Realhistorisch ist die neuerliche Vorliebe für den Begriff der Autokratie weniger verständlich, waren doch die Begriffe der Diktatur und des Totalitarismus Versuche, das spezifisch Zeitgenössische zu bezeichnen, das diese Herrschaftsformen von der überkommenen Autokratie unterscheidet. Seit dem 18. Jahrhundert ist die Entgegensetzung von Autokratie und Demokratie dementsprechend hinter das Begriffspaar von Demokratie und Diktatur zurückgetreten. Als Autokratien wurden seither anachronistische, aber gerade deshalb autoritäre Herrschaftsformen wie die des russischen Zarismus oder des Osmanischen Reiches etikettiert.
Wenn
heute Wladimir Putin und Recep Erdoğan „Autokraten“ genannt werden, ist
das ein Echo dieser Begriffsgeschichte. Es trägt aber wenig dazu bei,
die verschiedenen Formen autoritärer Staatlichkeit und der von ihnen
ausgehenden außenpolitischen Gefahr zu unterscheiden. Noch phrasenhafter
wird die Rede von der Autokratie, wenn sie sich auf alle möglichen
„unserer Demokratie“ verhassten Gesellschaften bezieht und in der
Gestalt „des Autokraten“ personalisiert wird, egal ob der ein
politischer Machthaber, ein Unternehmer oder ein Privatmann ist.
Solche Personalisierung bestimmt zunehmend die Propaganda der Vorkämpfer
„unserer Demokratie“. Während „Putins Russland“ (eine weitere
Personalisierung im Politik- und Medienjargon) sich wegen seiner
Mischung aus Personenkult und überbordender dysfunktionaler Verwaltung
eher als Hybridform zwischen Diktatur und Totalitarismus
charakterisieren ließe, zeugt die gängige Bezeichnung von Donald Trump
und Elon Musk als „Autokraten“ von projektivem Ressentiment. Eigentlich
bringt sie nichts anderes als einen – grundlosen – Neid zum Ausdruck:
einen Neid darauf, dass es in Amerika Leute gibt, die scheinbar ohne
Rückversicherung und aus dem Bauch heraus unpopuläre Entscheidungen
treffen; die sich selbst die Nächsten sind und statt der öffentlichen
Meinung, den internationalen Beziehungen oder der eigenen Administration
auf sich selbst vertrauen.
Natürlich ist das ein gesellschaftlicher Schein (auch der „Autokrat“ Trump hat Berater, zu denen der „Autokrat“ Musk selbst gehört), aber es verleiht einer Fantasie Ausdruck, die in der etymologischen Bedeutung von Autokratie – „Selbstherrschaft“ – mitschwingt. Der Autokrat ist jemand, der dem eigenen Gesetz folgt, dem er eher traut als dem Staat, der Gesellschaft oder der Gemeinschaft.
Solche Eigengesetzlichkeit ist
„unserer Demokratie“ zutiefst zuwider. Das zeigt sich auch am
Ressentiment gegen Israel, dessen Diskreditierung als Autokratie
mittlerweile beinahe widerspruchslos erfolgen kann – jüngst attestierte
auch Thea Dorn vom PEN Berlin der israelischen Regierung anlässlich der
Auslandung von Omri Boehm als Redner beim Buchenwald-Gedenken
„autokratische Züge“.
Israel und besonders Benjamin Netanjahu als notorischer „Hardliner“ fungiert in der Fantasie „unserer Demokraten“ als die Wirklichkeit gewordene Selbstgesetzlichkeit des Judentums (das sich nicht auf irgendwelche anderen Staatsbürgerschaften verlassen möchte), um vor der antisemitischen Internationalen geschätzt zu werden. Was in Deutschland neuerdings „unsere Demokratie“ genannt wird, ist der aktive Gegensatz zu solcher aufgeklärten Selbstherrschaft: In „unserer Demokratie“ muss immer wieder alles neu ausgehandelt werden, darf sich niemand über andere stellen oder sich gar anmaßen, im Recht zu sein – vor allem dann nicht, wenn er wirklich im Recht ist.
Insofern ist „unsere Demokratie“ allein schon durch ihre Berufung auf ein Wir das Gegenteil parlamentarischer Demokratie, die von den Bürgern als Einzelnen ausgeht, die in ihrer Vielheit und Gegensätzlichkeit politisch vertreten werden sollen. „Unserer Demokratie“, die eben nur unsere und keine andere ist, geht es statt um Repräsentation, Streit und Vermittlung um den vorab verordneten Konsens.
Dadurch werden diejenigen, die für sie penetrant Werbung machen, notwendig irgendwann den „Autokraten“ ähnlich, die sie als ihre Feinde identifizieren: tyrannisch gegen den abweichenden Einzelnen, allergisch gegen jeglichen Widerspruch, selbstherrlich gerade im eklatantesten Irrtum, umso rechthaberischer, je weniger sie im Recht sind. Darum ist das allerletzte Mittel solcher Demokraten im Abwehrkampf gegen „Autokraten“ nicht das bessere Argument, sondern ausgerechnet das Delikt der Majestätsbeleidigung.
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