Der Niedergang des Westens und die Sündenböcke (Cicero)
Ganz einfach: „Trump zerstört die liberale Weltordnung“, verkündet etwa die WirtschaftsWoche. Spiegel-Chef
Dirk Kurbjuweit wusste natürlich gleich am 8.11.24, unmittelbar nach
der Wahl, dass „Trumps Triumph“ nichts anderes bedeutet als „Das Ende des Westens“. Man kann derzeit eine endlose Menge solcher Feststellungen konsumieren. Allein der Deutschlandfunk bietet in seinem Podcast Tacheles gleich zwei Gespräche dieser Art hintereinander: „Trump zerstört den Westen und seine Werte“ mit Detleff Pollack und eine Woche darauf ein Gespräch mit Michael Werz („Greift US-Präsident Trump die Fundamente der Demokratie an?“).
Der ungekrönte König dieser Trump-zerstört-den-Westen-Prosa aber ist Joschka Fischer. Und das ist durchaus bezeichnend. Fischer hat in der deutschen ÖRR-Talkshow-Öffentlichkeit den Status des Elder Statesman eingenommen. In seinen Büchern erklärte er schließlich schon 2018 den „Abstieg des Westens“ und nun „Die Kriege der Gegenwart“ und nichts Geringeres als die neue Weltordnung, die Fischer natürlich schon kennt. Bei Caren Miosga sagte der Ex-Außenminister den zentralen Satz: „Die Wahl von Donald Trump lässt die These realistisch erscheinen, dass es das war mit dem Westen.“ Und: „Trump zerstört mutwillig die Welt, in die ich hineingeboren bin.“ Trump führe auch sein eigenes Land „Richtung Abgrund“. Fraglich sei nicht, ob er sich durchsetze, sondern nur: „Was wird er zerstören?“
Was
Fischer und andere mächtige Meinungsmacher da errichten, ist nichts
anderes als ein neues Narrativ des Sündenbocks. Eine Erzählung über die
missliche Lage des (ehemaligen?) Westens im Allgemeinen und Deutschlands
im Besonderen, die den verunsicherten Deutschen weismachen soll, wer
dafür verantwortlich ist. Trump und die Seinigen haben demnach einen
bewussten Vertrauensbruch innerhalb des Westens begangen. Fischer
beschuldigt natürlich auch den Vizepräsidenten J.D. Vance mit seiner
Rede von München. Moderatorin Miosga assistiert mit dem in solchen
Zusammenhängen stets genannten Stichwort der „Wertegemeinschaft“.
Man muss sich klarmachen, wer das sagt. Denn Joschka Fischer steht stellvertretend für eine Generation – natürlich nicht unbedingt für alle Deutschen oder Westler seiner Zeit, sondern für eine Generation der Mächtigen, also der gesellschaftlich und politisch bestimmenden Klasse in Deutschland und im ganzen Westen.
Die Hineingeborenen des alten Westens
Diese Generation – Fischer ist Jahrgang 1948 – wurde tatsächlich in eine Welt „hineingeboren“. In die westliche Welt nach dem Zweiten Weltkrieg nämlich. An deren (Wieder-)Aufbau und Festigung nach 1945 hatten Fischer und Seinesgleichen keinen Anteil. Das hatten deren Eltern vollbracht, jene Generationen, die zuvor den Kulturbruch der Weltkriege und der Nazi-Verbrechen erlebt und erlitten (in Deutschland und Österreich auch als Täter mitverschuldet) hatten.
Man muss sich zur Erkenntnis der gegenwärtigen Lage und des Niedergangs des Westens klar machen: Diejenigen, die den Westen als säkularisiertes, demokratisiertes und mit „Wohlstand für alle“ versehenes Nachfolgemodell des Abendlandes nach 1945 schufen, sind seit einigen Jahren tot. Auch von jenen, die 1989/90 die Erweiterung des Westens um die Länder des gescheiterten kommunistischen Experiments organisierten, die Generation von Bush Senior und Helmut Kohl, leben nicht mehr viele.
Ihr politisches und jetzt biologisches Abtreten und die Tatsache, dass sie kaum politische Erben haben, ist vielleicht das eigentliche Enddatum des Westens. Denn zwischen denen, die den Westen nach 1945 schufen und bis in die 1990er Jahre führten, und jenen, die es seither tun, verläuft eine Generationen-Bruchlinie.
Die den Westen seinerzeit nicht verteidigen wollten
Die Fischer-Generation, also der politisierte Teil der in den 1940er Jahren und später Geborenen – nennen wir sie vereinfacht „68er“ –, stand nicht bejahend und bewahrend zur damaligen Bundesrepublik und dem damaligen Westen, sondern bestenfalls kritisch oder sogar offen ablehnend bis feindlich. Fischers frühe Biographie ist bekannt. Um nur einige Stichworte zu nennen: PLO-Kongress, Karl-Marx-Buchhandlung, „Revolutionärer Kampf“, „Putzgruppe“.
