02 Juni 2024

Deutschland nach der Sylt-Hysterie: eine Blamage für fast alle Beteiligten (NZZ)

Gericht bestätigt: In Chemnitz gab es keine Hetzjagd. Potsdam verlief anders als medialpolitisch dargestellt, nun Sylt. Von Zeckenbiss über Correctiv bis Sylt:: Es kommt nicht darauf an, wie´s wirklich war. Hauptsache die gewünschte Wirkung wurde erzielt.
Deutschland nach der Sylt-Hysterie: eine Blamage für fast alle Beteiligten (NZZ)
Die «Ausländer raus»-Sänger von der Nordseeinsel wurden von Spitzenpolitikern geächtet und von reichweitenstarken Medien angeprangert. Das war nicht nur unfair, sondern in Teilen rechtswidrig.
Von Fatina Keilani, Berlin
Eine Woche nach «Sylt» legt sich langsam die Aufregung in Deutschland, doch Erleichterung stellt sich nicht ein. War der Umgang mit dem Video, das inzwischen wohl die meisten Menschen im Land gesehen haben dürften, eigentlich in Ordnung? In dem kurzen Filmchen, das sich seit Donnerstag vergangener Woche rasend schnell im Netz verbreitete, grölen offenbar betrunkene junge Menschen in einem Sylter Lokal «Deutschland den Deutschen» und «Ausländer raus» zur Melodie von Gigi D’Agostinos Partyhit «L’Amour toujours».
Es begann eine Hetzjagd, an der sich reichweitenstarke deutsche Medien und führende Politiker beteiligten. Die unverpixelten Gesichter der jungen Menschen wurden verbreitet, ihre vollständigen Namen waren rasch bekannt. Sie wurden als Rassisten und Nazis bezeichnet, das Magazin «Stern» warnte auf seiner Titelseite gar vor «Champagner-Nazis» und zeigte einen Cocktail mit Hakenkreuz. Zwei der Personen verloren umgehend ihre Jobs, eine davon erhielt Hausverbot an ihrer Hochschule und soll nun exmatrikuliert werden. Eine dritte Person wurde vom Arbeitgeber freigestellt.

Viele dieser Reaktionen waren nicht nur fragwürdig, sie billigten auch den massenhaften Rechtsbruch.

Auch die feiernde Oberschicht hat Persönlichkeitsrechte

Der Reflex – «von den Schnöseln will man die Namen wissen!», so der Tenor vieler Redaktionen – hätte durch Reflexion gebremst werden müssen. Auch Angehörige der Oberschicht haben Persönlichkeitsrechte, nicht nur Straftäter. Jeder hat im Rechtsstaat die gleichen Rechte.

Das fängt mit den Gesichtern und den Namen an. Die Sylt-Sänger hätten nicht unverpixelt gezeigt werden dürfen, und wer ihre Namen verbreitet hat, der hat sich sehr wahrscheinlich nach dem sogenannten Doxing-Paragrafen 126a strafbar gemacht. Diesen Paragrafen im Strafgesetzbuch gibt es erst seit 2021. Er sieht bis zu zwei Jahre Freiheitsstrafe für den Fall vor, dass private Daten einer Person verbreitet werden und diese Person dadurch in Gefahr gerät.

Letzteres dürfte leicht nachzuweisen sein. Im Netz berichten selbst Menschen von üblen Beleidigungen und Morddrohungen, die gar nicht auf der Nordseeinsel waren, aber mit den Sängern verwechselt wurden.

Bemerkenswert viele Spitzenpolitiker äusserten sich zu dem Video. Bundeskanzler Olaf Scholz nannte die Parolen «ekelig» und fuhr eher wolkig fort: «Und deshalb ist es auch richtig, dass all unsere Aktivitäten darauf gerichtet sind, genau zu verhindern, dass das eine Sache ist, die sich verbreitet.» Was der Sozialdemokrat mit «das» genau meinte – das ganze Lied, das Video, die Parole «Ausländer raus»? –, blieb offen.

Der CDU-Politiker Armin Laschet ging noch weiter. Der frühere nordrhein-westfälische Ministerpräsident und gescheiterte Kanzlerkandidat der Union sagte drei Tage nach Bekanntwerden des Videos im Fernsehen: «In kürzester Zeit waren alle Namen öffentlich, sie haben alle ihren Job verloren» – um sodann zu betonen, dass es derartige Konsequenzen bei «allen diesen Vorfällen» geben sollte.

Es war ein Rechtsbruch, den der Jurist Laschet da würdigte. Denn diese Art öffentlichen Pranger hätte es nicht geben dürfen. Und ob die ausgesprochenen Kündigungen rechtens sind, wird sich noch zeigen. Zweifel sind angebracht. Welche Parolen jemand in seiner Freizeit ruft, geht den Arbeitgeber grundsätzlich nichts an, ausser bei Beamten.

Fragwürdig äußerte sich auch die Person mit dem zweithöchsten deutschen Staatsamt. Bundestagspräsidentin Bärbel Bas lobte, dass die Menschen im Video dank modernen Medien «identifizierbar» seien, und hoffte auf eine «ordentliche Strafe». Mehr noch, die Sozialdemokratin schlug vor, «mal zur Höchststrafe» zu greifen – das wären fünf Jahre Haft. Bas gab ihr Statement am Rande einer Feier zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes ab, einer der liberalsten Verfassungen der Welt.

