23 Juli 2023

Serie: Adieu, Soziale Marktwirtschaft? (NZZ)

Serie
Adieu, Soziale Marktwirtschaft? Wie der deutsche Staat den Aufbau von Wohlstand verhindert
Weil die Bürger unter Steuern und Abgaben ächzen, droht Deutschland ein schmerzhafter wirtschaftlicher Niedergang.

Johannes C. Bockenheimer (Text), Sophia Kissling (Grafik), Berlin
Berlin an einem kalten Abend im vergangenen Februar. Rainer Dulger sitzt in einem Restaurant im Ortsteil Charlottenburg und ist sichtlich angeschlagen: Die Nase läuft, er hustet. Doch es ist nicht das eigene Wohlbefinden, das ihn an diesem Abend umtreibt, «die Erkältung geht schon wieder vorbei», sagt er. Nein, Sorgen bereitet ihm ein anderer Patient: die Bundesrepublik Deutschland.
Der Cocktail aus Krieg, Inflation und teurer Energie sei eine heftige Mischung für das Land, gibt der Präsident der mächtigen Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) an diesem Abend warnend zu bedenken. Europas grösste Volkswirtschaft drohe zum kranken Mann des Kontinents zu werden. Die Konsequenzen für die Bürger wären drastisch: Ihr Wohlstand ist in Gefahr.
Der Fall Deutschland
Es brauche eine «klare Analyse und beherztes Handeln», damit das angeschlagene Land wieder auf die Beine komme, so appellierte Dulger daher an die Bundesregierung. Denn nicht zuletzt sie sieht er in der Pflicht: Während man ihr die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie oder des russischen Überfalls auf die Ukraine nicht vorwerfen könne, müsse sie sich aber der Kritik stellen, zu wenig zu unternehmen, um Bürger und Betriebe zu entlasten.

Es ist ein Vorwurf, den Wirtschaftsexperten schon lange äussern – und der jüngst von neuen Zahlen der Industrieländerorganisation OECD eindrücklich untermauert wurde. Ein Durchschnittsverdiener musste in Deutschland 2022 demnach mittlerweile beinahe jeden zweiten Euro seines Einkommens dafür aufwenden, seine Steuern zu zahlen und seine Beiträge für die Sozialversicherungen zu begleichen. Es ist ein fragwürdiger Rekord: Nur in Belgien werden Arbeitnehmer laut OECD noch stärker zur Kasse gebeten.
Wenig besser sieht die Situation für Familien aus: Im Schnitt kassierte der deutsche Staat bei einem Doppelverdiener-Paar mit Kindern im vergangenen Jahr 40,8 Prozent der Bezüge in Form von Steuern und Abgaben. Das ist weit entfernt von der durchschnittlichen Abgabenlast in anderen Industrieländern und noch weiter entfernt von Nachbarländern wie der Schweiz, wo der Staat seine Bürger mit Abgaben belastet, die im Schnitt nur halb so hoch liegen.
Vor allem die deutsche Mittelschicht trifft die hohe Kostenlast: Sie geriet in letzter Zeit unter Druck und schrumpft. Seit der Finanzkrise 2008/09 ist der Anteil von Bürgern mit mittleren Einkommen und Vermögen von knapp 65 auf 63 Prozent gesunken, wie es in einer Studie des Ifo-Instituts heisst. Dieser auf den ersten Blick moderate Rückgang müsse dabei im europäischen Vergleich gesehen werden: Lag Deutschlands Grösse der Mittelschicht im Jahr 2007 noch auf Rang 9 im europäischen Vergleich und somit im oberen Drittel der Verteilung, so findet sie sich im Jahr 2019 nur noch auf Platz 14 und somit im Mittelfeld der 28 betrachteten europäischen Länder wieder.

Während aber die Arbeitnehmer unter hohen Abgaben ächzen, geht es dem deutschen Staat glänzend. Für das laufende Jahr erwarten Bund, Länder und Gemeinden Steuereinnahmen von 921 Milliarden Euro. Der deutsche Staat würde damit so viel Geld einnehmen wie niemals zuvor in seiner Geschichte. Tendenz: steigend. Spätestens 2025 könnte erstmals die Billionengrenze bei den Einnahmen überschritten werden, teilte das Finanzministerium im Mai mit.

