30 Juni 2023

Der andere Blick Die Annullierung des ersten AfD-Wahlsiegs wäre ein Geschenk für die Partei und ein Desaster für die Demokratie (NZZ)

Der andere Blick
Die Annullierung des ersten AfD-Wahlsiegs wäre ein Geschenk für die Partei und ein Desaster für die Demokratie  (NZZ)
von Marc Felix Serrao Chefredaktor der NZZ in Deutschland
Als nützliche Idioten bezeichnet man Menschen, die einer Person oder Sache dienen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Die AfD kann sich seit ihrem ersten kommunalpolitischen Wahlsieg am vergangenen Sonntag über eine Rekordzahl solcher Leute freuen. Sie wollen irgendetwas tun, um den Höhenflug der Rechtsaussenpartei zu bekämpfen, und vermutlich sind sie davon überzeugt, das Richtige zu tun. Aber mit der Wahl ihrer Worte und Mittel stellen sie sich der AfD nicht etwa entgegen, sondern ebnen ihr den Weg zu weiteren Erfolgen.
Jüngstes Beispiel ist das Thüringer Landesverwaltungsamt mit Sitz im schöner Weimar. Es hat soeben angekündigt, die persönliche Eignung und Verfassungstreue des frisch gekürten Landrats Robert Sesselmann zu überprüfen – und den Wahlsieg des AfD-Politikers im Falle eines negativen Befundes für ungültig zu erklären. Eine Sprecherin der Behörde begründete den Verdacht der fehlenden Eignung und Verfassungstreue gegenüber der NZZ mit dem Urteil des thüringischen Verfassungsschutzes. Dieser klassifiziert den dortigen Landesverband der AfD als «erwiesen rechtsextremistische Bestrebung». Schon der Versuch ist ein Affront
Würde man es nicht besser wissen, könnte man den Verdacht hegen, dass die AfD heimlich die Leitung des Thüringer Landesverwaltungsamts übernommen hat. Formaljuristisch mag die Überprüfung der Verfassungstreue irgendwie begründbar sein, aber politisch ist sie aberwitzig.
Der Wahlakt ist das Herzstück der Demokratie. In ihm drückt der Souverän seinen Willen aus. Mit ihm beginnt die Legitimität aller Staatsgewalt. Schon der Versuch, den Willen des Souveräns durch einen Verwaltungsakt infrage zu stellen, ist ein Affront. Der erfolgreiche Versuch wäre ein Desaster. Er würde nicht nur eine zähe juristische Schlacht nach sich ziehen, deren Ausgang völlig offen wäre, sondern auch das Vertrauen vieler Bürger – und nicht nur der AfD-Wähler – in den Staat erschüttern.
Angeknackst dürfte das Vertrauen jetzt schon sein. Der Präsident des Landesverwaltungsamts ist Frank Rossner, ein Mitglied der im Freistaat mitregierenden Sozialdemokraten. Sein Dienstherr ist der thüringische Innenminister Georg Maier, ebenfalls SPD. Und der oberste Verfassungsschützer des Bundeslandes – dessen Einschätzung der AfD ja die Grundlage der ganzen Prüfung sein soll – ist Stephan Kramer. Auch er berichtet an Maier, und auch er ist SPD-Mitglied.
«20 Prozent brauner Bodensatz»
Wie neutral und frei von parteipolitischen Motiven agieren diese drei Herren? Die Frage drängt sich auf, zumal der Verfassungsschutzpräsident aus seinen Gefühlen nicht nur der AfD, sondern auch deren Wählern gegenüber kein Hehl macht: «Wir sind bei ungefähr 20 Prozent braunem Bodensatz in der Bundesrepublik», sagte er nach der Wahl von Sonneberg.
Wehret den Anfängen: Das sagen diejenigen, die es wie Kramer sehen und den «Demokratie-Check» des Landrats Sesselmann befürworten. Sie verweisen auf den Verfassungsschutz. Sie zitieren Reden des bisherigen Landtagsabgeordneten Sesselmann, in denen dieser gegen linke Politiker und Flüchtlinge agitiert. Die Demokratie dürfe nicht tatenlos zusehen, wenn Faschisten, Antidemokraten und Nazis nach der Macht griffen, sagen sie.
Das ist grundsätzlich richtig. Aber sind solche Klassifizierungen im Falle der AfD angemessen? Führende Vertreter der Partei pflegen einen kulturell verbrämten Rassismus und eine ausgeprägte Islamfeindlichkeit. Sie streben einen Geschichtsrevisionismus an, der die Schrecken der Nazizeit kleinredet, und sie verbreiten Verschwörungserzählungen von finsteren «Globalisten». Das Ergebnis ist eine unappetitliche und illiberale Mixtur, mit der kein Staat zu machen ist.
Aber faschistisch, nazistisch gar? Man kann die radikale Rechte von heute politisch bekämpfen, ohne die Verbrechen des 20. Jahrhunderts zu bagatellisieren.
Ein riesengrosses Wahlgeschenk
Solange die AfD nicht verboten ist, bleibt den etablierten politischen Kräften nur die inhaltliche Auseinandersetzung. Versuche, ihre Rechte durch Obstruktion zu beschneiden oder gar auf die Annullierung des Wählerwillens zu setzen, werden nach hinten losgehen.
2024 sollen in mehreren ostdeutschen Bundesländern neue Landtage gewählt werden, auch in Thüringen. Das dortige Landesverwaltungsamt hat den völkischen Rechten nun ein erstes riesengrosses Geschenk gemacht. Fällt die Prüfung des Wahlsiegers Sesselmann positiv aus, dann dürfte die Partei das als Siegel der eigenen Unbedenklichkeit ins Feld führen. Fällt die Prüfung negativ aus, wird sie sich mehr denn je als benachteiligter Aussenseiter darstellen. Win-win.
Schaut man sich den Stand der öffentlichen Auseinandersetzung in Deutschland an – von Tiervergleichen und wüsten Beschimpfungen bis hin zu Boykottaufrufen gegen den Kreis Sonneberg seitens führender Mitarbeiter des öffentlichrechtlichen Rundfunks –, dann wird sich die AfD noch über weitere Geschenke von vielen nützlichen Idioten freuen können.

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