Wird Scholz mit Kritik konfrontiert, weist er sie zurück. «Wir haben», sagte er jüngst beim «Kanzlergespräch» im bayrischen Füssen, «eigentlich gegenwärtig eine Lage, die ein bisschen anders ist als manche Dinge, die man so hört.» Konkret nannte er die «höchste Beschäftigtenzahl in der Geschichte Deutschlands, 45 Millionen Erwerbstätige». Ihm, Scholz, sei nicht bange. Alle könnten beruhigt sein: «Dass es wirklich so ist, dass es bei uns schlecht ausgeht, das ist ziemlich unwahrscheinlich, wenn wir das Richtige tun.»
Viele Bürger, Politiker anderer Parteien, Wissenschafter und Forscher runzeln die Stirn, denken sie an Deutschlands Zukunft. Sie bezweifeln, dass die Regierung das Richtige tut. Unternehmer befürchten, die Regierung habe die soziale Marktwirtschaft zum Auslaufmodell erklärt. Eine zuverlässig steigende Steuer- und Abgabenlast erschwert den technischen ebenso wie den ökonomischen Fortschritt.
Migration als Kernproblen
Ein weiteres Feld nicht minder gravierender Probleme ist die Migrationspolitik. Zaghafte Absichtserklärungen, der Steuerung der Zuwanderung eine Begrenzung zur Seite zu stellen, werden in der Praxis konterkariert. Ausschaffungen abgelehnter Asylbewerber bleiben rare Ausnahmen, an den Pull-Faktoren ändert sich nichts, die Kommunen sind mit der Unterbringung der Migranten überfordert.
Allein in diesem Jahr könnten am Ende über 300 000 Asylbewerber und eine ebenfalls sechsstellige Zahl von Flüchtlingen aus der Ukraine Einlass erhalten haben. Da lauert eine soziale wie ökonomische Herausforderung ungeahnten Ausmasses. Sie hat das Potenzial, Deutschland umzugestalten.
Dass im öffentlichen Raum die Sicherheit zu erodieren beginnt, hat nicht ausschliesslich, aber eben auch mit der Migration zu tun. Wie entstanden die sogenannten No-go-Areas, in denen der Rechtsstaat nur Zaungast ist, und wie könnten sie wieder verschwinden? Die innere Sicherheit ist auch deshalb so zentral, weil sie darüber entscheidet, ob Deutschland für qualifizierte Zuwanderer attraktiv bleibt. Niemand will in ein Land übersiedeln, in dem er mit einer für ihn relevanten Wahrscheinlichkeit fürchten muss, Opfer einer Messerattacke oder eines Machetenangriffs zu werden.
Auch der Zustand der Bundeswehr, die letztlich die äussere Sicherheit garantieren müsste, lässt trotz einer pathetisch ausgerufenen «Zeitenwende» zu wünschen übrig. Wäre auf sie wirklich Verlass, wenn die Bundesrepublik sich verteidigen müsste? Deutschland scheint nur bedingt abwehrbereit zu sein, aller Beliebtheit des amtierenden Verteidigungsministers zum Trotz.
Gerne abgewehrt werden hingegen die Ansprüche auf eine funktionierende Infrastruktur. Deutschland ist eben auch das Land der maroden Brücken, der trägen Behörden und der noch immer viel zu vielen Funklöcher. Digitalisierung wurde vom Fremd- zum Schimpfwort. Der Aufbruch ins 21. Jahrhundert steht noch aus.
Die Einheit steht auf dem Spiel
Bleiben ferner, um die Kette der Probleme zu vollenden, die Bildung, die Justiz und die neue Kluft zwischen Ost und West. Zur Bildungsnation wird Deutschland in Sonntagsreden erklärt, in der Praxis bleibt es beim Wünschen, Hoffen, Daumendrücken. Die mangelnden Lese- und Rechenkünste der Grundschüler sind ebenso beklagenswert, wie es die oftmals nur noch formale Hochschulreife der Abiturienten ist. An den Universitäten gilt in vielen Disziplinen die vermeintlich richtige Haltung mehr als das richtige, das unvoreingenommene Denken, Forschen, Ausprobieren.
Die Gerichte ächzen derweil unter der Last von Bagatellfällen ebenso wie unter subtil vermittelten weltanschaulichen Vorgaben. Und mental, so scheint es, ist die Mauer zwischen den Landesteilen zurückgekehrt. Die Wahlen im kommenden Jahr werden zeigen, ob da wieder entzwei reisst, was einmal zusammenwuchs.
Deutschland ist durchaus, wie es Olaf Scholz einmal formulierte, ein Hoffnungsland. Am Anfang aber jeder Hoffnung, die nicht ins Lächerliche abrutschen will, braucht es eine ungeschminkte Bestandsaufnahme. Wer die Augen vor der Realität verschliesst, kann diese nicht zum Besseren verändern. Wer aber in Untergänge verliebt ist, wird sie erleben.
Deshalb braucht es beides: den Mut, die Wirklichkeit gerade da auszuhalten, wo sie schmerzt – und die Neugier auf eine Zukunft, die keineswegs mit schicksalshafter Notwendigkeit schlecht ausgehen muss.
Hier geht es zum ersten Text der neuen NZZ-Serie: Adieu, soziale Marktwirtschaft? Wie der deutsche Staat den Aufbau von Wohlstand verhindert.
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