25 April 2022

Unerschöpfliche Ressource Mensch – die russische Kriegsführung ist von zynischer Brutalität (NZZ)

Anstehen zum Verheiztwerden
Gastkommentar

Die russische Offensive in der Ostukraine hat begonnen. Bis zum 9. Mai soll der ganze Donbass erobert sein. Es steht zu befürchten, dass Moskau zur Erreichung seiner Ziele ein Unmaß an Gewalt anwenden wird. Die Geschichte russischer Kriege zeigt, was das bedeutet.

Von Christian Osthold, 25.04.2022, Historiker und auf die Geschichte Russlands mit Schwerpunkt auf dem Nordkaukasus spezialisiert.

Ohne Zweifel hat das Massaker von Butscha Moskaus Invasion in der Ukraine in ein diabolisches Licht getaucht. Der Vorort von Kiew ist zum Sinnbild einer Militärdoktrin geworden, die sich keiner Konvention unterwirft und von einem Generalstab getragen wird, der zur systematischen Planung und rücksichtslosen Durchführung schwerster Kriegsverbrechen bereit ist. Darin materialisiert sich eine zutiefst inhumane Philosophie, die bis heute millionenfache Opfer gefordert hat.

Jeder Krieg, den Russland im 20. Jahrhundert geführt hat, folgte demselben Axiom: Menschliches Leben stellt eine unerschöpfliche Ressource dar, die inflationär einsetzbar ist. Die präzedenzlosen Verluste der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg legen Zeugnis davon ab. Sie vermitteln ein verstörendes Bild von der zerstörerischen Kraft, die das russische Oberkommando bis heute immer wieder entfaltet hat. Selbst der Kampf gegen unterlegene Gegner ist davon nicht ausgenommen.

Das zeigt auch der finnische Winterkrieg, den der Kreml am 30. November 1939 mit einem Großangriff begann. Fünf sowjetische Armeen sollten die Mannerheim-Linie durchbrechen und auf Helsinki vorstoßen. Insgesamt wurden 1,2 Millionen Soldaten, 1500 Panzer und 3000 Flugzeuge gegen 300 000 Finnen aufgeboten. Trotz dieser Überlegenheit kam es zu einem Fiasko. Der von General K. A. Merezkow und seiner 7. Armee vorgetragene Hauptstoß scheiterte, und dies bei unerhörten Verlusten. Allein im Dezember 1939 fielen 69 986 Soldaten und Kommandeure. Das entspricht einer Tagesquote von 2187.

An der sowjetischen Grundtaktik änderte dies freilich nichts. Auf das Versagen seines Vorgängers kannte der im Januar 1940 eingesetzte Oberbefehlshaber T. S. Timoschenko nur eine Antwort: den Frontalangriff. Mit verheerenden Folgen: In 105 Tagen verlor die Rote Armee 333 084 Mann und hatte mindestens 222 912 Tote zu beklagen. Damit waren seit Kriegsbeginn 3054 Kämpfer pro Tag gefallen.

Gemessen daran waren die finnischen Verluste geradezu marginal. Sie betrugen 26 000 Tote und 43 000 Verwundete. Entsprechend klar war das Verlustverhältnis, es betrug 7 zu 1 zuungunsten der Sowjets. Die triumphale Bemäntelung des Feldzugs durch die staatliche Propaganda sollte diese Bilanz verwischen. In einer flammenden Rede vor dem Obersten Sowjet vom 29. März 1940 lobte Molotow die herausragenden Leistungen der Roten Armee.

Die russischen Truppen seien die barbarischste und unmenschlichste Armee der Welt, sagt Wolodimir Selenski – eine Quelle des Bösen.

