Schutzräumen und Büroräumen. Das sind Container sozusagen, die jetzt getestet werden sollten.

Die Bundespolizei hatte vor, diese Tests vorletzte Woche auf der Autobahn 17 in Breitenau auszuprobieren. Das ist die Autobahnverbindung zwischen Prag und Dresden. Das Ministerium kam dahinter, dass die Bundespolizei diese Container dort aufstellen wollte und hat sofort dagegen demonstriert: Um Gottes Willen, macht das nicht, probiert die lieber an der holländischen Grenze aus, dann laufen wir nicht Gefahr, dass durch diese Kontrollstellen unglaublich viele unerlaubte Einreisen festgestellt werden. Das haben sie so natürlich nicht so gesagt, aber das ist der Hintergrund. Da kann man nur den Kopf schütteln. 

Da fehlen mir, ehrlich gesagt, langsam die Worte. Daher abschließend eine Zusammenfassung: Was müsste am besten gestern unternommen werden, damit die Dinge laufen, wie sie eigentlich laufen sollten? Damit die Bundespolizei ihre Arbeit richtig machen kann. 

Erstens: Die Bundesinnenministerin müsste sofort – wie Sie sagen, am besten gestern – beim Europäischen Rat die temporären Grenzkontrollen zur Tschechischen Republik anmelden. Dadurch könnte die Bundespolizei Menschen, die dort ankommen und unzulässige Anträge stellen, entweder zurückweisen oder gar nicht erst einreisen lassen.

Zweitens: Wir müssen ganz schnell zusehen, dass diejenigen Menschen ohne dauerhaftes Bleiberecht, die sich in Deutschland aufhalten, endlich außer Landes gebracht werden.

Drittens: Wir müssen die Zuständigkeiten, also der Bundespolizei und des BAMF, bündeln und gemeinsam an den eingerichteten Grenzkontrollen stehen. Das heißt, die Feststellung des unerlaubt Eingereisten erfolgt durch die Bundespolizei und die Bearbeitung unmittelbar vor Ort durch das BAMF im Schnellverfahren. Das für den Fall, dass es sich dort um Einreisen handelt von Menschen, die bereits in einem anderen Land der Europäischen Union einen Asylantrag gestellt haben. Das BAMF kann dann sofort das Dublin-Verfahren einleiten und auch die Menschen sofort in das Land zurückbringen, wo der erste Antrag gestellt worden ist.  

Was noch? 

Unter Umständen bräuchten wir auch sogenannte Gewahrsamszentren. Die vorangegangene Bundesregierung war da in den Diskussionen eigentlich schon relativ weit fortgeschritten. Die Idee ist, solche Zentren zum Beispiel am alten Flughafen Berlin-Schönefeld einzurichten. Auf richterliche Anordnung könnten dort Menschen bis zu sechs Monate untergebracht werden, um die Zurückschiebung zu sichern. Das gilt natürlich nicht für Kriegsvertriebene aus der Ukraine, sondern für Menschen, deren Asylanträge von vornherein unbegründet oder unzulässig sind. Ein Ziel solcher Zentren wäre, auszuschließen, dass Menschen in Deutschland in der Illegalität untertauchen. 

Haben Sie da ein gutes Beispiel für mich aus der Europäischen Union? 

Polen zum Beispiel geht immer in eine sogenannte Vorprüfung. Jeder, der in Polen Asyl beantragt, muss diese durchlaufen. Da gibt es dann kaum einen Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Antrags. Nein, die Person bleibt so lange im Gewahrsam, bis das geklärt ist. Die Schweden machen das mittlerweile auch. Und Schweden ist ganz sicher kein rechtsradikales Land. Also könnten wir das auch. Dafür wäre dann zwar nicht die Polizei zuständig, aber das sind Gedanken, die sich die Bundesregierung eigentlich schon gestern hätte machen müssen. Sonst werden wir der Lage hier in Deutschland nicht mehr Herr. 

Das Gespräch führte Ben Krischke.

 

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