03 Juli 2023

Berlin desolat - Ein Sonntagsspaziergang durch die deutsche Hauptstadt (Cicero)

Berlin desolat
-
Ein Sonntagsspaziergang durch die deutsche Hauptstadt (Cicero)
Berlin ist, trotz Hauptstadtstatus und Wohlstandstransfer, zum Symbol des urbanen Zerfalls avanciert, sichtbar an der Vernachlässigung von Bildung, Wohnverhältnissen und innerstädtischer Architektur. Der Streifzug führt durch eine Zivilisationsform auf ihrer Schwundstufe. 
VON DOMINIK PIETZCKER am 28. Juni 2023
Sonntag, 9.00 Uhr. Heraus aus der bürgerlich wattierten Wohlstandsblase, hinein in die harte und ungeschminkte Wirklichkeit eines beunruhigend warmen Sommertages! Viele Menschen sind in Berlin-Neukölln noch nicht unterwegs. Eine Rentnerin in fleckiger beigefarbiger Jacke führt ihre vier Pudel spazieren. Vor dem Eingang einer Notapotheke steht ein blasses Mädchen mit ihrer übernächtigten Freundin. Jemand liegt eingesunken in einem Hauseingang. Es riecht nach Urin und Erbrochenem. Outrierte Nachtschwärmer mit roten Zombieaugen halten sich an leeren Sektflaschen fest und grimassieren. Vielleicht der nächste Kommunikationstrend?  

Auf den Straßen liegen noch die Überreste vergangener Großstadtpartys, gemischt mit Zivilisationsunrat. Sperrmüll, verstreute Kleidungsstücke, gelegentlich ein abgebrannter Scooter oder eine verkohlte Europalette. Um die Ecke ist schon die Hasenheide, wo zuvorkommende Dealer in kleinen Gruppen den Arbeitstag beginnen. Es gibt bereits die ersten Umsätze.  

Die Gitter und Rollläden der Ladengeschäfte sind heruntergelassen: Bars, Tattoo-Studios, Imbissbuden und Second-Hand-Boutiquen stehen neben Shops für Elektronik, Modeschmuck und Wasserpfeifen. Alles, was man zum Überleben braucht in einer Welt aus bröckelnden Fassaden und bunten Graffiti. Buchhandlungen sucht man hingegen vergeblich. Lesen, was war das doch gleich?  

Die Sprache der Statistik  

In Berlin beträgt die Arbeitslosigkeit knapp neun Prozent. Jedes dritte Kind lebt in Armut, knapp zehn Prozent eines Altersjahrgangs beenden die Schule ohne Abschluss. Schulpflicht gerät zur Farce, wenn Wissensvermittlung scheitert. Schockierende Zahlen? Keine Sorge, Berlin liegt lediglich knapp unter dem Bundesdurchschnitt. Die führende Volkswirtschaft Europas leistet sich zudem eine Analphabetenrate von zwölf Prozent der arbeitenden Bevölkerung. Jeder neunte Arbeitnehmer weiß hierzulande also nicht, was er tut.  

Sollte uns das zu denken geben in einem Land, in dem es keine geologischen, sondern nur pädagogisch zu explorierende Ressourcen gibt? Doch apropos Schule: Im Land der Dichter und Denker sind die wenigsten Abiturienten in der Lage, ein paar dieser ominösen Geisteskoryphäen überhaupt noch zu benennen. Precht und Welzer reichen vollkommen, um intellektuell für die Gegenwart gerüstet zu sein. Ist das ein Problem? Mitnichten, es ist lediglich Indikator eines Paradigmenwechsels, bei welchem Bildung keine prioritäre Bedeutung mehr zukommt

Mehr zum Thema Berlin:

Statt geistiger Eigenanstrengung wird materielle Bedürftigkeit unterstützt: 1,2 Billionen Euro fließen hierzulande jährlich in soziale Transferleistungen. Was sind dagegen schon 164 Milliarden Euro im Bildungssektor? 2034 Euro pro Kopf geben Bund und Länder im Jahr für Bildung in Deutschland aus. Das ist eine Menge Geld, aber vergleichsweise wenig zu den 17.000 Franken im Jahr, die der Schweizer Bildungsetat pro Schüler vorsieht.  

Für bildungsaffine Paare mit Kind sind diese schlichten Zahlen eigentlich schon Grund genug, um auszuwandern. Es gibt natürlich auch gewichtige Pluspunkte. Ist nicht in Deutschlands Hauptstadt das soziale Dasein inspirierender, spannender und irgendwie echter – eben: ultimativ zeitgemäß?  