Lena Gaedke bringt dieser Kontrast mittlerweile ins Grübeln. Die 33-Jährige lebt mit ihrem sechsjährigen Sohn im niedersächsischen Nienburg. Nach dem Schulabschluss hat sie eine Friseurlehre absolviert und sich auch in den folgenden Jahren weitergebildet: Vor zwei Jahren bestand sie die Meisterprüfung. «Ich bin stolz auf den Weg, den ich gegangen bin, denn er war nicht immer einfach», erzählt sie. «Mein Sohn war ein Geschenk für mich, aber für mich war auch klar, dass ich in meinem Beruf vorankommen wollte.»

Und sie musste das auch. Denn die Beziehung zum Kindsvater zerbrach bald nach der Geburt, seither ist sie sowohl finanziell als auch bei der Erziehungsarbeit auf sich allein gestellt. Der Fiskus macht es ihr nicht leichter: «Netto bleibt mir ein monatliches Einkommen von gut 1600 Euro», sagt Gaedke. Zum Überleben reiche das, ein Ferienausflug hingegen werde schwierig – und ihr Traum von einer Eigentumswohnung für sich und ihren Sohn unmöglich.

«Mich wundert es, dass über die Arbeitssituation von berufstätigen Alleinerziehenden nicht viel mehr gesprochen wird.» Sie habe es für sich selbst schon einmal durchgerechnet: «Wenn ich meinen Job kündigen, zu Hause bleiben und Bürgergeld beantragen würde, wäre meine finanzielle Situation nicht viel schlechter als heute.» Im Gegenteil: Eventuell könnte sie sogar jeden Monat ein paar Euro mehr auf dem Konto haben. Eine «verrückte Vorstellung», so findet Gaedke.

Der Staat macht Freizeit günstig – und Arbeit teuer

Doch selbst wenn sich Gaedke dazu entschliessen sollte, ihre Arbeitszeit aufzustocken, und ihr Gehalt damit steigen würde, würde sich an ihrer finanziellen Situation nichts Grundlegendes ändern. Denn der Fehler liegt im System: Der deutsche Staat bestraft die Fleissigen. Das erklärt der Ökonom Friedrich Heinemann, der am Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim forscht.

Deutschland sei mittlerweile das Industrieland, in dem pro Kopf die wenigsten Arbeitsstunden im Jahr erbracht würden. Schuld daran sei nicht zuletzt das Steuer- und Abgabensystem, das dazu führe, dass sich Mehrarbeit für Arbeitnehmer schlichtweg nicht mehr lohne. Beim Grundgehalt gäben sich das Finanzamt und die Sozialkassen zwar noch zurückhaltend. «Wenn aber die Arbeitszeit aufgestockt wird, führen die sogenannten Grenzabgaben zu deutlich höheren Belastungen.»

Heinemann verdeutlicht dies anhand eines Beispiels: «Wenn ein alleinstehender Durchschnittsverdiener in der Industrie eine Lohnerhöhung von 100 Euro mit seinem Arbeitgeber aushandelt, wandern lediglich 41 Euro zusätzlich in sein Portemonnaie.» Die restlichen 59 Euro werden in Form von Steuern und Sozialabgaben vom Staat einbehalten. Die Höhe der Grenzabgaben betrage somit etwa 60 Prozent, erklärt der Ökonom.

Damit nicht genug: Wenn der Arbeitnehmer den zusätzlichen Lohn direkt ausgibt, greift der Staat erneut über die Mehrwertsteuer zu. In einigen Fällen bleiben von einer Gehaltserhöhung um 100 Euro dann lediglich 33 Euro übrig. «Der Staat sorgt in Deutschland also dafür, dass Freizeit günstig, Arbeit hingegen teuer wird», sagt Heinemann. «Der Aufbau von Wohlstand im Land wird dadurch vom Staat aktiv verhindert.» Das belegen auch die amtlichen Daten: Seit 1990 ist die Zahl der Arbeitnehmer, die lediglich einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen, explosionsartig angestiegen.

Der schrumpfende Wohlstand im Land macht sich dabei schon jetzt deutlich bemerkbar – nicht nur bei Erwerbstätigen in den unteren Einkommensschichten wie bei der Friseurmeisterin Gaedke. Sogar bis tief in die Mittelschicht hinein ist es vielen Deutschen mittlerweile nicht mehr möglich, sich elementare Lebensträume zu erfüllen – wie etwa den Erwerb einer eigenen Immobilie.

