25 April 2023

Business Class Edition: Kiew: Das neue Kabul?

Business Class Edition: 
Kiew: Das neue Kabul?
Guten Morgen,
wenn man zynisch veranlagt ist, könnte man sagen: Die Ukraine rückt dem Frieden näher. Das wäre dann die gute Nachricht.
Die schlechte Nachricht folgt allerdings auf dem Fuße: Es wird nach allem, was wir jetzt sehen, ein russischer Diktatfrieden sein. Die schlechte frisst die gute Nachricht wieder auf.
Was ist passiert? Die Ukraine spürt den heißen Atem des Aggressors im Nacken. Sie fordert im Kampf gegen die russische Invasion eine Verzehnfachung der westlichen Militärhilfe. Das schrieb Vizeaußenminister Andrij Melnyk am Samstag auf Twitter. „Die Ukraine braucht zehn Mal mehr, um die russische Aggression dieses Jahr zu beenden.“

Der Westen sollte endlich aufhören, „künstliche rote Linien für die Unterstützung“ zu ziehen. Vielmehr sollten die Nato-Staaten ein Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Waffenlieferungen an die Ukraine frei zeichnen, verlangte er. Das wären im Fall von Deutschland mehr als 35 Milliarden Euro – damit knapp eine Verdopplung der jährlichen Ausgaben für die Bundeswehr.

Unverzüglich brach ein Shitstorm los, den selbst Melnyk so noch nicht erlebt haben dürfte. Kostprobe:

„Sie sollten sich schämen.“

„Wie wäre es mit Atombomben?“

„Völlig irre.“

„Euer Krieg, euer Geld.“

„Wir schulden euch nichts.“

„Ich dachte, die Ukraine gewinnt?!“

„Betteln Sie woanders.“

Wer durch den Pulverdampf hindurch schaut, der erkennt: Es steht nicht gut um die Ukraine – nicht in der öffentlichen Meinung und nicht auf dem Gefechtsfeld.

Die westliche Gegenwehr ist groß mit Worten und klein mit Erfolgen. Hier die acht äußerst unbequemen Fakten für den Westen:
1. Der Frontverlauf ist mit rund 1.300 Kilometern zu lang, als dass sich für die verhältnismäßig kleine ukrainische Armee hier noch Geländegewinne erzielen ließen. Die Ukraine gleicht immer mehr einem Rumpfstaat. Die Gebiete um Luhansk, Donezk und Melitopol, aber auch die Hafenstadt Mariupol gingen verloren. Das Atomkraftwerk Saporischschja im Süden der Ukraine ist weiterhin von Russland besetzt. So wie die Krim. Ihre Rückeroberung ist mit dem bisherigen Militärgerät unmöglich.

2. Auch unabhängige Experten – unabhängig zumindest von der ukrainischen Regierung – gehen davon aus, dass die militärische Ausstattung der Ukraine unzureichend ist. Der Rheinmetall-Chef sagt, die Ukraine bräuchte ein mehrfaches ihrer bisherigen Panzerbestände. Ex-General Egon Ramms bestätigt diese Einschätzung:

"Um die ukrainische Operation wieder in Bewegung zu bringen, bedarf es einer größeren Zahl von Kampfpanzern und Schützenpanzern für das beweglich geführte Gefecht der verbundenen Waffen. Dazu weitreichende Artillerie und eine noch bessere Ausstattung für die Flugabwehr".

3. Die wirtschaftlichen Sanktionen haben in Russland keinen Effekt erzielt, der Putin zur Aufgabe zwingen könnte. Für dieses und nächstes Jahr prognostiziert der IWF Steigerungen des russischen BIP um 0,7 und 1,3 Prozent. Wichtige westliche Güter wie Elektronikbauteile für das Militär finden über Länder wie Iran oder die Vereinigten Arabischen Emirate ihren Weg zu Putin. Seine Öl-und Gasvorräte kann er jetzt zwar nicht mehr im Westen, aber dafür in Indien und China losschlagen. Putins Neukunden-Akquise ist intakt.

4. Ist Russland nach seiner Invasion, wie vom Westen gewollt, zum Paria der Weltgemeinschaft geworden? Das fragte Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik am Freitag beim Tag der Familienunternehmer. Die Antwort lieferte sie gleich hinterher: Nein. Ein großer Teil der Staatengemeinschaft sei der Meinung, dass auch Amerika eine expensive Großmacht und an diesem Konflikt nicht unschuldig sei.

5. Mit China hat Putin einen wichtigen Spieler auf seine Seite ziehen können. Erst kürzlich bezeichnete Xi Jinping Putin als seinen „geschätzten Freund“. Derart ermuntert erklärte der russische Botschafter in Paris, Lu Shaye, es gebe im Bezug auf die Ex-Sowjet-Staaten inklusive der Krim „kein internationales Abkommen, das den Status einiger als souveräne Nation festlegt“.

6. Bisher hat der Westen – alle Verbündeten zusammen – nicht 55 Milliarden US-Dollar bereitgestellt, wie Melnyk sagt, sondern ein Mehrfaches an Direkthilfen, plus Abschreibungen auf westliche Investments in Russland plus die ökonomischen Folgen der westlichen Sanktionen in diesen Konflikt investiert. Die USA und EU allein haben der Ukraine laut dem Institut für Weltwirtschaft in Kiel schon über 130 Milliarden Euro an staatlicher Unterstützung zugesagt. Der Preis steigt, die Erfolge bleiben aus

7. Die einst pro-ukrainische Öffentlichkeit schlägt sich in die Büsche. In der amerikanischen Bevölkerung sank die Zustimmung für die Unterstützung der Ukraine im Februar auf unter 50 Prozent von 60 Prozent im Mai 2022. In Deutschland finden laut Ipsos-Umfrage im März 30 Prozent, dass die Sanktionen gegen Russland die wirtschaftlichen Auswirkungen auf die hiesigen Energie- und Lebensmittelpreise nicht wert seien.


8. Als größter nachweisbarer Erfolg galt zwischenzeitlich die Geschlossenheit der NATO, die allerdings im Wesentlichen eine rhetorische Geschlossenheit war. In Wahrheit liefern keineswegs alle in gleicher Weise ihre Waffen in Kiew ab. Und: Macron hat deutlich gemacht, dass sich seine Sicht auf die Rolle Amerikas deutlich von der offiziellen Lesart der NATO unterscheidet. Im Bezug auf China und die Rolle Europas im Taiwan-Konflikt erklärte er:

"Das Paradoxe wäre, dass wir vor lauter Panik glauben, wir seien nur die Mitläufer Amerikas".

Fazit: Der Westen in all seiner Geschlossenheit verstolpert sich. Seine Waffenlieferungen sind – gemessen jedenfalls am brachialen Einsatz der russischen Armee – zu gering, die Sanktionen zu uneffektiv und ein Friedensplan fehlt in Gänze. Der weitere Fortgang der Ereignisse ist unschwer zu prognostizieren: Ohne Strategieveränderung wird Kiew das neue Kabul.

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