Flanieren, 2023 

Zurück ins Soziotop der Bundeshauptstadt. Langsam regt sich Leben. Die ersten Cafés sind geöffnet. Der aufkommende Wind weht Plastiktüten, gebrauchte Taschentücher und leere Bierdosen über das Trottoir. Die Menschen sind gekleidet, als ob sie in einem Bürgerkriegsgebiet lebten: Hoodies, zerlöcherte T-Shirts, Jogginghosen. Wer älter ist, eilt mit gesenktem Blick über die Straße, vorbei an überquellenden Containern mit feuchten Matratzen und zerschlagenen Computerdisplays. Elektronik wird Schrott. Glasscherben knirschen unter den Sohlen. Immerhin, die ausgetrunkenen Bierflaschen, stumme Zeugen eines unvergänglichen Rauschbedürfnisses, sind politisch korrekt neben den Mülleimern aufgestellt. Die Pfandsammler brauchen sich also bloß zu bücken, anstatt im Abfall wühlen zu müssen – eine zeitgemäße Variante zwischenmenschlicher Rücksichtnahme. Nannte man das nicht einst Lumpenproletariat? Und glaubte man nicht, dieses gehörte längst vergangenen Zeiten des Frühkapitalismus an? 

Jetzt öffnet auch das gastronomische Angebot für Großstadthipster und kosmopolitische Kulturwissenschaftlerinnen. Noch ein wenig sediert, aber bereits artikulationsfähig sitzen sich junge Liebende vor ihrem wahlweise entkoffeinierten oder mit Hafermilch zubereitetem Heißgetränk gegenüber. Leinenhemd, Jutetasche und dezenter Goldschmuck: progressiv gesinnte Kernwählerschaft, vertieft in Gender- und Beziehungsdiskurse. „Habgierig und sanft“, in den unvergleichlichen Worten Max Horkheimers. Die Fähigkeit einer Gesellschaft, sich selbst zu belügen, ist grenzenlos. Blindheit vor sozialem und urbanem Zerfall wäre allerdings sträflich.  

Vernachlässigung ohne Konsequenz? 

Auch ohne die Statistiken weiter zu bemühen, spricht das Weichbild Berlins eine klare Sprache. Es verrottet. Bemalte Häuserwände und veganes finger food können nicht darüber hinwegtäuschen, dass hinter den Fenstern vieler Bezirke schon die Zukunftslosigkeit lauert. Schwimmbäder sind mit Stacheldraht gesichert. Medizinische Notaufnahmen benötigen Polizeischutz und Panzerglas. Die Architektur der Sozialbauten offenbart, in die Jahre gekommen, ihre ungeschminkte Hässlichkeit und Verwahrlosung. Berlin an einem sommerlichen Sonntagmorgen gleicht in manchen Straßenzügen einer von innen belagerten Stadt. Der Kampf nicht gegen, sondern für den sozialen und persönlichen Abstieg wird lustbetont und endorphingeschwängert ausgetragen.  

Es wäre hinreichend naiv, zu denken, dass diese massive Vernachlässigung des urbanen Raums und die Gleichgültigkeit gegenüber den Bildungschancen seiner Bewohner keine Konsequenzen für die gesamte Gesellschaft hätte. Armut ist zwar auch authentisch, verstört allerdings im Angesicht des schieren Reichtums und der strukturellen Entfaltungspotenziale der größten Wirtschaftsmacht Europas. Aber man ist ja gerade munter dabei, die Substanz des hiesigen Wohlstands abzuschmelzen. Nicht nur die Polkappen schrumpfen in atemberaubendem Tempo; das Plateau westlicher Zivilisation senkt sich ebenfalls ab.  

Der Eindruck einer tiefen politischen und sozialen Indifferenz trügt nicht. Berlin zeigt sie in den schockierend heruntergekommen Bezirken: Wir brauchen keine Invasion und keine Wirtschaftskrise, wir zerstören uns schon ganz von selbst. Der zivilisatorische Erosionsprozess ist in vollem Gange, und er beschleunigt sich weiter.

Die Unverbindlichkeit der politischen Akteure lässt wenig Willen erkennen, diese fatale Entwicklung umzukehren. Sie läuft einfach weiter und wird geflissentlich ignoriert, solange es noch irgendwo einen Flughafen, eine Galerie oder ein Schloss einzuweihen gilt. Mit Nina Hagen: Alles so schön bunt hier in der deutschen Hauptstadt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen