Der Fall Deutschland
Es
brauche eine «klare Analyse und beherztes Handeln», damit das
angeschlagene Land wieder auf die Beine komme, so appellierte Dulger
daher an die Bundesregierung. Denn nicht zuletzt sie sieht er in der
Pflicht: Während man ihr die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie oder
des russischen Überfalls auf die Ukraine nicht vorwerfen könne, müsse
sie sich aber der Kritik stellen, zu wenig zu unternehmen, um Bürger und
Betriebe zu entlasten.
Es
ist ein Vorwurf, den Wirtschaftsexperten schon lange äussern – und der
jüngst von neuen Zahlen der Industrieländerorganisation OECD
eindrücklich untermauert wurde. Ein Durchschnittsverdiener musste in
Deutschland 2022 demnach mittlerweile beinahe jeden zweiten Euro seines
Einkommens dafür aufwenden, seine Steuern zu zahlen und seine Beiträge für die Sozialversicherungen zu begleichen. Es ist ein fragwürdiger Rekord: Nur in Belgien werden Arbeitnehmer laut OECD noch stärker zur Kasse gebeten.
Wenig besser sieht die Situation für Familien aus: Im Schnitt kassierte
der deutsche Staat bei einem Doppelverdiener-Paar mit Kindern im
vergangenen Jahr 40,8 Prozent der Bezüge in Form von Steuern und
Abgaben. Das ist weit entfernt von der durchschnittlichen Abgabenlast in
anderen Industrieländern und noch weiter entfernt von Nachbarländern
wie der Schweiz, wo der Staat seine Bürger mit Abgaben belastet, die im
Schnitt nur halb so hoch liegen.
Vor allem die deutsche Mittelschicht trifft die hohe Kostenlast: Sie
geriet in letzter Zeit unter Druck und schrumpft. Seit der Finanzkrise
2008/09 ist der Anteil von Bürgern mit mittleren Einkommen und Vermögen
von knapp 65 auf 63 Prozent gesunken, wie es in einer Studie des
Ifo-Instituts heisst. Dieser auf den ersten Blick moderate Rückgang
müsse dabei im europäischen Vergleich gesehen werden: Lag Deutschlands
Grösse der Mittelschicht im Jahr 2007 noch auf Rang 9 im europäischen
Vergleich und somit im oberen Drittel der Verteilung, so findet sie sich
im Jahr 2019 nur noch auf Platz 14 und somit im Mittelfeld der 28
betrachteten europäischen Länder wieder.
Während
aber die Arbeitnehmer unter hohen Abgaben ächzen, geht es dem deutschen
Staat glänzend. Für das laufende Jahr erwarten Bund, Länder und
Gemeinden Steuereinnahmen von 921 Milliarden Euro. Der deutsche Staat
würde damit so viel Geld einnehmen wie niemals zuvor in seiner
Geschichte. Tendenz: steigend. Spätestens 2025 könnte erstmals die
Billionengrenze bei den Einnahmen überschritten werden, teilte das
Finanzministerium im Mai mit.
Lena
Gaedke bringt dieser Kontrast mittlerweile ins Grübeln. Die 33-Jährige
lebt mit ihrem sechsjährigen Sohn im niedersächsischen Nienburg. Nach
dem Schulabschluss hat sie eine Friseurlehre absolviert und sich auch in
den folgenden Jahren weitergebildet: Vor zwei Jahren bestand sie die
Meisterprüfung. «Ich bin stolz auf den Weg, den ich gegangen bin, denn
er war nicht immer einfach», erzählt sie. «Mein Sohn war ein Geschenk
für mich, aber für mich war auch klar, dass ich in meinem Beruf
vorankommen wollte.»
Und
sie musste das auch. Denn die Beziehung zum Kindsvater zerbrach bald
nach der Geburt, seither ist sie sowohl finanziell als auch bei der
Erziehungsarbeit auf sich allein gestellt. Der Fiskus macht es ihr nicht
leichter: «Netto bleibt mir ein monatliches Einkommen von gut 1600
Euro», sagt Gaedke. Zum Überleben reiche das, ein Ferienausflug hingegen
werde schwierig – und ihr Traum von einer Eigentumswohnung für sich und
ihren Sohn unmöglich.