Wer heute vom Vertrauensbruch von Trump und Vance und deren Verrat an der „Wertegemeinschaft“ des Westens spricht, sollte sich fragen, ob es nicht auch seinerzeit höchst fraglich war, ob man auf jene Teile der damaligen Jugend bei der Sicherung des Westens vertrauen konnte.
Heute
redet Fischer davon, dass Europa auf seine „Stärke“ setzen müsse,
„abschreckungsfähig“ werden und die Wehrpflicht wieder einführen müsse.
Im selben Gespräch bei Miosga – unter dem Titel „Müssen wir uns für
Krieg rüsten, um Frieden zu sichern?“ – berichtet Fischer immerhin
ehrlich, dass er seinerzeit den Wehrdienst verweigert hätte, wenn der
Musterungsarzt ihm nicht angeboten hätte, ihn für untauglich zu
erklären. Auf eine grundlegende Gewissensentscheidung gegen jegliche
Gewaltanwendung wird er sich wohl kaum berufen können, nachdem seine
durchaus gewalttätige Aktivität in der linksradikalen „Putzgruppe“ schon
vor 25 Jahren bekannt wurde: Fischer hat Polizisten verprügelt und
einen davon sogar fast mit einem Molotow-Cocktail getötet. Und er war
nicht der einzige spätere Spitzenpolitiker mit solcher Vergangenheit.
Fischer und all jene, die heute so warmherzig von der „westlichen Wertegemeinschaft“ sprechen und Trump deren Zerstörung vorwerfen, sollten sich selbst und der Öffentlichkeit Rechenschaft geben, was diese denn eigentlich ist. Ist das, was die Nato-Staaten 1949 gemeinsam zu verteidigen beschlossen, überhaupt noch dasselbe wie das, was Trump vermeintlich verlassen oder zerstört hat?
Natürlich ist der Bundesaußenminister von 1998 bis 2005 und heutige Elder Statesman Fischer nicht identisch mit dem „Putzgruppe“-Fischer der 1970er Jahre. Menschen, erst recht Politiker, können sich verändern. Auch der für einen DDR-Verlag arbeitende Frank-Walter Steinmeier und der FDJ-Veranstaltungen in der DDR besuchende Nato-Kritiker Olaf Scholz der frühen 1980er Jahre sind nicht dieselben geblieben, die heute (noch) im Kanzleramt und in Schloss Bellevue residieren. Aber als vorbildhafte Verteidiger des Westens sind sie durch diese politisch-ideologische Prägung nicht gerade überzeugend. Vor allem deswegen nicht, weil sie sich eben nie öffentlich und entschieden von ihren jugendlichen Überzeugungen losgesagt haben. Und das gilt grosso modo für die gesamte politische Elite dieser und der darauffolgenden Generation, zumindest im sozialdemokratisch-links-grünen Teil des politischen Spektrums, das aber programmatisch nicht erst seit Merkel weit hinein in Union und FDP ausstrahlt.
„1968“ als vermeintlich eigentlicher Gründungsakt der Republik
Die
Geschichte von „1968“ wird nicht nur von ihren selbstgerechten
Veteranen fast einhellig positiv und unkritisch im öffentlichen
Gedächtnis verankert, wie etwa die Bücher zum Thema in den
Jubiläumsjahren 2008 und 2018 belegten: als Aufbruch zur vermeintlichen
„Fundamentalliberalisierung“ und als eigentlicher Gründungsakt der
demokratischen Bundesrepublik. Natürlich waren die nachher so genannten
„68er“ eine sehr heterogene Bewegung. Aber eines haben alle damaligen
Aktivisten sicher gemeinsam: Der Zusammenhalt des Westens gegen seine
erklärten Feinde im europäischen Osten oder globalen Süden spielte für
sie keine positive Rolle. Im Gegenteil sympathisierte ein großer Teil offen mit dezidiert antiwestlichen, totalitären Regimen wie Maos China,
dem kommunistischen Nordvietnam und Castros Kuba. Eine Minderheit
ergriff auch offen Partei für die DDR und die Sowjetunion.
Natürlich war der Marsch durch die Institutionen jener 68er auch ein Prozess der allmählichen Versöhnung mit den Institutionen und also auch dem Westen als politischer Idee und Praxis. Der Furor, der noch in den 1970er Jahren die 68er-Veteranen in diversen kommunistischen Kleinparteien („K-Gruppen“) und RAF-Unterstützervereinen wie der „Roten Hilfe“ prägte, ebbte jenseits der RAF und der auch heute noch höchst gewaltfreudigen linksextremen Szene allmählich ab. Fischer und Weggefährten wie Joscha Schmierer, der 1974 noch vom „demokratischen Programm der Kommunisten“ schwärmte und 1978 mit seinen KBW-Genossen zum Solidaritätsbesuch ins Millionen Menschen mordende Regime des Pol Pot nach Kambodscha reiste, merkten vermutlich mit zunehmender Reife, dass es sich als Bürger im zuvor verdammten Westen wohl doch besser leben ließ als in der fortgesetzten Revolution.
Versuch der Neuerfindung des Westens
Nach seiner Zeit im Planungsstab des Auswärtigen Amts unter Fischer veröffentlichte Schmierer 2009 ein Buch. Dessen Titel „Den Westen neu erfinden“ ist durchaus bezeichnend für das, was stattgefunden hat: Der Westen wurde spätestens mit dem Abtreten der Kohl-Generation als letzter Vor-68-Politikergeneration, die den Westen durch die Endphase des Kalten Krieges geführt und die Wiedervereinigung und den Zusammenbruch des Kommunismus orchestriert hatte, mehr oder weniger übernommen von denen, die zuvor in ihrer Jugend diesen Westen noch bekämpft hatten. In Deutschland markierte der Regierungswechsel von 1998 diesen historischen Umbruch.
Das machte tatsächlich eine Art Neuerfindung oder
zumindest eine tendenzielle Uminterpretation des Westens durch die in
die Institutionen marschierte Post-68-Elite möglich und notwendig.
Bisherige kulturelle Fundamente westlicher Gemeinsamkeit, die nach dem
Zweiten Weltkrieg und für die politische Elite der Kohl-Generation noch
bestimmend waren – christlich-abendländisches Erbe, Vaterland,
Familiensinn, bürgerlich-marktwirtschaftliche Strebsamkeit –, wurden
allmählich dank der nach 1968 errungenen Diskurshoheit untergraben.
Besonders radikal betroffen war das alte Ideal der Wehrhaftigkeit. Zum
eigenen Militär entwickelte die neue politische Elite der 68er und ihrer
Eleven ein bestenfalls gleichgültiges, meist eher von Verachtung oder
gar Ekel geprägtes Verhältnis.
Weitgehend unangetastet blieben die fundamentalen Werte der Aufklärung: das universelle Versprechen der persönlichen Freiheit und der Gleichheit vor dem Gesetz, die Achtung der Menschenrechte und des Rechts auf demokratische Teilhabe. Aber längst gehören darüber hinaus für Politik- und Meinungsmacher vor allem neue Werte zur westlichen Wertegemeinschaft, die den Unterzeichnern des Nordatlantik-Vertrags oder des Grundgesetzes 1949 unverständlich erschienen wären – und auch heute den Lebensentwürfen eines Großteils der Bürger widersprechen. Gerade weil sie wenig verwurzelt sind, werden die neuen Werte immer wieder beschworen. Im aktuellen Koalitionsvertrag finden sich davon zum Beispiel: „Vielfalt“, „Weltoffenheit“, „Zivilgesellschaft“. Und natürlich gehört mittlerweile auch der Klimaschutz dazu.
Dieses Westliche-Werte-Programm aber stellt heimischen Steuerzahlern bei näherer Betrachtung keine Sicherheit und keine Besserung ihrer materiellen Lage in Aussicht, wie der alte Westen es tat, sondern verlangt ihnen Opfer ab. Die Transformation zur Klimaneutralität bedeutet den Verlust materiellen Wohlstands. Und ein großer Teil der einheimischen Bevölkerung empfindet auch den vorgezeichneten Weg zu einer diskriminierungsfreien und multikulturellen Einwanderungsgesellschaft als Verlust an Lebensqualität und Heimat. Die Unzufriedenheit darüber und die Angst vor dem Voranschreiten dieses Prozesses ist der Nährboden der Wahlerfolge der AfD und vergleichbarer Parteien in anderen westlichen Ländern.
Amerikas verlorene Kriege und der Trumpismus
Die Bedeutung von „1968“ für den Niedergang des Westens ist in den USA noch deutlicher und unmittelbarer erkennbar als in westeuropäischen Ländern. Das liegt an der Zuspitzung der gesellschaftlichen Gegensätze seit dem Vietnamkrieg. Der Erfolg Trumps und seiner MAGA-Bewegung ist nicht zuletzt ein Ergebnis der Abwendung weiter Teile insbesondere der nicht akademisch gebildeten Amerikaner von den Demokraten und den (Ost- und Westküsten-)Eliten, als deren Exponenten nicht zuletzt Hillary Clinton und Joe Biden betrachtet wurden.
