06 April 2023

Business Class Edition: Vulkanist Habeck und die Neptunisten: Warum die Ampel-Koalition unter Hochspannung steht

Habecks politische Energie ist hochexplosiv
Business Class Edition: 
Vulkanist Habeck und die Neptunisten: Warum die Ampel-Koalition unter Hochspannung steht
Guten Morgen,
wer die Primärenergie verstehen will, die unsere Regierung auseinandertreibt und im Wahlvolk zu einer Kernschmelze des Vertrauens in die Ampel-Koalition geführt hat, muss durch die Gesichter der Beteiligten hindurchschauen. Erst in der Abstraktion erkennt man die energetischen Urgewalten, die hier wirken.
Dazu muss man wissen: Es gibt trotz der Vielzahl der beteiligten Parteien und Persönlichkeiten im Grunde nur zwei Quellen politischer Energie. Beide bilden – wenn sie aufeinandertreffen – ein explosives Gemisch.<
Warum das wichtig ist?

1. Weil dieses Gemisch nicht nur Freundschaften und Regierungen, sondern auch den Zusammenhalt von Gesellschaften sprengen kann.

2. Weil diese beiden höchst unterschiedlichen politischen Energiearten derzeit in Deutschland aufeinandertreffen – auch inmitten der Regierung von Olaf Scholz.

Die eine Energie schöpft ihre Kraft aus geschichtsmächtigen Ideen: Sozialismus, Nationalismus, Ökologismus. Die professionellen Händler dieser Energieart sehen sich nicht als willige Auftragnehmer der Bürger, sondern als Anführer einer neuen Zeit. Wenn sie „Fortschritt“ sagen, meinen sie die Überwindung von Gegenwart.

Sie wollen die bestehende Normalität durch eine neue Normalität ersetzen. Sie sind, um mit dem Entdecker Alexander von Humboldt zu sprechen, die Vulkanisten ihrer Zeit, weil sie glauben, die Welt sei durch Vulkanausbrüche und Erdbeben entstanden und werde auch in Zukunft durch das Eruptive nach vorn getrieben.

Die politischen Vulkanisten investieren ihre Energie in die Umgestaltung der bestehenden Ordnung, wobei es für sie gleichgültig ist, ob sie die Energieversorgung, die Eigentumsverhältnisse am Wohnungsmarkt oder die Sprache umgestalten. Ihre Energie – und darauf kommt es hier an – ist eine revolutionäre. Sie glauben an Fortschritt durch Eruption.

Auch die SPD war nach 1945 eine Partei der Vulkanisten. Sie glaubte an den Klassenkampf und strebte den Umsturz der Verhältnisse an. Ihr damaliger Chef Kurt Schumacher rief 1947 auf dem Parteitag der SPD in Nürnberg:

"Wir stehen heute in Deutschland in Wahrheit mitten in einem Bürgerkrieg, der mit ökonomischen und bürokratischen Mitteln ausgefochten wird".

Die Klimakatastrophe der damaligen Zeit war die Verelendungstheorie; die Greta Thunberg der Nachkriegs-SPD hieß Karl Marx. Die SPD von Schumacher glaubte, die Kapitalisten würden den Arbeiter so systematisch ausbeuten, dass bald schon der Kipppunkt der Geschichte erreicht sei, an dem der Kapitalismus dem demokratischen Sozialismus zu weichen habe.

Doch weder der Arbeiter noch der Kapitalismus tat der SPD diesen Gefallen. Nicht der Sozialismus siegte, sondern die CDU von Konrad Adenauer.

Die SPD war damals eine frustrierte Partei. Auf ihrem berühmten Godesberger Sonderparteitag vom November 1959 wechselte sie daher die Antriebsenergie. Sie schaltete von revolutionär auf evolutionär um. Sie wollte nicht mehr allein die Partei der Arbeiterklasse sein:

"Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands lebt und wirkt im ganzen deutschen Volke".

Und sie beendete für jedermann sichtbar den Klassenkampf:

"Freier Wettbewerb und freie Unternehmerinitiative sind wichtige Elemente sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik".

Damit wurde die SPD von der Partei der Vulkanisten zur Partei der Neptunisten, wie man zu Humboldts Zeiten all jene nannte, die an die allmähliche Entstehung des Lebens aus dem Wasser glaubten. Der bekennende Neptunist – wozu im Jena des späten 18. Jahrhundert auch Goethe als intellektueller Gegenspieler des ungestümen Alexander von Humboldt gehörte – ging davon aus, dass die Erde durch die Kraft der Gemächlichkeit geformt werde. Das weiche Wasser bricht den Stein.

Die SPD-Politiker neuen Typs traten dem Wähler also nicht länger als revolutionäre Einheizer gegenüber, sondern als geduldige Auftragnehmer. Sie waren mit Brandt, Schmidt und Schiller, später dann mit Schröder, Rau und Gabriel nicht mehr die Lobbyisten einer großen Umgestaltungsidee, sondern boten sich als ehrliche Makler dem Bürger an. Es ging jetzt nicht mehr um Sozialismus, sondern um soziale Gerechtigkeit; man wollte nicht mehr die Enteignung der Konzerne, sondern betriebliche Mitbestimmung.

Der neue Sozialdemokrat sieht sich nicht als Vormund, sondern als Partner der Bürger. Und wenn er doch führt, dann so sanft und kameradschaftlich, dass der Geführte ihm nicht außer Sichtweite gerät.