Von dieser Illusion ist heute nichts mehr übrig. Dazu hat auch der russische Historiker Boris Sokolow beigetragen. Er hat das Desaster des sowjetischen Winterkriegs schonungslos aufgearbeitet. Für

Sokolow ist der Feldzug nicht blos ein Fehlschlag, sondern «ein Verbrechen, das Hunderttausende Rotarmisten das Leben gekostet hat». Dass sich die kriminelle Energie des Kremls schon damals auch gegen die Besiegten richtete, hatte sich indes einen Monat zuvor erwiesen. Anfang März 1940 hatte das sowjetische Volkskommissariat für innere Angelegenheiten (NKWD) auf Stalins Befehl hin 25 000 polnische Armeeangehörige und Intellektuelle ermordet. Das Massaker von Katyn ist zum Symbol dieses Verbrechens geworden.

Das verheerende Ausmaß der Doktrin, die eigenen Soldaten als Kanonenfutter zu verheizen, trat am deutlichsten im Kampf gegen die deutsche Wehrmacht zutage. Sokolow hat ermittelt, dass dieser zwischen 1941 und 1945 insgesamt 22 Millionen Rotarmisten das Leben kostete. Die Deutschen hingegen verloren nur 2,9 Millionen Mann. Das daraus resultierende Verlustverhältnis 7,6 zu 1 ist ohne Zweifel beispiellos. Bedeutsamer jedoch ist, dass die Sowjets mit dieser Strategie letztlich Erfolg hatten.

Dass Moskau seine Streitkräfte auch heute nicht schont, hat der bisherige Kriegsverlauf in der Ukraine offengelegt. Seit dem 24. Februar dürften bereits weit mehr als 10 000 Soldaten gefallen sein. Jüngste Schätzungen halten sogar bis zu 17 000 Tote für möglich, die ukrainische Seite spricht von 21 000. Täglich werden in den sozialen Netzwerken neue Todesmeldungen veröffentlicht. Die hier dokumentierten Verluste mögen zwar nicht an das Ausmaß des Zweiten Weltkrieges heranreichen. Andererseits steht das russische Militär aber auch nicht der geballten Kraft der Wehrmacht gegenüber. Stattdessen bekämpft es einen punkto Rüstung und Truppenstärke weit unterlegenen Gegner. Dieser zwingt ihm erfolgreich einen Guerillakampf auf.

Das Debakel am Hindukusch

Die russische Armee hat Probleme, sich darauf einzustellen. Das ist kein Novum. Schon in Afghanistan hatte sich Moskaus Übermacht als verwundbar erwiesen. Zwischen dem 25. Dezember 1979 und dem 15. Februar 1989 waren 120 000 sowjetische Soldaten am Hindukusch stationiert. Bei Kriegsende hatten sie Verluste in Höhe von 50 000 Mann erlitten. Das entsprach 41,6 Prozent ihres Personalbestands. Für eine Supermacht, die überwiegend Patrouillen fuhr, war das eine verheerende Bilanz. Auch sie basierte auf der Gleichgültigkeit des russischen Generalstabs. Und auf seiner Unfähigkeit, sich der taktischen Disposition eines leichtfüßigen Gegners anzupassen.

Noch bedeutsamer war das Folgende: Angesichts der 13 000 Gefallenen geriet der Kreml zunehmend unter Druck. So erstaunt es nicht, dass die Akzeptanz des Feldzugs schließlich einen Tiefpunkt erreichte. Als die Sowjetarmee im Februar 1989 gedemütigt das Land verließ, existierte die UdSSR keine drei Jahre mehr. Aus der Sicht Moskaus lässt sich daraus eine alarmierende Erkenntnis ableiten: Ein Krieg, der nicht die Unterstützung der Massen genießt, sondern kontinuierlich Tote produziert, kann selbst autoritäre Systeme kollabieren lassen. Eine Umfrage von 1991 ergab, dass 88 Prozent der Teilnehmer die Invasion ablehnten. 69 Prozent hielten sie sogar für ein Verbrechen.

