25 März 2024

Corona - Die RKI-Protokolle und wie die Politik die Wissenschaft ignorierte (WELT+)

Corona
Die RKI-Protokolle und wie die Politik die Wissenschaft ignorierte (WELT+)
Jahrelang wurden Grundrechtseinschränkungen in der Corona-Pandemie mit wissenschaftlichen Erkenntnissen gerechtfertigt. Nun veröffentlichte Dokumente belegen abermals, dass die Forscher viel kontroverser über Maßnahmen diskutierten als die Politik versucht, glauben zu machen. Ein Überblick.
Wenig wurde in den Jahren der Corona-Pandemie so viel diskutiert wie das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik. Die Veröffentlichung von Sitzungsprotokollen des Robert-Koch-Instituts (RKI) durch das Online-Portal „Multipolar“ sorgt nun seit Tagen für neue emotionale Debatten – mit alten Mustern.
Die Papiere geben einen Einblick in die Beratungen der RKI-Wissenschaftler. Mehr als 200 Protokolle in einem Gesamtumfang von über 2000 Seiten aus dem Zeitraum 14. Januar 2020 bis zum 30. April 2021 liegen vor. Sie zeigen erneut, wie kontrovers intern über einzelne Maßnahmen diskutiert wurde und wie die Politik mal um mal die Meinung der RKI-Experten ignorierte.

Ein Überblick über wichtige Passagen der RKI-Files:

FFP2-Masken

Die Pflicht zum Tragen einer FFP2-Maske etwa steht heute als eines der Symbole für die Corona-Zeit. Wieder und wieder wurde dies von der Politik mit einem belegten erhöhten Schutz gegen die Verbreitung des Corona-Virus begründet. Dabei war der Nutzen nicht unumstritten. Im RKI-Protokoll vom 30. Oktober 2020 heißt es, dass es „keine Evidenz für die Nutzung von FFP2-Masken außerhalb des Arbeitsschutzes“ gebe.

Die Politik hielt daran fest – obwohl das RKI in 13 verschiedenen Einträgen bis April 2021 immer wieder zu dem Schluss kommt, dass es keine fachliche Grundlage für eine Empfehlung in der Gesamtbevölkerung gibt. Die Polizei setzte die an vielen Orten gültige FFP2-Maskenpflicht vehement durch.

3G-Regelungen und Impfnachweise

Auch bei den 3G-Regeln hat die Politik offenbar gegen die Empfehlungen des RKI gehandelt. Dieses sprach sich am 5. März 2021 dem Protokoll zufolge gegen Privilegien beim Nachweis des Impfstatus aus. Das RKI nannte diese „fachlich nicht begründbar und nicht sinnvoll“, auch die WHO lehne dies wegen mangelnder Fälschungssicherheit und aus ethischen Gründen ab.

Mitte September 2021 führten die Bundesregierung und die Länder die 3G-Regeln (geimpft, genesen, getestet) und kurz darauf auch vielerorts 2G-Vorgaben (geimpft, genesen) ein, was den Ausschluss von Ungeimpften aus zahlreichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens bedeutete.

Große Teile der Protokolle, bei denen es um die Corona-Impfung geht, sind unkenntlich gemacht. Das Protokoll „Update Impfung“ vom 19. März 2021 etwa ist komplett geschwärzt. Lauterbach begründete dies damit, dass Mitarbeiter vor „Hass und Hetze“ geschützt werden sollten. Wie diese Behauptung zur Schwärzung von kompletten Seiten passen soll, ist unklar.

Vergleich mit Grippe und gesundheitliche Folgen

Am 19. März 2021 sprach der Krisenstab über mögliche Todeszahlen und über das sehr hohe Durchschnittsalter der Verstorbenen. „Das Argument, dass ältere, gebrechlichere Menschen, die auch ohne Covid-19 zeitnah versterben würden, sollte entschärft werden.“

Bezogen auf den Vergleich mit der Grippe heißt es dort: Bei einer normalen Grippewelle „versterben mehr Leute“. Die Politik hingegen verbat sich Vergleich von Covid mit der Grippe.

Schulschließungen

Zu den umstrittensten Maßnahmen gehörte die Entscheidung der Bundesregierung für monatelange Schulschließungen, Wechsel- und Distanzunterricht, die zu Lernrückständen und psychischen und körperlichen Belastungen führen sollten.