Deutschland sei im europäischen Ländervergleich «klares Schlusslicht» beim Anteil der Haushalte, die in ihren eigenen vier Wänden lebten, gab das Münchener Ifo-Institut in einer neuen Studie zu bedenken. Weniger als die Hälfte aller Haushalte lebten demnach jüngst in einem eigenen Haus oder einer eigenen Wohnung, während in den anderen europäischen Ländern der Mehrheit der Haushalte die Immobilie gehöre, in der sie wohnten.

Verhindert wird der Immobilienkauf für viele – und damit der Wohlstandsaufbau – nicht zuletzt vom Staat, der die Kosten in die Höhe treibt. Nach Berechnungen des Spitzenverbands der Immobilienwirtschaft (ZIA) sind mittlerweile fast 40 Prozent der Kaufpreise für Immobilien auf direkte staatliche Abgaben und Anforderungen zurückzuführen.

Der ZIA-Präsident Andreas Mattner gibt deshalb zu bedenken: «Explodierende Grunderwerbssteuern, Gebühren, Gewinnabschöpfungsmodelle sowie Vorgaben und Restriktionen verursachen weit mehr als ein Drittel der Kosten. Genau hier sind die Hebel, wenn eine Wende am deutschen Wohnungsmarkt realistisch sein soll.»

Wie der Staat den Immobilienerwerb seiner Bürger fördern kann, zeigen die Niederlande, wo etwa die Grunderwerbssteuer nicht pauschal sämtlichen Käufern auferlegt wird.

Wer seine Wohnimmobilie selbst nutzt, wird mit einem ermässigten Satz von 2 Prozent besteuert. Kapitalgesellschaften hingegen müssen beim Immobilienerwerb 8 Prozent auf den Tisch legen. Besonders gefördert werden zudem junge Hauskäufer: Sie sind bis zum Alter von 35 Jahren gänzlich von der Grunderwerbssteuer befreit – solange der Kaufpreis 400 000 Euro nicht übersteigt. Auch für Neubauten fällt keine Grunderwerbssteuer an.

Die Rente wackelt

Gerade eine höhere Eigentümerquote bei Immobilien wäre für die deutsche Wohlstandsentwicklung wichtig – nicht zuletzt für all jene Bürger, die ihr Erwerbsleben bereits beendet haben. Denn das gesetzliche deutsche Rentensystem stösst wegen der Gesellschaftsalterung an seine Grenzen, es muss mittlerweile mit immer neuen Steuermilliarden stabil gehalten werden. Und es reicht dennoch für viele allenfalls noch aus, um die nötigsten Bedürfnisse zu decken.

Mehr als ein Viertel aller deutschen Rentner verfügt monatlich über weniger als 1000 Euro. Das geht aus jüngsten Daten hervor, die das Statistische Bundesamt vergangene Woche vorgelegt hat. Die Senioren liegen damit sogar noch unter der amtlich definierten Armutsgrenze von 1250 Euro, was 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland entspricht. In den ersten drei Monaten des Jahres waren deshalb 684 000 Rentner auf die staatliche Grundsicherung angewiesen. Das entspricht einem Anstieg von 15 Prozent oder 90 000 Rentnern im Vergleich zum Vorjahr.

Auch hier liegt der Fehler im System: Die Politik hat bei der Altersvorsorge in den vergangenen Jahren alles auf eine Karte gesetzt: die gesetzliche Rentenversicherung. Das war eine riskante Strategie, denn die Wohlstandsvorsorge für das Alter sollte auf mehreren Säulen ruhen. «Die demografische Entwicklung und insbesondere der anstehende Renteneintritt der Babyboomer setzt die umlagefinanzierte gesetzliche Rente, die für die meisten die wichtigste Säule der Altersvorsorge ist, massiv unter Druck», sagt der Ökonom Volker Wieland. «Die Zahl der Rentenempfänger pro Beitragszahler wird deutlich und dauerhaft zunehmen.»

Die private und betriebliche Vorsorge ist in den letzten Jahrzehnten hingegen völlig in den Hintergrund getreten. Statt die Beitragssätze für die Sozialkassen in den kommenden Jahren weiter ansteigen zu lassen, sollte die Politik den Bürgern einen finanziellen Freiraum verschaffen, damit sie sich noch auf anderem Weg ein Polster für den Ruhestand anlegen können.

Der Ökonom Wieland erklärt, wie es funktionieren könnte: «Um die Rente zukunftsfähig zu machen, müsste das Renteneintrittsalter schrittweise angehoben und an die Lebenserwartung angepasst werden.» Ausserdem müssten die kapitalgedeckten Renten viel stärker ausgebaut werden, das heisst, man müsste die «Riesterrente» reformieren, so dass die private Altersvorsorge viel mehr genutzt würde, das angesparte Vermögen breiter in Wertpapiere und Aktien angelegt werden könnte und die Kosten sänken. «Ebenso gilt es, die kapitalgedeckte betriebliche Altersvorsorge auszubauen.»

Als gutes Beispiel nennt Wieland Schweden. Dort fliessen 2,5 Prozent des Bruttoeinkommens in kapitalmarktbasierte Produkte, die die Arbeitnehmer auswählen können. Man muss es nicht genau wie Schweden machen, aber länger zu arbeiten und die Altersvorsorge stärker über den Kapitalmarkt zu organisieren, dies sind entscheidende Schritte, um die Rente vom Kopf auf die Füsse zu stellen.

Wie es besser geht, zeigt auch die Schweiz: Hier ist die betriebliche, kapitalgedeckte Altersvorsorge obligatorisch. Und das führt auch zu einem besser ausgeglichenen Einkommensverhältnis der Bürger am Lebensabend. Während sich in Deutschland der Grossteil der Renteneinkommen aus der gesetzlichen Rentenversicherung speist, sind sie in der Schweiz annähernd ausgeglichen.

Der positive Effekt: Der Abstand zwischen dem letzten Gehalt und der Rentenzahlung ist im Alpenland deutlich geringer, als das in Deutschland der Fall ist.

Es braucht einen wirtschaftlichen Kulturwandel

Die «deutsche Krankheit» – die wohlstandsgefährdende Belastung der Bürger durch Steuern und Abgaben – führt also schon heute zu drastischen Konsequenzen. Um die Heilung anzustossen, bedarf es dabei nicht nur des Herumschraubens an Steuersätzen und Abgabenquoten – es braucht auch einen Kulturwandel. Davon ist der Ökonom Heinemann überzeugt. In den vergangenen Jahrzehnten habe in Deutschland die Staatsgläubigkeit zugenommen. In den Gründungsjahren der Republik habe es ein anderes Verständnis dafür gegeben, welche Aufgaben dem Sozialstaat zukämen: «Ursprünglich sollten Menschen am unteren Ende der Einkommensskala zielgenau unterstützt werden.»

Inzwischen aber solle der Staat auch einspringen, um eine breite Absicherung der Mittelklasse gegen alle möglichen Risiken sicherzustellen. Damit habe sich auch das Handeln der Menschen gewandelt: «Die Bürger kennen sich inzwischen besser damit aus, wie sie einen bestimmten staatlichen Transfer beantragen, als damit, wie sie mit eigener Arbeit ihren Wohlstand selbst aufbauen können.» Anders ausgedrückt: Das Land verabschiedet sich von der Ludwig-Erhardschen Idee der Sozialen Marktwirtschaft.

Auch der Arbeitgeberpräsident Dulger verliert deshalb mittlerweile die Geduld. Fast sechs Monate sind seit seiner Krisenwarnung vergangen, die eigene Erkältung ist längst auskuriert, die Heilung des deutschen Patienten allerdings lässt weiter auf sich warten. «Nun werden manche Entscheider wach – aber gehandelt wird immer noch nicht», so tadelt er die Bundesregierung.

Deutschland müsse endlich den Teufelskreis aus steigenden Steuern und Abgaben durchbrechen. Eine neue Angebotspolitik müsse die Kosten in Deutschland senken. «Wir brauchen eine staatliche Ausgabendiät. Und wir brauchen eine Sozialabgabenbremse durch ausgabensenkende Reformen in allen sozialen Sicherungssystemen», sagt er. Und fügt hinzu: «Wir müssen handeln und nicht warten, bis es zu spät ist.»

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