«Mich
wundert es, dass über die Arbeitssituation von berufstätigen
Alleinerziehenden nicht viel mehr gesprochen wird.» Sie habe es für sich
selbst schon einmal durchgerechnet: «Wenn ich meinen Job kündigen, zu
Hause bleiben und Bürgergeld beantragen würde, wäre meine finanzielle
Situation nicht viel schlechter als heute.» Im Gegenteil: Eventuell
könnte sie sogar jeden Monat ein paar Euro mehr auf dem Konto haben.
Eine «verrückte Vorstellung», so findet Gaedke.
Der Staat macht Freizeit günstig – und Arbeit teuer
Doch
selbst wenn sich Gaedke dazu entschliessen sollte, ihre Arbeitszeit
aufzustocken, und ihr Gehalt damit steigen würde, würde sich an ihrer
finanziellen Situation nichts Grundlegendes ändern. Denn der Fehler
liegt im System: Der deutsche Staat bestraft die Fleissigen. Das erklärt
der Ökonom Friedrich Heinemann, der am Leibniz-Zentrum für Europäische
Wirtschaftsforschung in Mannheim forscht.
Deutschland
sei mittlerweile das Industrieland, in dem pro Kopf die wenigsten
Arbeitsstunden im Jahr erbracht würden. Schuld daran sei nicht zuletzt
das Steuer- und Abgabensystem, das dazu führe, dass sich Mehrarbeit für Arbeitnehmer schlichtweg nicht mehr lohne.
Beim Grundgehalt gäben sich das Finanzamt und die Sozialkassen zwar
noch zurückhaltend. «Wenn aber die Arbeitszeit aufgestockt wird, führen
die sogenannten Grenzabgaben zu deutlich höheren Belastungen.»
Heinemann
verdeutlicht dies anhand eines Beispiels: «Wenn ein alleinstehender
Durchschnittsverdiener in der Industrie eine Lohnerhöhung von 100 Euro
mit seinem Arbeitgeber aushandelt, wandern lediglich 41 Euro zusätzlich
in sein Portemonnaie.» Die restlichen 59 Euro werden in Form von Steuern
und Sozialabgaben vom Staat einbehalten. Die Höhe der Grenzabgaben
betrage somit etwa 60 Prozent, erklärt der Ökonom.
Damit
nicht genug: Wenn der Arbeitnehmer den zusätzlichen Lohn direkt
ausgibt, greift der Staat erneut über die Mehrwertsteuer zu. In einigen
Fällen bleiben von einer Gehaltserhöhung um 100 Euro dann lediglich 33
Euro übrig. «Der Staat sorgt in Deutschland also dafür, dass Freizeit
günstig, Arbeit hingegen teuer wird», sagt Heinemann. «Der Aufbau von
Wohlstand im Land wird dadurch vom Staat aktiv verhindert.» Das belegen
auch die amtlichen Daten: Seit 1990 ist die Zahl der Arbeitnehmer, die
lediglich einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen, explosionsartig
angestiegen.
Der
schrumpfende Wohlstand im Land macht sich dabei schon jetzt deutlich
bemerkbar – nicht nur bei Erwerbstätigen in den unteren
Einkommensschichten wie bei der Friseurmeisterin Gaedke. Sogar bis tief
in die Mittelschicht hinein ist es vielen Deutschen mittlerweile nicht
mehr möglich, sich elementare Lebensträume zu erfüllen – wie etwa den
Erwerb einer eigenen Immobilie.
Deutschland
sei im europäischen Ländervergleich «klares Schlusslicht» beim Anteil
der Haushalte, die in ihren eigenen vier Wänden lebten, gab das
Münchener Ifo-Institut in einer neuen Studie zu bedenken. Weniger als
die Hälfte aller Haushalte lebten demnach jüngst in einem eigenen Haus
oder einer eigenen Wohnung, während in den anderen europäischen Ländern
der Mehrheit der Haushalte die Immobilie gehöre, in der sie wohnten.