Am 4. Dezember 2020 analysierte der Krisenstab des RKI die Lage im Ausland und kam für Deutschland zu dem Schluss, dass an Schulen das Infektionsgeschehen nicht maßgeblich vorangetrieben werde. Das Sitzungsprotokoll vom 9. Dezember verkündet Ähnliches. Dort heißt es wörtlich, das Ausmaß der Kontaktbeschränkungen „reiche nicht aus“, um die hohen Fallzahlen einzudämmen, dazu müssten unter anderem auch Schulen geschlossen werden.

Doch darauf folgte die Anmerkung: „Schulen sind nicht das Mittel, um die Pandemie einzudämmen, das zeigen auch andere Länder.“ Beim Bund-Länder-Gipfel unter der Leitung von Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wurde vier Tage später beschlossen, die Präsenzpflicht an Schulen auszusetzen und diese „grundsätzlich“ zu schließen.

Wirksamkeit von Lockdowns

Ein weiteres Beispiel aus den RKI-Files: Am 16. Dezember 2020 bewertet das RKI die Wirksamkeit von Lockdowns weltweit. Im Protokoll heißt es: „Lockdowns haben zum Teil schwerere Konsequenzen als Covid selbst.“

Im RKI wurde also kontrovers diskutiert, wurde über unterschiedliche Ideen der Pandemie-Bekämpfung offen debattiert. Die politischen Entscheidungsträger hingegen erklärten viele Maßnahmen mit einer angeblichen Alternativlosigkeit, behaupteten, ihre Beschlüsse seien von „der Wissenschaft“ gedeckt. So wie der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), der sich gegenüber WELT nicht zu der Thematik äußern wollte.

Viele deutsche Medien übten zu Spahns Zeit – oft mit dem Vorwurf „False Balance“ verbunden – massive Kritik an maßnahmenkritischen Wissenschaftlern, selbst wenn diese unbestritten über Expertise verfügten. Ihnen wurde vorgeworfen, nur eine Außenseitermeinung zu vertreten würden, sie sollten aus dem Diskurs gedrängt werden. Dieser Plan ging in großen Teilen der Öffentlichkeit auf, Kritiker der deutschen Corona-Politik wurden als „Querdenker“, Rechtsextreme oder Putin-Freunde gelabelt und mit Verschwörungstheoretikern in einen Hut geworfen.

Ex-RKI-Direktor spricht von „großen Fehlern“

Michael Bosnjak ist einer der renommiertesten Psychologen Deutschlands. Im Jahr 2022 war er Wissenschaftlicher Direktor für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring am RKI, nahm an den Krisenstabssitzungen teil und beschäftigte sich intensiv mit dem Zusammenhang zwischen der Corona-Pandemie und nichtübertragbare Krankheiten, etwa der psychischen Gesundheit. Heute ist er Professor für Psychologische Methodenlehre an der Universität Trier.

Im Gespräch mit WELT sagte er: „Wir leben in einer Demokratie und nicht einer Expertokratie. Dementsprechend ist es die Politik, die die Entscheidungen im Land trifft. Der große Fehler war, dass die Entscheidungsträger der Bevölkerung verschwiegen haben, dass die Corona-Maßnahmen nicht immer auf robusten wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhten.“

Dabei sei es im wissenschaftlichen Betrieb – und damit auch im RKI – stets allen klar gewesen, dass es „die Wissenschaft“ nicht gebe: „Uneinigkeit unter Wissenschaftlern ist völlig normal. Außerdem ist es unmöglich, bei einer neuen Pandemie gleich für alles robuste Evidenz zu haben.“ Diese Unsicherheiten, so Bosnjak, „sind aber politisch nicht kommuniziert worden. Dabei hätte man der Bevölkerung die volle Wahrheit zumuten müssen und können. Wir haben es in Deutschland mit gebildeten Bürgern zu tun.“

Lauterbach weist Verantwortung von sich

Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), seit Beginn der Pandemie Befürworter und als Minister im Kabinett Scholz dann auch treibende Kraft bei der Verhängung von Grundrechtseinschränkungen, versucht seit geraumer Zeit, die Verantwortung für diese Entscheidungen von sich zu weisen.

Im vergangenen Jahr erklärte er mit Blick auf die im Nachhinein als falsch eingeschätzten Schulschließungen, die wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu seien „nicht gut“ gewesen. Die RKI-Papiere zeigen nun: Ein klares wissenschaftliches Votum pro Schulschließungen gab es nie.

