Israel in Gaza: Der Stimmungsumschwung und seine Gründe
Gabor Steingart, Mittwoch, 15.11.2023
Der Überfall der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung, der in Summe 1.200 Menschen das Leben kostete, hat weltweites Entsetzen hervorgerufen. Gewalt in ihrem Rohzustand war zu besichtigen, die auf Kinder und Babys keine Rücksicht nahm. Die Weltöffentlichkeit war in ihrer Anteilnahme vereint.
Bundeskanzler Scholz sagte nach dem Angriff in einem Telefonat mit dem israelischen Premier Benjamin Netanjahu:
Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson. Das gilt gerade auch in schweren Stunden wie diesen. Entsprechend werden wir handeln.
US-Präsident Joe Biden war nicht minder klar:
Es gibt Momente in diesem Leben – und ich meine das wörtlich –, in denen das reine, unverfälschte Übel auf dieser Welt entfesselt wird. Das Volk Israel hat an diesem Wochenende einen solchen Moment erlebt.
Doch Mitleid ist nicht teilbar. Mit dem Beginn der Bodenoffensive, also der legitimen Selbstverteidigung Israels, ist auch das westliche Mitgefühl in den Gazastreifen einmarschiert. Die Bilder von zerbombten Wohnhäusern,
die Nachrichten von Lebensmittelknappheit, einer mutwillig
unterbrochenen Elektrizitätsversorgung und die Belagerung von
Krankenhäusern lösen im Westen Beklemmung aus. Auch das palästinensische Kind besitzt ein Existenzrecht.
Elon Musk fragt in einem Interview:
Für jedes Mitglied der Hamas, das du tötest, wie viel erschaffst du dadurch neu? Und wenn du mehr neue erschaffst als du tötest, dann hast du keinen Erfolg vorzuweisen.
2. Der Hamas ist es gelungen, einen „Frozen Conflict“ aufzutauen
Das Existenzrecht Israels trifft mit voller Wucht auf das von den Palästinensern reklamierte „Recht auf Rückkehr“, das den Kern vom Kern der Hamas-Ideologie bildet.
Zum Hintergrund: Alle späteren Rechtsakte – der Rückzug der britischen Kolonialmacht aus dem heutigen israelischen Staatsgebiet, der von der Vollversammlung der Vereinten Nationen beschlossene und von Amerikanern, Russen und Franzosen mitgetragene Teilungsplan für die Region Palästina – sind eine Folge des Holocaust. Damit wurde dem moralischen Anspruch der Überlebenden auf Freiheit in Selbstbestimmung Rechnung getragen. Aber: Die Palästinenser waren damals Objekt, nicht Subjekt der Geschichte.
Nach der Unabhängigkeitserklärung Israels am 14. Mai 1948 griff am Tag danach eine Allianz aus Ägypten, Syrien, Libanon, Jordanien und Irak den noch jungen Staat an. Israel gewann diesen ersten arabisch-israelischen Krieg, dadurch kam es zu massiven Bevölkerungsverschiebungen.
Nach Schätzungen der UN verloren rund 700.000 Palästinenser damals ihr Land und ihr Eigentum an die neuen israelischen Siedler. Diese Ereignisse wurden und werden von Palästinensern als „Nakba“, deutsch „Katastrophe“ oder „Unglück“, empfunden.
Bis heute wird von vielen Palästinensern das Existenzrecht Israels bestritten und unter dem Slogan „From the river to the sea, Palestine will be free“ das von den Vereinten Nationen den Israelis zugesprochene Staatsgebiet reklamiert. Das bedeutet: Das Existenzrecht Israels und das von den Palästinensern geforderte „Recht auf Rückkehr“ bilden die unversöhnlichen Pole auch des heutigen Konflikts.
3. Israel führt Krieg inmitten einer urbanen Zivilisation
Die Kriegsführung selbst setzt Israel in den Augen der westlichen Öffentlichkeit ins Unrecht. Da die Hamas die Zivilbevölkerung als Schutzschilde für ihre Kommandostruktur und ihre Waffenlager nutzt, nimmt auch die israelische Armee diese Schutzschilde ins Visier und damit wehrlose Menschen, zwangsweise muss man sagen, als Opfer in Kauf.