Insofern ist nicht nachvollziehbar, warum der Kreml seine Truppen bereits fünf Jahre später in das nächste Abenteuer führte. Der am 31. Dezember 1994 begonnene erste Tschetschenienkrieg erschien als skurrile Neuauflage früherer Debakel. Wie unter einem Brennglas kam das Unvermögen des Generalstabs abermals zum Vorschein. Obwohl ihm am Terek nur ein mangelhaft gerüsteter Gegner gegenüberstand, versagte er auf ganzer Linie. Unzureichend ausgebildete Wehrpflichtige wurden in Ruinen und enge Schluchten geschickt und sinnlos geopfert.

Als die Tschetschenen Grosny im Sommer 1996 handstreichartig zurückeroberten, war Jelzins «Operation zur Wiederherstellung der konstitutionellen Ordnung» gescheitert. Die Generalität hatte keine Antwort auf die geschickt agierende tschetschenische Guerilla gefunden und musste Frieden schließen. Zuvor war sie lediglich dazu fähig gewesen, alle größeren Orte der Republik dem Erdboden gleichzumachen. Die 100 000 Opfer waren nicht nur eigene Bürger, sondern auch zu 97 Prozent Zivilisten.

Terror als Waffe

Im zweiten Tschetschenienkrieg wurde das Land zum Schauplatz grausamer Kriegsverbrechen. Systematisch wurde die Bevölkerung ab Oktober 1999 von Geheimdienst und Sonderpolizei terrorisiert. Menschenrechtsverletzungen waren an der Tagesordnung, die darin aufscheinende Tyrannei wurzellos. All das erfolgte auf Geheiß des Kremls, in dem Putin die Strippen zog. Schliesslich wurden alle Tschetschenen als Partisanen betrachtet. Konzentrationslager dienten dazu, aufkeimenden Widerstand zu ersticken. Der als Reaktion darauf entflammte Guerillakrieg kostete wiederum Tausende Menschenleben. Militärisch war er sinnlos. Der Generalstab ignorierte das und beschränkte sich abermals auf die Rolle des willfährigen Erfüllungsgehilfen einer gewissenlosen politischen Führung.

In der Ukraine scheint Moskau nach demselben Drehbuch zu agieren. Es basiert darauf, die aggressiv-frustrierten eigenen Truppen zu schwersten Kriegsverbrechen zu bewegen. Das Ziel besteht darin, Terror als Waffe gegen die Bevölkerung einzusetzen. Wie zu erwarten steht, ist die Weltöffentlichkeit darüber entsetzt. Die russischen Soldaten ihrerseits spüren, dass eine Intensivierung des Kampfes einen hohen Blutzoll bedeutet. Entsprechend niedrig ist die Moral.

Der akute Mangel an Verpflegung verstärkt den Missmut. Die für die Truppen bereitgestellten Essensrationen waren vielfach bereits vor Jahren abgelaufen. Das entspricht einem Kalkül, das in einem geradezu perversen Sinne logisch ist. So führt eine von Bitterkeit genährte Wut zur Gärung und zur Explosion eines hochexplosiven Gemischs. Butscha trägt alle Kennzeichen einer Hölle, die dadurch zustande kam. Und könnte doch nur der Auftakt zu einem noch grösseren Inferno sein. Präsident Selenski ist sich dessen bewusst. In krassen Begriffen hat er den Feind beschrieben: Die russischen Truppen seien die barbarischste und unmenschlichste Armee der Welt – eine Quelle des Bösen.

Trotz seiner Polemik darf dieser Befund nicht einfach als propagandistische Begleitmusik des Krieges abgetan werden. Er ist auch Widerhall jener exterminatorischen Erfahrungen, welche die fremden Untertanen russischer Herrschaft jahrzehntelang erleben mussten. Gerade die Ukraine war regelmäßig einer vom Kreml organisierten Unmenschlichkeit ausgesetzt, die alle Grundsätze humanen und zivilisierten Verhaltens in den Wind schlägt. Das setzt sich heute fort.

Kaum jemand dürfte das Grauen von Butscha tiefer ermessen können als die Ukrainer. Mit Ausnahme der russischen Soldaten, wenn sie denn ein historisches Bewusstsein ihrer selbst und ein moralisches Sensorium für ihre Untaten hätten.

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