Trump oder Harris? Die einseitige europäische Fokussierung auf die Demokraten ist ein Fehler.
Amerika ist einzigartig
Harris und ihre Bewerbung sind eine grosse Wundertüte. Sie hat nur wenige Spuren als Vizepräsidentin hinterlassen, am ehesten im Kampf für das Recht auf Abtreibung. Aussenpolitisch trat sie bisher nicht hervor. Dabei können amerikanische Präsidenten hier am meisten bewegen. In der Innenpolitik müssen sie sich mit einem oftmals widerständigen Kongress herumplagen. Nur jenseits der amerikanischen Grenzen ist der Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte tatsächlich der mächtigste Mann der Welt.
Kein anderer Politiker hat einen so globalen Einfluss, nicht einmal der chinesische Präsident Xi Jinping kann sich dessen rühmen. Amerika ist einzigartig, selbst in einem Moment der Schwäche wie diesem. Was aber wird das Land mit seiner Macht anstellen? Das ist heute ungewisser denn je.
Das Argument, mit dem sich alle etablierten Parteien in Europa reflexartig hinter Bidens zweite Kandidatur stellten, lautete Berechenbarkeit. Der Präsident galt als verlässliche Grösse, sein Herausforderer als Sicherheitsrisiko.
Wäre Berechenbarkeit tatsächlich ein so entscheidendes Kriterium, müsste die europäische Politik nun unisono Trump unterstützen. Wenigstens lassen seine ersten vier Jahre im Weissen Haus Rückschlüsse auf eine zweite Amtszeit zu.
Der Republikaner war ein Lautsprecher, der mit allen Gepflogenheiten des präsidialen Comments brach. Aber er liess seinen verbalen Entgleisungen bemerkenswert wenige Taten folgen. Zwar schurigelte er die Europäer, weil diese sich als unzuverlässige Verbündete herausgestellt hatten, die Jahr um Jahr ihr Versprechen brachen, substanziell aufzurüsten.
Dennoch machte Trump seine Drohung nicht wahr, die Nato zu verlassen. Die Zusammenarbeit in der Allianz verlief bemerkenswert reibungslos. Dazu trug bei, dass sich der Präsident mit der vorlauten Klappe nie in neue Kriege und andere aussenpolitische Abenteuer stürzte. Selbst als Iran militärisch zündelte, beliess er es bei einem Gegenschlag, der gerade gross genug ausfiel, um die Abschreckung wiederherzustellen.
Nie sahen sich die Europäer vor die Wahl gestellt, den USA widerwillig in den Kampf zu folgen oder den grossen Bruder zu brüskieren. Trump neigt zu Alleingängen, aber auch Biden konsultierte seine Verbündeten vor dem Abzug aus Afghanistan nicht. Der Republikaner liess die Europäer nur mit dem Eifer des Narzissten spüren, wer in der transatlantischen Beziehung das Sagen hat. Das verzeihen sie ihm bis heute nicht.
Auf der Habenseite kann Trump verbuchen, dass er als erster Präsident seit langem Fortschritte im Nahen Osten erzielt hat. Unter seiner Ägide normalisierten Israel und mehrere arabische Staaten ihr Verhältnis mit den sogenannten Abraham Accords. Er bewies auch Weitsicht, als er das Atomabkommen mit Teheran ebenso kündigte wie den Vertrag mit Moskau über das Verbot von Mittelstreckenraketen in Europa.
Seine Regierung war die erste, welche konsequent auf die veränderten strategischen Herausforderungen reagierte: weg vom «War on Terror» und von den Kleinkriegen an der Peripherie, hin zur Konfrontation mit den revisionistischen Mächten China und Russland.
Trumps schärfste Kritikerin, die Kanzlerin Angela Merkel, lag hingegen falsch. Das verzeihen die Deutschen Trump erst recht nicht. Merkels Weigerung, die Ukraine nach der Annexion der Krim militärisch aufzurüsten, war moralisch und realpolitisch ein Fehler; genauso das Appeasement gegenüber Putin und die energiepolitische Abhängigkeit von Russland.
Erst nach dem Kriegsbeginn 2022 bequemte sich Berlin zu dem, was Trump schon Jahre zuvor gefordert hatte: zwei Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Verteidigung auszugeben. Solche Irrtümer sollten die Europäer dazu veranlassen, Trump bei einer zweiten Amtszeit unvoreingenommener entgegenzutreten als in der Vergangenheit. Auch dann, wenn dieser bald drei Prozent fordert. Der neue kalte Krieg in Europa wird nicht billiger als der letzte.