Stand 10. November – das Kommunikationsnetzwerk ist seitdem zusammengebrochen – sind im Gazastreifen 11.087 Menschen gestorben, davon 4.506 Kinder und 3.027 Frauen. Diese
Zahlen veröffentlicht die von der Hamas kontrollierte
Gesundheitsbehörde in Gaza; sie sind daher mit Vorsicht zu betrachten.
Die UN-Nothilfeorganisation OCHA gibt sie auf ihrer Webseite wieder; auch Human Rights Watch nutzt diese Zahlen.
Tedros Adhanom Ghebreyesus, der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und frühere Außenminister von Äthiopien, sagte vor dem UN-Sicherheitsrat:
Im Durchschnitt wird in Gaza alle zehn Minuten ein Kind getötet.
4. Der Kampf um das Spital Al-Schifa wird zum Symbol des Anti-Israel-Protests
Jeder Krieg schafft seine eigenen grausam-ikonischen Momente und auch seine Symbole. Dieses Symbol könnte das Krankenhaus Al-Schifa werden. Mit Panzern rückt die israelische Armee auf das größte Spital in Gaza vor. In der Nacht wurde eigenen Angaben zufolge ein Teil des Krankenhauses eingenommen. Die Soldaten führten dort eine „präzise und gezielte Operation" gegen die Hamas durch, teilte das Militär mit. Zivilisten solle kein Schaden zugefügt werden.
Dieses Krankenhaus ist mittlerweile von der Wasser- und Nahrungsmittelversorgung abgeschnitten und besitzt auch keinen Strom mehr, sagte der Spitalleiter Dr. Muhammad Abu Salmiya dem arabischen Sender Al Jazeera. Laut der WHO hat dieses Krankenhaus mittlerweile seinen Betrieb einstellen müssen.
Die israelische Armee sagt, dieses Krankenhaus sei in Wahrheit eine militärische Hochburg und komplett untertunnelt. Die israelischen Streitkräfte würden es daher als ein militärisches Ziel ansehen, während sie gleichzeitig zwischen Hamas-Kämpfern und Zivilisten unterscheiden würden.
Laut dem Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte sind durch den Mangel an Strom mindestens zwölf Personen in Al-Schifa bereits gestorben. Drei Dutzend Babys liegen in der Frühgeborenenstation – und schweben ohne den Strom für die Brutkästen in Lebensgefahr. Die israelischen Streitkräfte haben angeboten, die Babys in ein sicheres Spital zu bringen.
5. Der Westen driftet – zulasten der Israelis
Die Amerikaner haben sich mittlerweile auch offiziell in die israelische Kriegsführung eingemischt. Biden hatte von Anfang an gesagt, Israel dürfe nicht den Fehler der US-Regierung nach 9/11 wiederholen:
Aber ich warne Sie: Auch wenn Sie
diese Wut spüren, lassen Sie sich nicht von ihr auffressen. Nach 9/11
waren wir in den Vereinigten Staaten wütend. Und während wir
Gerechtigkeit suchten und bekamen, haben wir auch Fehler gemacht.
etzt meldete sich der sicherheitspolitische Berater von Biden, Jake Sullivan, zu Wort:
Wir wollen keine Feuergefechte in Krankenhäusern sehen, in denen unschuldige Menschen und Patienten, die medizinische Versorgung erhalten, ins Kreuzfeuer geraten.
Mit jeder weiteren Intervention des Westens wird die israelische Regierung von Benjamin Netanjahu tiefer in die Enge gedrückt. Im medialen Spielfeld ist der Raum für die israelische Regierung mittlerweile eng geworden. Das Opfer wird zunehmend als Täter wahrgenommen – und medial so behandelt.
Fazit: In diesem Krieg können auf dem Schlachtfeld Erfolge, aber keine Siege erzielt werden. Gesucht wird: Ein Vermittler, der versteht, dass es das Wort Existenzrecht nur im Plural gibt.
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