Jenseits von öffentlichen Auftritten äußerte sich auch der frühere RKI-Präsident Lothar Wieler immer wieder kritisch über die Entscheidungen der Regierenden und das Wirken Lauterbachs. In der Öffentlichkeit hingegen war er den Politikern treu – auch um seine eigene Position nicht zu gefährden.

Aus dem Umfeld seiner Unterstützer heißt es bis heute, man dürfe nicht vergessen, dass das RKI dem Bundesgesundheitsministerium unterstellt ist. Wer damit nicht klarkomme, könne das Institut verlassen. Die einzige andere Option sei, sich den Vorgaben des Ministeriums zu fügen. Ein früherer Mitarbeiter sagte WELT, nicht umsonst hingen in vielen Büros Organigramme des RKI an der Wand – mit dem Bundesgesundheitsminister an der Spitze.

Medizinstatistiker: Merkel hat erheblichen Anteil

Der Medizinstatistiker Gerd Antes ist der Mitbegründer des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (EbM). Die Art und Weise, wie die Regierenden in der Corona-Krise agierten, kritisierte er immer wieder. „Die Politik hat das Thema Corona an sich gerissen und ist dann eine unheilvolle Allianz mit ausgewählten Wissenschaftlern eingegangen, zu der später auch ein Großteil der Medien gehörte“, sagte er WELT.

Dabei dürfe man nicht vergessen, dass auch Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) einen erheblichen Anteil an Verantwortung für die Entwicklungen getragen habe: „Sie hat sehr früh Forschern große Bedeutung zukommen lassen, die zum großen Teil Physiker waren wie sie selbst – etwa Viola Priesemann, Michael Meyer-Hermann und Dirk Brockmann beim RKI und der Verkehrsplaner Kai Nagel, der sogar ihr persönlicher Berater war.“

Ein offener Diskurs sei über lange Zeit nicht möglich gewesen, so Antes. Außerdem solle man darüber nachdenken, das RKI durch eine unabhängige Institution zu ersetzen: „Diese Kommissionen müssen davor bewahrt werden, politisch malträtiert zu werden. Man muss sie vor dem Einfluss der Politik schützen.“

FDP-Vizefraktionschef Wolfgang Kubicki forderte am Montag Minister Lauterbach auf, der Öffentlichkeit die RKI-Protokolle ungeschwärzt zugänglich zu machen; ein großer Teil der von „Multipolar“ veröffentlichten Papiere war vor der Herausgabe unkenntlich gemacht worden. Ein Sprecher Lauterbachs teilte mit, man respektiere die Entscheidung des RKI, die Papiere nur geschwärzt herauszugeben. Die nicht zensierte Version kenne man überdies nicht.

Ex-RKI-Führungskraft Bosnjak fordert derweil, die Erhebung und Verarbeitung von Daten durch das RKI deutlich zu verbessern. Die mangelnde Datenqualität in Deutschland sei einer der wichtigsten Gründe dafür gewesen, dass politische Maßnahmen auf teilweise wackeligen Beinen standen. „Die Datenlage in Deutschland muss deutlich verbessert werden. Das gilt für die Datenqualität auf individueller Ebene, aber auch in Sachen Präzisionsmedizin und Public Health. So kann es gelingen, dass bei künftigen Gesundheitskrisen die Folgen von Maßnahmen deutlich zuverlässiger abzuschätzen sind.“

Gewaltiger Testzentren-Betrug vor der Aufklärung

Und der nächste Aufreger steht schon vor der Tür. Wie WELT erfuhr, wird das RKI in Kürze eine Analyse des Betrugs in deutschen Corona-Testzentren fertigstellen. Eine Erkenntnis, die bereits hinter den Kulissen diskutiert wird: Die Dimension des Betrugs war so gewaltig, dass die täglich gemeldeten Infektionszahlen völlig verzerrt und als Grundlage für politische Entscheidungen völlig ungeeignet waren.

Dass Testzentrumsbetreiber den Staat betrogen konnten, liegt daran, dass auch abstruse Fantasiezahlen gemeldet werden konnten, um Gelder abzugreifen. Kontrollen? Fehlanzeige. Die Frage wird sein, wer für dieses Versagen verantwortlich gemacht wird.

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