Gewinnt Putin in der Ukraine, sieht Amerika schwach aus
Trump handelt oft genug egoistisch. So traktierte er nicht nur China, sondern auch die Partner jenseits des Atlantiks mit Zöllen. Allerdings verhielt sich auch Biden protektionistisch. Harris ist ohnehin eine klassische interventionistische Linke. Das Pendel der Globalisierung schwingt überall zurück, in den USA wie in Europa. Am Ende ist Trump dennoch klar wirtschaftsfreundlicher als Harris.
Einen guten Instinkt bewies der Überlebenskünstler Netanyahu, indem er sich früh auf Trump festlegte. Aus israelischer Sicht ist die Nähe zu den Republikanern allerdings naheliegend. Nur sie garantieren die volle Unterstützung Israels in dem existenziellen Kampf gegen das mörderische Quartett Iran, Hizbullah, Huthi und Hamas.
Zwar hielt Biden an den Waffenlieferungen an den wichtigsten Verbündeten im Nahen Osten fest, aber die Linken in seiner Partei rebellierten dagegen. Harris dürfte eher dem linken Flügel nachgeben und auf einen propalästinensischen Kurs einschwenken. Für den alten Kontinent wäre das fatal. Wachsende Spannungen zwischen den USA und Israel würden das mörderische Quartett zu verstärkter Aggression ermutigen.
Niemand spürt die Folgen einer Eskalation im Nahen Osten direkter als Europa: mehr Migration, mehr Radikalisierung und mehr Terror. Zugleich nimmt seine Abhängigkeit von Gas und Öl aus der Region wieder zu, seit die Importe aus Russland gedrosselt wurden.
Geostrategische Rundumsicht gehörte nie zu den Stärken der Europäer, und so sind ihre Augen derzeit nur auf die Ukraine gerichtet. Bidens Verlässlichkeit in dem Krieg und sein klares Bekenntnis zu den transatlantischen Beziehungen werden stets als Hauptgrund für die Parteinahme zugunsten der Demokraten genannt.
Harris hat keinen transatlantischen Hintergrund. Bidens starker emotionaler Bezug zu diesem Kernelement der amerikanischen Aussenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg geht ihr ab. Darin ist sie dem durchschnittlichen Amerikaner vergleichbar und Trump durchaus ähnlich. Wie dieser blickt sie eher in Richtung Pazifik.
Asien in seiner Vielfalt, mit der Bedrohung China und seinen unermesslichen wirtschaftlichen Chancen, liegt der Kalifornierin nahe. Dass sie Aussenpolitik und Streitkräfte stärker auf den Pazifik und weniger auf den Atlantik ausrichten würde, ist jedenfalls eine plausible Annahme. Sie würde weniger poltern als Trump. Der Effekt für Europa wäre der gleiche.
Dennoch würden beide die Hilfe für Kiew nicht beenden. Der Kollaps der Ukraine und der Triumph Russlands liessen die USA schwach aussehen. Das wäre kein zweites Vietnam, aber auch nicht weit entfernt davon. Gerade die isolationistischen Anhänger Trumps wollen ein starkes Amerika, wie Umfragen belegen.
Schon Biden versah die Waffenlieferungen periodisch mit Sperrvermerken: keine Panzer, keine Kampfjets, keine weitreichenden Raketen. Vermutlich wird Washington noch eigensinniger, doch eine totale Kehrtwende ist unwahrscheinlich. Zumal es in beiden Parteien genügend Kongressmitglieder gibt, die den Wert von Verbündeten und einer globalen amerikanischen Präsenz hoch veranschlagen.
Beide Kandidaten haben Nachteile. Beide lassen eine Phase der Ungewissheiten erwarten. Die einseitige europäische Fokussierung auf die Demokraten war jedenfalls ein Fehler. Etwas mehr Unvoreingenommenheit gegenüber Trump wäre realpolitisch klug.
Wem selbst das zu viel ist: Wenigstens sollte man beide Kandidaten mit gleich viel Skepsis betrachten. Denn am Ende zählt in der Aussenpolitik das Eigeninteresse und nicht die geschmäcklerische Frage, wer einem sympathischer ist.
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