Gnade Gott, wenn der Abstand zu groß wird, wie bei der Agenda 2010 von Gerhard Schröder und seinem damaligen Generalsekretär Olaf Scholz geschehen. Dann folgt die Quittung postwendend: Innere Abkehr. Neuwahl. Abwahl. Das Bürgertum in seiner Mehrheit mag keine Vulkanisten.

Womit wir bei Robert Habeck wären. Ihm fehlt diese bittere Lernerfahrung des Olaf Scholz. Seine politische Energie bezieht er aus den Reservoirs derer, die dem Fabrikarbeiter fernstehen, die den industriellen Unternehmer zuerst als Klimafeind wahrnehmen und die dem demokratischen Prozess seine unbestreitbare und oft nervtötende Langsamkeit vorwerfen.

Robert Habeck ist eben nicht nur der Vertreter einer anderen Partei, sondern auch der Vertreter einer anderen Antriebsenergie. Er will die schnelle, auch abrupte Veränderung, wie er eben erst im Interview mit der Zeit bekräftigte:

"Mehr Windräder, mehr Solaranlagen, ein Ende des fossilen Verbrenners, die Transformation der Industrie. In jedem Bereich unserer Volkswirtschaft ändern wir gerade strukturell Grundlegendes, und das spüren die Menschen. Und dann kommen die Regeln für die Heizungen obendrauf, die eben voll ins Private reinwirken. Das alles ist notwendig und die Zeit drängt. Aber es löst Verunsicherung aus".

Habeck nimmt diese Verunsicherung in Kauf. Er glaubt, dass in Zeiten der beschleunigten Erderwärmung Langsamkeit tödlich sein kann. Er möchte Deutschland durch eine Abfolge von Eruptionen zum Musterstaat der ökologischen Revolution umbauen. Er geht davon aus, dass er weiß und spürt, was andere noch nicht wissen und spüren.

Deshalb regiert er ungehalten, wenn die Neptunisten Scholz, Lindner und Wissing ihn zur Gemächlichkeit zwingen wollen. Schon kritische Nachfragen von Journalisten bringen das Innere seines Vulkans zum Grummeln.

Er befindet sich im Besitz einer naturwissenschaftlichen Wahrheit, die, wie er glaubt, jetzt nur noch sauber exekutiert werden müsse. In ihm brennt das Feuer einer großen Idee. Er will das, was seine Anhänger auch wollen, nämlich das Land mit Feuer und Eisen in die Dekarbonisierung zwingen.

Seine Waffen sind das Steuerrecht, das Ordnungsrecht, das Baurecht und die Straßenverkehrsordnung. Und wo das nicht reicht, stellt er ein staatliches Betäubungsmittel in Gestalt von Subventionen zur Verfügung, um die Schmerzen der Transformation zu lindern.

Er will auf Bürger und Betriebe einwirken, damit sie die Recyclingquote, die Emissionsquote, die Elektroquote und die richtige Geschwindigkeit auf der Straße einhalten. Und was nicht mehr passt – ob Gasheizung, Benzinauto oder Atomkraftwerk – wird abgeschaltet und verschrottet. Möge der Ascheregen das Alte und Rückständige unter sich beerdigen.

Der heutige Kanzler dagegen verkörpert die SPD von Bad Godesberg und damit eine Politik, die nicht vorausläuft, sondern die sich beim Arbeiter und beim Angestellten unterhakt. Scholz weiss: Über das Richtige und das Falsche entscheidet in der Demokratie nicht der Weltklimarat, sondern der souveräne Bürger. Eines seiner wichtigsten Rechte ist das Recht auf Irrtum.

Nur ungern lässt sich der Bürger in eine bestimmte Richtung schubsen. Er liebt die Ruhe und die Gemütlichkeit. Er ist der größte Neptunist von allen, weshalb er Gerhard Schröder, kaum dass der sich als Umgestalter betätigte, unverzüglich abwählte und es mit der versteinerten Merkel 16 Jahre ohne Murren aushielt:

  • Das Bürgertum will regiert, aber nicht kulturell umgepolt werden.

  • Es liebt seine Normalität, wozu auch die Öl- und Gasheizung gehören. Sie ist der Teufel. Aber eben der Teufel, den er kennt.

  • Die Industriearbeiterschaft will energieeffizient sein, aber nicht unterwegs abgeknipst werden.

  • Nicht nur die Bezieher von Mindestlohn, sondern auch die Unternehmer verlangen für ihre Lebensleistung genau das: Respekt.

Fazit: Innerhalb der Ampel-Koalition prallen also zwei unvereinbare Energiearten aufeinander. Es kommt – so oder so – zur Disruption. Vielleicht auch zur Explosion.

Szenario 1: Entweder die Grünen entscheiden sich zu einem klimapolitischen Bad Godesberg und unterstützen eine sozial-liberale Vernunft-Koalition. Die Enttäuschung im Kreise ihrer glühendsten Unterstützer dürfte persönlich schmerzhaft und politisch relevant sein. Der Vulkanist Habeck ist nicht so frei, wie es scheinen mag.

Szenario 2: Die Berliner Konflikt-Koalition treibt es auf die Spitze und lässt die unterschiedlichen Energien weiter miteinander reagieren. Dann kommt es spätestens bei der nächsten Bundestagswahl zur großen Verpuffung – auch der von Olaf Scholz.

Denn auch er ist nicht frei. Das Volk braucht ihn als Advokat seiner Gemächlichkeit – oder gar nicht. Sein Element ist das weiche Wasser. Scholz kann nur als Neptunist überleben.

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