Kennt die Innenministerin das Grundgesetz?

Auch die für die Verfassung zuständige deutsche Innenministerin scheint mit dem Geist des Grundgesetzes nicht wirklich vertraut zu sein. Nancy Faeser, ebenfalls SPD, bezeichnete die Sänger von Sylt nicht nur als «Schande für Deutschland», sondern warf auch die Frage auf, «ob wir es hier mit Menschen zu tun haben, die in einer wohlstandsverwahrlosten Parallelgesellschaft leben, die die Werte unseres Grundgesetzes mit Füssen tritt».

Das Grundgesetz einzuhalten, ist Aufgabe des Staates. Jeder Bürger, auch die feiernde Oberschicht auf Sylt, hat das Recht, die Werte des Grundgesetzes zu ignorieren. Er kann diese Werte auch verhöhnen, etwa durch einen dummen und abscheulichen Liedtext. Indem er das tut, tritt er das Grundgesetz nicht mit den Füssen, sondern macht Gebrauch von seinen darin garantierten Rechten.

Doch die Ministerin ging noch weiter. Die Frage sei, welches hasserfüllte Klima solche Leute dazu ermutige, sich so abgrundtief rassistisch in aller Öffentlichkeit zu äussern, sagte Faeser. Und forderte: «Hier darf es keinerlei schleichende Normalisierung geben.» Rassisten müssten neben möglichen strafrechtlichen Konsequenzen überall – im Freundeskreis, bei der Arbeit, im Sport – lauten Widerspruch erfahren.

Meldestellen und ein übereifriger Verfassungsschutz

Widerspruch ist in der Demokratie gut und richtig. Und doch geht ein solcher Appell aus dem Mund der Innenministerin de facto viel weiter. Faeser hat sich in der vergangenen Woche als eine der ersten Spitzenpolitikerinnen zum Fall Sylt geäussert. Ihre Wortwahl dürfte die dann massiv einsetzende soziale Ächtung regelrecht befeuert haben.

Das Vorgehen der Innenministerin passt ins derzeitige Bild der deutschen Politik. Vielerorts werden «Meldestellen» eingerichtet, wo unbeliebte, gleichwohl zulässige Meinungsäusserungen registriert werden. Auch der Verfassungsschutz, der unter der Aufsicht von Frau Faeser arbeitet, kann bei Äusserungen unterhalb der Grenze der Strafbarkeit bereits Personen beobachten.

Auch im Fall Sylt ermittelt der deutsche Staatsschutz. Wegen was? Die Parole «Ausländer raus» ist laut Bundesverfassungsgericht als solche nicht als Volksverhetzung strafbar, zumindest müssen weitere Umstände hinzutreten. Einzig der im Video gezeigte angedeutete Hitlergruss käme für eine Strafbarkeit in Betracht – wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. Das Andeuten eines Hitlerbarts mit zwei Fingern an der Oberlippe ist indes nicht strafbar.

Nun, da die ganz große Aufregung allmählich wieder abebbt, bleibt ein nicht wirklich überraschender, aber für Anhänger des liberalen Rechtsstaats dennoch betrüblicher Befund: Im «Kampf gegen rechts» gelten in Deutschland andere beziehungsweise so gut wie keine Regeln. Nach dem Motto: «Nazis» verdienen keinen Schutz (die Verharmlosung der wirklichen NS-Verbrecher durch die allgegenwärtige Anwendung dieses Begriffs ist ein eigenes Thema, das diesen Text sprengen würde). Dabei garantiert die Gleichheit vor dem Gesetz allen Bürgern ihre Rechte, auch vermeintlichen und sogar echten Nazis.

Die Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg etwa teilte via Instagram mit, dass sie die Studentin, die im Sylt-Video zu sehen war, exmatrikulieren wolle. Ein Hausverbot und ein Ausschluss von Lehrveranstaltungen seien bereits erteilt worden. Die Begründung: «Diese Hochschule ist ein Ort, an dem Menschen unabhängig von ihrer Weltanschauung willkommen sind.»

Verbote gehen schnell nach hinten los

Den Ohrwurm von Gigi D’Agostino mit den Worten «Ausländer raus» zu singen, wird im Netz unterdessen bereits als eine Art subversiver Widerstandsakt gehandelt, an dem sich auch etliche Menschen mit Migrationshintergrund beteiligen: nicht aus Rassismus, sondern als Reaktion auf die politisch-mediale Überreaktion. Wohl auch deshalb haben mehrere Betreiber deutscher Volksfeste bereits angekündigt, das Lied von D’Agostino zu verbieten.

Das ist einerseits verständlich; Videos von Bierzelten, in denen möglicherweise nicht nur ein paar, sondern ein paar hundert Betrunkene «Ausländer raus» grölen, wären für die Betreiber ein Image-GAU. Andererseits gehen solche Verbote in der Regel nach hinten los. Das von vielen als sexistisch kritisierte Partylied «Layla» wurde 2022 erst durch die damalige Verbotsdiskussion so richtig populär. Ende des Jahres war es in Deutschland das mit Abstand erfolgreichste Lied des Jahres.

Man darf gespannt sein, was bei der Mitte Juni beginnenden Fussball-Europameisterschaft in den deutschen Stadien los sein wird.

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