Verhindert
wird der Immobilienkauf für viele – und damit der Wohlstandsaufbau –
nicht zuletzt vom Staat, der die Kosten in die Höhe treibt. Nach
Berechnungen des Spitzenverbands der Immobilienwirtschaft (ZIA) sind
mittlerweile fast 40 Prozent der Kaufpreise für Immobilien auf direkte
staatliche Abgaben und Anforderungen zurückzuführen.
Der
ZIA-Präsident Andreas Mattner gibt deshalb zu bedenken: «Explodierende
Grunderwerbssteuern, Gebühren, Gewinnabschöpfungsmodelle sowie Vorgaben
und Restriktionen verursachen weit mehr als ein Drittel der Kosten.
Genau hier sind die Hebel, wenn eine Wende am deutschen Wohnungsmarkt
realistisch sein soll.»
Wie
der Staat den Immobilienerwerb seiner Bürger fördern kann, zeigen die
Niederlande, wo etwa die Grunderwerbssteuer nicht pauschal sämtlichen
Käufern auferlegt wird.
Wer
seine Wohnimmobilie selbst nutzt, wird mit einem ermässigten Satz von 2
Prozent besteuert. Kapitalgesellschaften hingegen müssen beim
Immobilienerwerb 8 Prozent auf den Tisch legen. Besonders gefördert
werden zudem junge Hauskäufer: Sie sind bis zum Alter von 35 Jahren
gänzlich von der Grunderwerbssteuer befreit – solange der Kaufpreis
400 000 Euro nicht übersteigt. Auch für Neubauten fällt keine
Grunderwerbssteuer an.
Die Rente wackelt
Gerade
eine höhere Eigentümerquote bei Immobilien wäre für die deutsche
Wohlstandsentwicklung wichtig – nicht zuletzt für all jene Bürger, die
ihr Erwerbsleben bereits beendet haben. Denn das gesetzliche deutsche Rentensystem stösst wegen der Gesellschaftsalterung an seine Grenzen,
es muss mittlerweile mit immer neuen Steuermilliarden stabil gehalten
werden. Und es reicht dennoch für viele allenfalls noch aus, um die
nötigsten Bedürfnisse zu decken.
Mehr
als ein Viertel aller deutschen Rentner verfügt monatlich über weniger
als 1000 Euro. Das geht aus jüngsten Daten hervor, die das Statistische
Bundesamt vergangene Woche vorgelegt hat. Die Senioren liegen damit
sogar noch unter der amtlich definierten Armutsgrenze von 1250 Euro, was
60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland entspricht. In den
ersten drei Monaten des Jahres waren deshalb 684 000 Rentner auf die
staatliche Grundsicherung angewiesen. Das entspricht einem Anstieg von
15 Prozent oder 90 000 Rentnern im Vergleich zum Vorjahr.
Auch
hier liegt der Fehler im System: Die Politik hat bei der Altersvorsorge
in den vergangenen Jahren alles auf eine Karte gesetzt: die gesetzliche
Rentenversicherung. Das war eine riskante Strategie, denn die
Wohlstandsvorsorge für das Alter sollte auf mehreren Säulen ruhen. «Die
demografische Entwicklung und insbesondere der anstehende Renteneintritt
der Babyboomer setzt die umlagefinanzierte gesetzliche Rente, die für
die meisten die wichtigste Säule der Altersvorsorge ist, massiv unter
Druck», sagt der Ökonom Volker Wieland. «Die Zahl der Rentenempfänger
pro Beitragszahler wird deutlich und dauerhaft zunehmen.»
Die
private und betriebliche Vorsorge ist in den letzten Jahrzehnten
hingegen völlig in den Hintergrund getreten. Statt die Beitragssätze für
die Sozialkassen in den kommenden Jahren weiter ansteigen zu lassen,
sollte die Politik den Bürgern einen finanziellen Freiraum verschaffen,
damit sie sich noch auf anderem Weg ein Polster für den Ruhestand
anlegen können.
Der
Ökonom Wieland erklärt, wie es funktionieren könnte: «Um die Rente
zukunftsfähig zu machen, müsste das Renteneintrittsalter schrittweise
angehoben und an die Lebenserwartung angepasst werden.» Ausserdem
müssten die kapitalgedeckten Renten viel stärker ausgebaut werden, das
heisst, man müsste die «Riesterrente» reformieren, so dass die private
Altersvorsorge viel mehr genutzt würde, das angesparte Vermögen breiter
in Wertpapiere und Aktien angelegt werden könnte und die Kosten sänken.
«Ebenso gilt es, die kapitalgedeckte betriebliche Altersvorsorge
auszubauen.»
Als
gutes Beispiel nennt Wieland Schweden. Dort fliessen 2,5 Prozent des
Bruttoeinkommens in kapitalmarktbasierte Produkte, die die Arbeitnehmer
auswählen können. Man muss es nicht genau wie Schweden machen, aber
länger zu arbeiten und die Altersvorsorge stärker über den Kapitalmarkt
zu organisieren, dies sind entscheidende Schritte, um die Rente vom Kopf
auf die Füsse zu stellen.
Wie
es besser geht, zeigt auch die Schweiz: Hier ist die betriebliche,
kapitalgedeckte Altersvorsorge obligatorisch. Und das führt auch zu
einem besser ausgeglichenen Einkommensverhältnis der Bürger am
Lebensabend. Während sich in Deutschland der Grossteil der
Renteneinkommen aus der gesetzlichen Rentenversicherung speist, sind sie
in der Schweiz annähernd ausgeglichen.
Der
positive Effekt: Der Abstand zwischen dem letzten Gehalt und der
Rentenzahlung ist im Alpenland deutlich geringer, als das in Deutschland
der Fall ist.
Es braucht einen wirtschaftlichen Kulturwandel
Die
«deutsche Krankheit» – die wohlstandsgefährdende Belastung der Bürger
durch Steuern und Abgaben – führt also schon heute zu drastischen
Konsequenzen. Um die Heilung anzustossen, bedarf es dabei nicht nur des
Herumschraubens an Steuersätzen und Abgabenquoten – es braucht auch
einen Kulturwandel. Davon ist der Ökonom Heinemann überzeugt. In den
vergangenen Jahrzehnten habe in Deutschland die Staatsgläubigkeit
zugenommen. In den Gründungsjahren der Republik habe es ein anderes
Verständnis dafür gegeben, welche Aufgaben dem Sozialstaat zukämen:
«Ursprünglich sollten Menschen am unteren Ende der Einkommensskala
zielgenau unterstützt werden.»
Inzwischen
aber solle der Staat auch einspringen, um eine breite Absicherung der
Mittelklasse gegen alle möglichen Risiken sicherzustellen. Damit habe
sich auch das Handeln der Menschen gewandelt: «Die Bürger kennen sich
inzwischen besser damit aus, wie sie einen bestimmten staatlichen
Transfer beantragen, als damit, wie sie mit eigener Arbeit ihren
Wohlstand selbst aufbauen können.» Anders ausgedrückt: Das Land
verabschiedet sich von der Ludwig-Erhardschen Idee der Sozialen
Marktwirtschaft.
Auch
der Arbeitgeberpräsident Dulger verliert deshalb mittlerweile die
Geduld. Fast sechs Monate sind seit seiner Krisenwarnung vergangen, die
eigene Erkältung ist längst auskuriert, die Heilung des deutschen
Patienten allerdings lässt weiter auf sich warten. «Nun werden manche
Entscheider wach – aber gehandelt wird immer noch nicht», so tadelt er
die Bundesregierung.
Deutschland
müsse endlich den Teufelskreis aus steigenden Steuern und Abgaben
durchbrechen. Eine neue Angebotspolitik müsse die Kosten in Deutschland
senken. «Wir brauchen eine staatliche Ausgabendiät. Und wir brauchen
eine Sozialabgabenbremse durch ausgabensenkende Reformen in allen
sozialen Sicherungssystemen», sagt er. Und fügt hinzu: «Wir müssen
handeln und nicht warten, bis es zu spät ist.»
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