Dabei spielt der Vietnamkrieg,
der 1968 seinen Höhepunkt erreichte, eine zentrale Rolle. Ausgerechnet
die akademische Jugend konnte sich nämlich vor dem Militärdienst in
Vietnam drücken und verabschiedete sich (wie anderswo im Westen)
ideologisch von der Wertschätzung des Militärs und der Wehrhaftigkeit.
Dass heutige Trump-Anhänger mit der Nato und der Idee einer gemeinsamen
Verteidigung Europas gegen äußere Bedrohungen nicht mehr viel anfangen
können, ist auch darauf zurückzuführen, dass sie, die in Vietnam, im
Irak oder in Afghanistan ihr Leben riskierten, sich als Opfer einer
„westlichen“ Wertepolitik sehen, von der einstige Studenten wie Bill und
Hillary Clinton profitierten, die sie dafür noch verachten. Philipp Pilkington hat diesen Zusammenhang jüngst im Cicero-Interview verdeutlicht.
Zusammengefasst: Ab den späten 1960er Jahren hielt ein dominanter Teil der akademisch gebildeten Jugend des Westens, also die späteren Eliten ihrer Länder, den damaligen Westen, also die Bundesrepublik und die Nato, nicht für verteidigenswert. Der heutige erbärmliche Zustand der Bundeswehr ist letztlich eine Folge ihrer Abneigung gegen alles Militärische. Dass nun sogar das grüne Wahlprogramm „Wehrhaftigkeit“ einfordert, ist eine verspätete Einsicht. Den Erben der Generation Joschka Fischers ist wohl erst durch Putin klargeworden, dass das heutige Deutschland und die „westliche Wertegemeinschaft“ nicht mehr die Bundesrepublik des Radikalenerlasses und die Nato des Doppelbeschlusses sind, sondern ihr von den eigenen Leuten regierter Staat und ihre von den eigenen Dogmen geprägte „westliche Wertegemeinschaft“.
Die Wertegemeinschaft der anderen erscheint nicht verteidigenswert
Aber
so wie ihre politischen Ziehväter, also die Generation von Fischer und
Schmierer, den damaligen Westen von Kurt-Georg Kiesinger und Richard
Nixon nicht gegen die Bedrohung durch den sowjetischen Kommunismus
verteidigen wollten, wollen heute J.D. Vance und Donald Trump,
beziehungsweise ihre Wähler, nun nicht die „westliche Wertegemeinschaft“
von Annalena Baerbock und Nancy Faeser verteidigen.
„Die Krise, mit der dieser Kontinent [Europa] jetzt konfrontiert ist, die Krise, die wir meiner Meinung nach alle gemeinsam durchleben, haben wir selbst verursacht: Wenn Sie Angst vor Ihren eigenen Wählern haben, kann Amerika nichts für Sie tun.“
Für Werte, die nicht die ihren sind, werden Vance und Trump nicht – um ein Bonmot von Bismarck abzuwandeln – die gesunden Knochen eines Marineinfanteristen aus Kentucky einsetzen. Wenn Vance diese Botschaft sendet, ist sie noch glaubhafter, als wenn sie von Trump kommt. Denn Vance ist kein Millionenerbe aus New York, sondern ein Hillbilly und ehemaliger Marineinfanterist, wie er in seinem Buch „Hillbilly-Elegie“ erzählt, also ein Kind genau jener armen weißen Bewohner der Appallachen-Staaten im Mittelwesten, die traditionell besonders patriotisch sind und besonders oft in den Streitkräften dienen. Vance war als Soldat im Irak. Er kennt den Frust dieser Menschen, die sich seit Vietnam von den Eliten für unglaubwürdige Ideale ausgenutzt fühlen. Es ist nicht zuletzt dieser Frust, der Trump und ihn an die Macht gebracht hat.
Das Zerbrechen des Westens ist nicht das Ergebnis des Machtantritts Donald Trumps in den USA oder des Aufstiegs von Viktor Orbán oder der Wahlerfolge von Marine Le Pen oder der AfD oder anderen „Populisten“. Diese sind keine Ursachen. Die Spaltung, die quer durch fast alle Gesellschaften des Westens und nun auch durch den Atlantik geht, begann nicht erst mit ihrem Aufstieg. Trump und Co. sind Reaktionen auf Aktionen, die viel älter sind als sie selbst.
Man kann durchaus
sagen, dass Joschka Fischer und die Generation, für die er
paradigmatisch steht, selbst die Saat des Verfalls gesät haben, den sie
und ihre Erben im Politik- und Meinungsbetrieb nun mit Entsetzen
feststellen. Dass sie dafür andere Schuldige suchen und öffentlich
anklagen, ist nachvollziehbar, aber es enthebt sie nicht ihrer
Verantwortlichkeit für die zerstörerischen Folgen ihrer eigenen Politik.
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